Zeitrausch (2). Spiel der Zukunft. Kim Kestner
Beine ausgestreckt, und lustlos die Seiten durchblättert. Noch vor einem halben Jahr konnte ich kaum trainieren, ohne dass er mir hinterhergeschlichen wäre. Manchmal habe ich ihn gelassen und er konnte gar nicht genug vom Lebendfallenstellen oder Feuermachen bekommen. Jetzt aber ist er auf dem Weg, ein richtiger Teenager zu werden, ohne Pickel noch, aber am liebsten hängt er von morgens bis abends in seinem Zimmer herum, liest Comics oder verbringt Stunden auf Facebook.
Als Jeremy, laut schlürfend, den Rest seiner Limo durch den Strohhalm zieht, richte ich mich auf und binde mir die Haare aus dem Gesicht. »Kann losgehen. Auf mein Kommando.«
»Ja klar. Was sonst.« Jeremy gähnt.
Ich versuche, alles rund um den Parcours auszublenden, stelle mir eine Realität vor, in der jeder um sein Überleben kämpft. Der Wald wird zu einer trockenen Wüste, bis zum Horizont nur Sand und Dornenbüsche. In meiner Vorstellung kommen bedrohlich wirkende Männer auf mich zu, sie sind gut trainiert, tragen Waffen und wollen, wie ich, nur das rettende Ziel erreichen, das überlebenswichtige Elixier: einen Krug Wasser, drei Münzen darin. Für jeden Mann eine.
Ich schirme die Augen gegen die Sonne ab. Mein erstes Ziel: eine drei Meter hohe Holzpyramide, durch die einige Taue gezogen sind. Dad hat sie mir gebaut, ohne weitere Fragen zu stellen. Die Männer sind jetzt direkt hinter mir.
Ich atme tief ein, schreie: »Und … los!« Im selben Moment ein Piep, das Startzeichen der Stoppuhr.
Meine Beine fliegen nach vorn. Ein kurzer Sprint, dann bin ich an der Pyramide. Ich bremse nicht ab. Meine nackten Füße krallen sich in das raue Holz. Bevor ich nach hinten kippe, habe ich das erste Seil zu fassen bekommen, ziehe mich mit angewinkelten Beinen hoch, greife das zweite Seil, hangle mich weiter auf eine kleine Plattform an der Spitze, gerade groß genug für meine Füße. Mit den Armen rudernd, finde ich mein Gleichgewicht.
Nur einen Meter entfernt, der knorrige Ast des Apfelbaums. Ich bete, dass er nicht bricht, lasse mich nach vorn fallen. Wie ein Äffchen greifen meine Hände zu, mein Körper schwingt bis zur Stammgabelung, zwei Meter trennen mich von der Erde. Lachhaft!
Ich springe, komme in der Hocke auf, renne über den Rasen, etwa 100 Schritte bis zum Wald. Zwischen zwei Bäumen ist ein Seil gespannt, nur wenige Zentimeter über der Erde, aber darunter habe ich etliche zerbrochene Glasflaschen verteilt, die spitzen Kanten nach oben.
3, 4 Sekunden vergehen, bis ich mein Gleichgewicht finde.
Die nackten Füße gekrümmt, der Rücken gerade, die Arme zur Seite gestreckt. Ich zwinge mich, langsam Fuß vor Fuß zu setzen, zähle dabei die Sekunden: 28, 29. Geschafft!
Sofort lasse ich mich auf die Erde fallen. Zehn Liegestütze auf dem rechten Arm, zehn auf dem linken, das ermüdet die Muskulatur, macht die nächste Aufgabe schwerer.
Auf die Füße!
Fünf Sprünge bis zum Baumstumpf. In ihm stecken das Küchenmesser, ein Speer und ein Beil. Das Küchenmesser zuerst. Rausziehen, Arm zurück, schleudern. Es sirrt durch die Luft, trifft das Ziel, eine Holzscheibe fünf Meter weiter, am Rand.
Schon habe ich den Speer in der Hand. Einige Meter zurück, Anlauf, Wurf! Noch während ich sehe, wie die Spitze die Rinde der Scheibe abtrennt, greife ich zum Beil. Mit rudernden Armen jage ich es dem Speer hinterher, treffe genau die Mitte!
Meine Arme brennen und ich atme zu schnell. Als ich die Wiese wieder erreiche, bekomme ich Seitenstechen. Unwichtig.
Jetzt nur noch die Hürden, der Ring, der Krug. Mit langen Sprüngen setze ich über vier Holzstapel, rolle mich über die Schulter ab, bin gleich wieder auf den Füßen und springe mit den Händen voraus durch einen Hula-Hoop-Reifen, der am Apfelbaum hängt.
Ein Flickflack und ich stehe kerzengerade vor Jeremy.
Er hält mir den Krug Wasser hin, ohne von seinem Comic aufzusehen. Ich stürze die Flüssigkeit hinunter, schütte die letzten Tropfen zusammen mit den Münzen auf meinen Handrücken, werfe sie hoch, drehe meine Hand um, greife die herabfallenden Münzen reflexartig aus der Luft und knalle sie vor Jeremy auf den Rasen.
