Zeitrausch (2). Spiel der Zukunft. Kim Kestner
Kim Kestner
Zeitrausch
Spiel der Zukunft
Kim Kestner, 1975 in Gifhorn geboren, studierte visuelle Kommunikation und leitete eine Marketing-Agentur, bevor sie mit dem Schreiben begann. Seither veröffentlicht sie erfolgreich Jugendromane. Ihre Zeitrausch-Trilogie wurde als zweitbestes E-Book mit dem Lovelybooks-Publikumspreis ausgezeichnet. Nun erscheint die Trilogie erstmals als Taschenbuchausgabe beim Arena Verlag. Kim Kestner wohnt mit ihrer Familie, Dackel Socke und einem Terrier, der glaubt, »Pfui aus« zu heißen, südlich von Hamburg.
Mehr unter www.kim-kestner.de
Weitere Bücher von Kim Kestner im Arena Verlag: Anima. Schwarze Seele, weißes Herz Sakura. Die Vollkommenen Zeitrausch. Spiel der Vergangenheit
Für meine Fliege (bitte setze dich nie auf einen rostigen Nagel)
1. Auflage als Arena Taschenbuch 2018
© 2018 Arena Verlag GmbH, Würzburg
Alle Rechte vorbehalten
Dieses Buch ist eine überarbeitete Fassung des gleichnamigen E-Books
Zeitrausch. Spiel der Zukunft, das erstmals 2014 in anderer Ausstattung bei Carlsen Impress erschienen ist. Dieses Werk wurde vermittelt durch die AVA international GmbH Autoren- und Verlagsagentur, München. Covergestaltung: Carolin Liepins ISBN 978-3-401-80800-0
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15. Dezember 2013, Mill Valley
Das Messer in meiner Hand ist leicht. Ein schwereres wäre besser. Viel einfacher, damit zu töten. Vor allem aus der Distanz. Noch weiß ich nicht, ob es ein Küchenmesser oder eine Axt sein wird, mit der ich meine Beute erlege, falls ich überhaupt eine Waffe besitzen werde. Aber dass ich wieder töten muss, weiß ich. Mit viel Glück wird es nur ein Tier sein.
Der Baum ist zehn Schritte entfernt. Ich ziehe meinen Arm nach hinten, das Messer liegt locker in der Hand, so wird es nicht zur bewussten Entscheidung, es loszulassen, sondern gleitet einfach hinaus, sobald ich den Arm nach vorn reiße. Also los: zielen, einatmen, schleudern!
Das Messer rotiert durch die Luft, fliegt auf den Baum zu – und segelt wenig elegant auf den aufgeweichten Blätterboden. »Verdammt!«
Vier, fünf … sieben. Ganze drei Schritte vor dem Baum ist es zu Boden gegangen. Verärgert hebe ich es auf, stapfe mit nackten Füßen zurück, werfe wieder.
Diesmal landet es noch nicht mal in der Nähe meines Ziels. Dabei ist es ein Redwood, keine schlanke Tanne. Ein gigantischer Baum, den nur drei oder vier Menschen gemeinsam umfassen können. Was bedeutet, dass ich sogar einen Elefanten mit großer Wahrscheinlichkeit nicht treffen würde.
Als am Nachmittag die Sonne untergeht, habe ich zwei Mal die Rinde des Baumes angekratzt. Hätte eine Fliege an genau der Stelle gesessen, hätte es sie wohl erwischt, aber Fliegen machen nicht satt und Fische leben nicht auf Bäumen. Im Fischefangen mit bloßen Händen bin ich nämlich gut.
Inzwischen sind meine Füße aufgeweicht, sie fühlen sich taub an. Obwohl es in dieser Gegend Kaliforniens fast nie richtig kalt wird, regnet es im Dezember unablässig. Mum weiß nicht, dass ich meine Schuhe ausziehe, sobald ich von unserem Holzhäuschen aus in den Wald gehe, um zu trainieren. Sie würde mich für verrückt halten, aber es härtet ab. Das Immunsystem wird gestärkt und ich muss stark sein, wenn sie mich in anderthalb Jahren ab heute gerechnet holen werden.
Die Zeit erscheint mir viel zu knapp, um all das zu lernen, was ich zum Überleben brauchen werde. Ich trainiere hart. Jede freie Minute. Selbst während der Highschool, die ich in fünf Monaten beenden werde.
In Mathematik, Biologie, Geografie und Geschichte bin ich inzwischen Klassenbeste, denn dieses Wissen ist wertvoll für mich. Englisch, Kunst und Musik nutze ich, um unter dem Tisch Bücher über amerikanische Geschichte zu verschlingen. Einordnen zu können, in welcher Zeit ich mich befinde, ist eine der ersten und wichtigsten Informationen, sobald ich in der Vergangenheit ankomme. Über die Zukunft gibt es leider noch keine Bücher, da werde ich dann improvisieren müssen.
