Zeitrausch (2). Spiel der Zukunft. Kim Kestner
ihr total verrückt geworden? Was soll der Scheiß?«
»Ist etwa eins deiner schlauen Bücher zu Bruch gegangen?«, fragt Jeremy großspurig.
»Stell dir vor, das Teil hat mich am Kopf getroffen, Idiot!«
»Echt?«
»Ja, ganz echt! Du könntest mal ’nen Gang runterschalten und dich entschuldigen.«
»Tut mir leid«, murmelt Jeremy mit gesenktem Kopf.
»Das sollte es auch. Und jetzt zischt ab! Ich hab zu tun.«
Jeremy mault irgendwas, ich lasse mich wieder aufs Bett fallen und reibe mir die Stirn. Was für ein Scheißtag.
Wieder versuche ich, den Marker anzusteuern, bekomme die doofe Dr-Pepper-Dose aber nicht aus dem Kopf und dann wird mir auch noch übel. Vielleicht eine Gehirnerschütterung … Oh Gott und das 3 Tage vor …
Aber plötzlich ist der Schmerz weg. Dafür rauschen meine Ohren, Speichel zieht sich sauer in meinem Mund zusammen, ich würge. Im gleichen Moment trifft mich ein Schlag, genau an derselben Stelle wie eben, mein Kopf fliegt nach hinten. Aaah! Verdammt, tut das weh!
Ich fasse mir an die Stirn, sie fühlt sich immer noch taub an, der Nacken schmerzt, auf meinem Schoß liegt die Dose Dr Pepper.
Wütend bis in die Haarspitzen, springe ich vom Bett und schleudere das Geschoss zurück, diesmal genau auf Jeremy. Ich treffe ihn am Bein.
Er fährt herum. »Spinnst du?«, kiekst er.
»Ich? Du bist doch total bekloppt! Noch einmal und ich sperr dich zu deinen Eichhörnchen in den Käfig. Ist das klar?«
Jeremy sieht zu seinen Freunden und grinst. »Was denn, ist etwa eins deiner schlauen Bücher zu Bruch gegangen?«
Das ist ja wohl die Höhe! »Sieh zu, dass du verschwindest, Jeremy. Ich mein es todernst!«
Ich löse die Haken der Fensterflügel, reiße sie mit lautem Knall zu und werfe mich wieder aufs Bett. Tief durchatmen, runterkommen … Ich muss mich beruhigen, bevor ich mich wieder auf den Marker konzentrieren kann.
Die Dr-Pepper-Dose schwebt vor meinem geistigen Auge statt der neuronalen Bahnen. Nach kurzer Zeit jedoch gelingt es mir, sie zu verscheuchen, mich zu konzentrieren. Das Rechteck erscheint, sonst aber nichts, keine leuchtende Anzeige. Keine Ahnung, wie ich den Marker nutzen kann, um durch die Zeit zu springen.
Plötzlich ein Luftzug, ich sehe die Dose kommen, kann mich nicht mehr ducken. Sie trifft mich am Kopf, knapp über dem linken Auge, und landet in meinem Schoß.
Was …? Das Fenster ist ja weit aufgesperrt! Ich hatte es doch geschlossen. Ganz sicher!
»Du meine Güte …« Meine Stimme ist nicht mehr als ein Flüstern. Mit weichen Knien wanke ich zum Fenster, prüfe die Haken, die beide Flügel fest in der Öse halten. Wie ist das möglich?
Ein ungeheurer Verdacht jagt einen Schauer über meinen Rücken. Was ist, wenn … Die Dose ist auf den Teppich gekugelt. Wie in Trance hebe ich sie auf, halte sie aus dem Fenster, sodass mein Bruder sie sehen kann.
»Jeremy! Die Dose. Wie oft hast du sie geworfen?«
»Was denn, ist etwa eins deiner schlauen Bücher zu Bruch gegangen?«
»Wie oft?«
»Einmal. Was ’n das für ’ne Frage? Krieg ich sie wieder?«
»Oh Gott! Das heißt, ich hab’s geschafft! Es hat funktioniert! Ich liebe dich, Jeremy! Ich liebe Dr Pepper! Ich liebe Baseball!«
»Ja, alles klar. Krieg ich jetzt die Pepper wieder?«
»Sooft du willst.« Ich lache laut. »Hier, fang!«
5
31. August 2015, 00:01 Uhr, in meinem Zimmer
Noch 8 Stunden! Jede Minute davon zieht sich unerträglich in die Länge. Seit gestern steht wieder eine digitale Uhr in meinem Zimmer. Ich starre die Ziffern an. Es wird noch dauern, bis sie endlich auf 08:02 springen. An Schlaf ist nicht zu denken. Stattdessen tigere ich durch den Raum, warte, horche in mich hinein, versuche, irgendetwas zu essen, ein Grundstock für die nächsten Tage.