Er drückt auf die Stoppuhr und streicht das Geld ein. »2 Minuten, 58 Sekunden«, sagt er gelangweilt und schlägt sein Heft zu. »Ich geh jetzt rein.«
»Danke.« Ich keuche, den Oberkörper vornübergebeugt, die schmerzenden Arme auf meine Oberschenkel gestützt.
Knapp 3 Minuten sind gut, trotzdem 28 Sekunden zu lang.
Wenig später stehe ich auf der Veranda, wische mir mit dem Handrücken den Schweiß von der Stirn und betrete die Küche. Aus dem Wohnzimmer vernehme ich die gedämpften Stimmen meiner Eltern.
Den Krug stelle ich in die Spüle, fülle ihn mit Wasser. Mein Gott! Ich habe Hunger und könnte einen ganzen Ziegenbock auf Toast verschlingen.
Auf dem Küchentisch stehen eine Tüte Milch, Zucker und eine Schale mit Himbeeren. Am Vormittag habe ich einen Strauch am Wegesrand gefunden und freue mich schon seit Stunden auf meine Ernte.
Zucker und Milch stelle ich mit zusammengepresstem Kiefer zurück.
Ich weiß, Mum meint es nur gut, aber es ist nicht besonders hilfreich. Ich habe so lange keine Milch mehr getrunken, ich würde sie liebend gern gegen die Fasanenhenne tauschen, die ich gestern mit dem Speer erlegt habe. Solange ich jedoch keine Kuh, Ziege oder sonst ein Tier mit Eutern fange, ist Milch von meiner Speisekarte gestrichen.
Reste des Fasans liegen im Kühlschrank, gestopft mit getrockneten Cranberries, Zitronenkraut und Knoblauchrauke. Wie Salz schmeckt, habe ich inzwischen vergessen. Der Fasan landet auf meinem Tablett, zusammen mit den Himbeeren und dem Krug Wasser.
Wenig später stehe ich im Flur und schließe mit der Hacke die Küchentür. Meine Eltern scheinen zu streiten. Zumindest Mums Stimme klingt angespannt und ich verharre auf dem Treppenabsatz, als mein Name fällt.
»… über Alison. Ich verstehe nicht, wie du dir keine Sorgen machen kannst, Robert. Das ist doch kein normales Verhalten für eine junge Frau.«
»Du machst dir zu viele Gedanken.« Die vertraute Stimme meines Vaters.
»Zu viele Gedanken? Welches 18-jährige Mädchen wünscht sich zum Geburtstag ein Jagdmesser?«
»Und einen Selbstverteidigungskurs – was ich im Übrigen sehr vernünftig finde.«
»Warst du in letzter Zeit mal in ihrem Zimmer? All diese Bücher. Wenn sie nicht im Wald ist, liest sie dieses Überlebenszeugs. Was will sie damit in Mill Valley? Ganz abgesehen von dem irrsinnigen Parcours da draußen. Und überhaupt, findest du nicht, sie sollte mal einen Freund mit nach Hause bringen?«
»Nein«, brummt Dad.
Ich blähe die Wangen auf und stoße langsam die Luft aus. Wie lange werden sie mein Verhalten noch dulden? Bloß keine Diskussionen mehr. Es hatte mich 2 Wochen endloser Gespräche gekostet, Mum davon zu überzeugen, nur noch zur Abschlüssprüfung an die Highschool zu gehen. Die wertvolle Zeit, die ich so gewonnen habe, wollte ich sinnvoller nutzen. Schule wäre pure Zeitverschwendung, so als würde man sich mit Shakespeare befassen, während die Welt in Trümmern liegt. Verteidigung, Selbstschutz, Jagd, Tarnung, das sind Dinge, auf die es ankommt. Fähigkeiten, die im Leben wichtig sind. In meinem Leben.
In den meisten Fächern konnte ich sowieso tolle Noten vorweisen, sogar in Kunst und Musik, sodass Mum irgendwann klein beigegeben hat. Meine Prüfung habe ich dann auch mit Bravour bestanden und Mum war beruhigt. Dass ich trotzdem nicht aufs College gehen werde, behalte ich besser erst mal für mich.
Als ich Schritte aus dem Wohnzimmer höre, schleiche ich auf Zehenspitzen die knarzende Treppe hoch in mein Zimmer, stelle das Tablett auf einen Stapel Schulbücher und löse mein Haargummi. Meine schwarzen Haare fallen weich über die Schultern. Ich bürste sie mit 100 Strichen, bis sie schließlich glänzen. Wenn ich Kay endlich wiedersehe, möchte ich gut aussehen. So gut es eben geht in einem schwarzen Trainingsanzug aus Isovantage, einer neuartigen Membran, die Kälte abhält, gleichermaßen vor Hitze schützt, federleicht ist und eng am Körper anliegt.
Ich