In diesen Tagen geht die Sonne bereits um halb fünf unter und das Restlicht ist zu schwach zum Trainieren. Die Baumstämme verschmelzen bereits zu einer grauen Masse. Ich ziehe meine Stiefel wieder an und gehe zurück zu unserem Haus. Ich bin frustriert, gebe dem blöden Messer die Schuld an meinem Versagen.
Nach 20 Minuten stehe ich in unserer Küche, wasche das Messer schnell ab und feuere das Ding zurück in die pink gestrichene Schublade. Inzwischen hat Dad Mum verziehen, dass sie die Fronten bunt bemalt hat, und ihr sogar zum Hochzeitstag einen Tisch gezimmert und ihn knallblau lackiert.
Mein Magen verlangt knurrend nach Nahrung. Der Kühlschrank hat nicht viel zu bieten: eine angebrochene Flasche Orangensaft, einige Bagels, die Reste des Sonntagsbratens und eine Packung Milch. Ich entscheide mich für Braten und Milch.
Oh Mann, die Tüte Milch ist leer! Jeremy! In den letzten Monaten ist er mir über den Kopf gewachsen, obwohl er erst elf wird, und verschlingt noch mehr als früher, was kaum möglich sein dürfte.
Ich werfe die Milchtüte in den Müll, stürze den Orangensaft hinunter und beiße in das kalte Fleisch. Es schmeckt trocken und faserig. Das stört mich nicht. Hauptsache, es macht satt.
Als ich Mums Schritte höre, schnappe ich mir schnell einen Teller und Besteck und schneide fein säuberlich die angebissene Bratenecke ab.
»Bunny!«
»Hi, Mum. Musst du schon los?«
»Ach, diese verdammten Nachtschichten und jetzt wird es schon so früh dunkel. Hat Jeremy sich gemeldet?«
Ich zucke mit den Schultern. »Weiß nicht.«
»Er sollte mich anrufen, wenn er über Nacht bei seinem Freund bleibt.« Mum drückt auf dem Telefon herum. »Keine Nachricht. Dieser Junge! Und was ist mit dir? Du siehst aus, als hättest du im Dreck gewühlt. Warst du schon wieder den ganzen Tag im Wald?«
Ich nicke kauend.
»Was machst du da nur? Ich verstehe das nicht. Triff dich doch wieder mal mit Carissa. Dauernd ruft sie hier an und ich muss ihr sagen, dass du lieber wie ein Wiesel durch den Wald streifst.«
»Mache ich, Mum. Keine Sor…«
»Oh, da ist dein Vater.« Mum späht durch die Verandatür den Waldweg hinunter, auf dem Dads senfgelber Pick-up zu unserem Haus rumpelt. »Du meine Güte. Er hat schon wieder die ganze Ladefläche voller Holz. Soll ich damit etwa zur Arbeit fahren? Robert!«
Mit schnellem Griff zieht meine Mutter ihren Mantel von einem violett gestrichenen Stuhl, schnappt sich ihre Handtasche und stößt die Verandatür auf. Ein kalter Windzug fegt durch die Küche. Ich schüttle mich und räume den Tisch ab.
Draußen sehe ich meine Mutter wild gestikulieren, woraufhin Dad mit eingezogenen Schultern die Bretter ablädt, die er bei seiner Arbeit im Sägewerk abgestaubt hat. Ich kann mir ein Lachen nicht verkneifen. Typisch Dad. Es lagert so viel Holz hinter unserem Haus, wir könnten ein zweites damit errichten.
Bevor ich in mein Zimmer gehe, um für die Schule zu lernen, gebe ich Wasser in den Schnellkocher, um mir einen Tee zuzubereiten. Der einzige technische Luxus, den ich mir erlaube. Es wäre auch nicht ratsam, ein offenes Feuer in einem Holzhaus zu entfachen, nur um Wasser zu erwärmen. Außerdem würden mich meine Eltern für noch merkwürdiger halten, als sie es ohnehin schon tun.
Seit ich aus der Zukunft zurückgekehrt bin, Wum Randy und seine Zeitreiseshow hinter mir gelassen habe, kann ich ihnen ohnehin kaum begreiflich machen, warum ich entweder stundenlang durch den Wald streife oder mich hinter historischen Fachbüchern verkrieche. Sie haben es Gott sei Dank aufgegeben, mein Verhalten ständig zu hinterfragen.
Der