Zeitrausch (2). Spiel der Zukunft. Kim Kestner
Der Boden ist noch feucht vom Regen, und je tiefer ich in den Wald eindringe, desto mehr umfängt mich nasskalter Nebel. Bedächtig setze ich einen Fuß vor den anderen, lasse mich treiben, ganz wie ich es geplant habe. Meine Zehen ertasten jede Unebenheit, erspüren moosbedeckte Wurzeln, zerbrochene Zweiglein, erkennen spitze Steine, noch bevor sie sich in meine nackten Sohlen bohren können.
All meine Sinne sind aufs Äußerste geschärft, ich hebe nicht mal den Kopf, um mich umzusehen.
Bald wird das Gelände uneben. Zwischen den Bäumen hebt und senkt sich der Boden wie die Wellen des Meeres. Immer wieder rutsche ich ab, falle zwei Mal und schlage mir mein Knie an einer felsigen Kante auf. Blut dringt durch meine Jeans. Ich ignoriere den Schmerz und hinke weiter.
Der Wald steigt jetzt steil an. Manchmal schiele ich nun doch nach oben und ergreife einen Ast, um mich den Hang hochzuziehen. Mittlerweile ist der Nebel undurchdringlich und ich habe Angst, einen Abhang hinunterzustürzen. Wie lange bin ich schon gewandert? Eine Stunde, zwei?
Mein Pullover liegt klamm auf der nackten Haut, meine Füße sind taub und ich zittere. Ich fürchte, ich habe mich überschätzt. Krank zu werden, würde mich in meinem Trainingsplan noch weiter zurückwerfen.
Ich beschließe umzukehren und lasse mich auf einen Baumstamm sinken, den Blick nach oben gerichtet. Gott verdammt! Wo sind die Sterne? Der Himmel ist tiefschwarz. Nur dort, wo der Mond die Wipfel einiger Tannen beleuchtet, zeichnet sich grau marmoriert wieder eine dichte Wolkendecke ab.
Was habe ich mir nur dabei gedacht? Ein großartiger Erfolg! Jetzt sitze ich hier, nass, durchgefroren – und ängstlich, wie ich mir eingestehen muss. Damals, als es um mein Überleben in der Vergangenheit ging, war ich irgendwie mutiger …
Ich habe die Orientierung verloren, zumindest das habe ich geschafft. Mir bleibt nichts, als auf den Morgen zu warten. Dicht ziehe ich meine Knie an den Körper, umschlinge die Beine und starre in die Finsternis.
Schmerzlich wird mir bewusst, dass ich allein bin. Dass es Kay in dieser Realität nicht mehr gibt, nicht einmal mehr als alten Mann. In der anderen war ich zum Schluss zwar auch alleine unterwegs, aber wenigstens irgendwo in ihr war Kay. Ihn vor dem Tod zu retten, ihn wiederzusehen, gab mir die Kraft durchzuhalten. Nun ist Kay tot …
Plötzlich kommen mir die Geräusche des Waldes wie wütende Schreie, wie wildes Tosen vor. Das Knacken dürrer Zweige scheint zum Brechen von Ästen geworden zu sein, das Trippeln und Kratzen zu Reißen und Scharren!
Mich fröstelt, denn ich weiß, dass in dieser Gegend Bären und auch Wölfe gesichtet wurden. Mich zu rühren, wage ich nicht mehr, halte sogar den Atem an. Irgendwo ein Heulen. Viel zu nah. Die Haare an meinen Armen stellen sich auf. Knisternd fegt ein Windzug Blätter über den Boden. Waren es wirklich Blätter? Etwas faucht.
Da! Ein Schatten huscht durch den Nebel. Das Messer? Wo ist das verfluchte Messer? Ich hatte es doch die ganze Zeit in der Hand. Hektisch taste ich den Waldboden ab. Etwas Hartes. Ein Stein. Blätter, Äste, Moos … der raue Plastikgriff des Küchenmessers. Gott sei Dank!