Aber allein der Gedanke, Kay endlich wiederzusehen, verursacht einen Tumult in meiner Magengegend …
06:34 Uhr.
Ich bin schweißgebadet, überlege, einen frischen Isovantage-Anzug anzuziehen. Aber wenn sie mich im falschen Moment holen, stehe ich in Unterwäsche auf der Bühne. Eine schreckliche Blamage. Vor allem vor Kay. Er soll doch hingerissen von mir sein, sich am besten sofort in mich verlieben. Ich kann nicht noch länger warten, will ihn endlich wieder küssen, seine Lippen spüren, in seine starken Arme sinken. Allein bei dem Gedanken entweicht mir ein leises Stöhnen …
08:04 Uhr.
Worauf warten die noch? Ich bin immer noch in meinem Zimmer. Bin völlig übermüdet, mir ist übel vor lauter Aufregung, alles dreht sich. Ich muss mich setzen, die Augen schließen. Nur einen Moment ausruhen …
11:42 Uhr.
Oh Gott! Bin ich tatsächlich eingeschlafen? Scheint so, denn fast 4 Stunden sind verstrichen, aber nichts ist geschehen. Was soll das?
Ich fühle mich ausgelaugt, schon jetzt erschöpft. Als ich vor den Spiegel trete, wirft er ein blasses, mageres Gesicht zurück, Schatten liegen unter meinen Augen und meine Haare wirken strähnig. Ich muss sie bürsten … Wo ist denn … Die Haarbürste liegt nicht mehr auf meinem Nachttisch. Auf dem Regal auch nicht. Vielleicht unter dem Bett … nein. Im Schrank? Was zum Teufel … Wo ist meine Kleidung? Der Schrank ist ja leer!
Das kann nur eines bedeuten … Hektisch drehe ich mich im Kreis, suche den Boden ab, sehe sogar in der Nachttischschublade nach. Aber auch da nur Leere. Die Karte von Hillary, mein Tagebuch, alles weg. Meine Aufzeichnungen! Ich reiße das Kopfkissen hoch. Auch die Kladde hat sich in Luft aufgelöst. Wo oder besser gesagt wann, bin ich? Warum bin ich nicht im Show-Dome?
Mit einem Satz bin ich beim Schreibtisch, suche mein Bücherregal ab, ein Geschichtsband fällt heraus, klappt auf. Lauter leere Seiten. Kein Wort steht darin. Als ich das nächste Buch öffne, auch hier nur weißes Papier.
Plötzlich zischt es, ich fahre herum. Mitten in der Wand hat sich ein Rechteck geöffnet, wie ein Türrahmen, dahinter ein Flur, aus dem ein Mann mit Zwirbelbart in eigentümlicher Kleidung in mein Zimmer tritt.
Ich erkenne ihn sofort als Sam Oscar wieder, den führenden Wissenschaftler im Bereich der Quantenphysik und damit Zeitreiseexperte.
Er wirkt freundlich, auf jeden Fall ungefährlich, als er mich anlächelt. »Bitte erschrecken Sie nicht. Sie befinden sich quasi immer noch in Ihrem Zimmer.«
»Tu ich nicht. In meinem Zimmer enthalten Bücher Wörter.«
Sam Oscar nickt leicht. »Stimmt. Wir wollten Sie nicht erschrecken, was uns offenbar schlecht gelungen ist. Zu viele Details …« Die Tür schließt sich leise. »Zunächst möchte ich Ihnen versichern, dass Sie nicht in Gefahr sind. Wir wollen Ihnen nichts Schlechtes, verstehen Sie?«
Mit hochgezogenen Brauen erwidere ich seinen Blick. Ich glaube ihm kein Wort. »Wo genau bin ich?«
»Sehen Sie, das ist nicht die entscheidende Frage. Vielleicht sollten wir uns setzen.« Mein Gegenüber sieht sich in dem, was mein Zimmer sein soll, um. Erst jetzt fällt mir auf, dass auch mein Stuhl fehlt. Oscar setzt sich auf die Kante der Schreibtischplatte und weist auf mein Bett, als sei es sein Zimmer. »Bitte, nehmen Sie doch Platz.«
Ich rühre mich nicht von der Stelle, ich wurde also bereits vor Stunden portiert. »Wo ist Kay? Auf der Bühne?«
Sam Oscar reißt seine Augen auf. »Man hat Sie schon informiert? Sie wissen bereits von dem Zeitsprung und dem Kandidaten?«
»Äh …« Moment mal. Anscheinend weiß hier niemand von meiner Rückkehr nach 2 Jahren. Kennen