Langsam drücke ich mich von dem Stamm hoch, strecke meinen Arm nach hinten, das Messer in der zitternden Hand. Immer noch höre ich es ganz in meiner Nähe kratzen, ein knurrender Laut. Etwas kommt auf mich zu! Ich reiße den Arm nach vorn. Werfe. Einen Atemzug später vernehme ich klägliches Fiepen. Getroffen! Ich habe wirklich getroffen!
Aber das Tier ist nicht tot. Ich höre, wie es sich über den Boden schleppt, irgendwo liegen bleibt, höre seinen schnellen Atem. Zwecklos, im dichten Nebel nach ihm zu suchen, genauso wenig wie nach meinem Messer. Ich hätte es nicht werfen dürfen. Jetzt fühle ich mich noch schutzloser.
Mir kommt es wie Stunden vor, in denen ich den Todesqualen des Tieres lausche, erst mit dem Licht der Morgensonne verstummt es.
Endlich ist der Nebel verflogen wie auch die Geräusche der Nacht. Bald ist der Wald voll von fröhlichem Vogelgezwitscher. Und ich komme mir vor wie eine Idiotin.
Bevor ich mich auf den Rückweg mache, suche ich nach dem Tier. Vielleicht gab es Blutspuren, aber die hat der nasskalte Nebel weggewischt. An einer Baumwurzel entdecke ich das Messer. Es ist rot verschmiert und Haare kleben daran. Ich hebe es auf, wische es an meiner Jeans ab und stecke es in die Gürtelschlaufe.
Das verletzte Tier kann nicht weit gekommen sein und tatsächlich finde ich nur wenige Schritte entfernt einen zusammengekrümmten Silberdachs, der zwischen hohem Farn liegt. Er ist nicht groß, kleiner als eine Katze. Sein Fell glänzt hellgrau unter den Tautropfen, an der Seite ist es blutbenetzt, und als ich ihm über den weichen Pelz streichle, spüre ich die Todesstarre.
Behutsam schließe ich seine halb geöffneten Augen. »Es tut mir so leid, kleiner Räuber. Ich … ich wollte das nicht. Glaub mir …«
Stimmt das? Hatte ich ihn wirklich nicht töten wollen? Genau genommen, war ich im ersten Moment sogar stolz gewesen, ihn getroffen zu haben. Dabei wäre mir der kleine Dachs niemals gefährlich geworden. Die Wahrheit ist, ich habe ihn in kopfloser Panik, ohne Not, ermordet!
Unbeholfen versuche ich, das Blut mit Blättern wegzuwischen, aber es verteilt sich nur noch mehr auf dem Fell. Kurz überlege ich, den Dachs auszuweiden und zu essen. Kein Tier sollte sinnlos sterben, aber ich bringe es nicht übers Herz. Ihn hier liegen zu lassen, als Nahrung für andere Tiere, wäre vielleicht richtig …
Eine Stunde später knie ich immer noch auf dem Boden, die Hände verdreckt, meine Fingernägel eingerissen, aber ich habe eine Grube ausgehoben, in die ich den Dachs vorsichtig hineinlege und mit Erde bedecke.
Auf dem Rückweg versuche ich, mir immer wieder einzureden, dass ich richtig gehandelt habe. Es hätte doch auch ein tollwütiger Fuchs sein können. Der Nebel … Ich konnte es doch nicht wissen.
Als ich aber nach einer halben Stunde auf einen ausgetretenen Wanderpfad stoße, muss ich mir eingestehen, dass ich unendlich weit davon entfernt bin, Kay ein guter Scout zu sein. Ich muss mehr, ich muss härter trainieren und vor allem muss ich eine Verbindung zu diesem verfluchten Marker finden. Denn das Training dient nur dazu, in jeder Situation zu überleben, aber der Marker ist der Schlüssel zu einem Leben mit Kay in einer anderen Realität. In einer gemeinsamen. Und nach nichts sehne ich mich mehr!
Mein Kay in dieser Realität ist tot, als alter Mann gestorben. Aber ich werde ihn in 18 Monaten als jungen Mann wiedersehen. So lange noch auf ihn warten zu müssen, erscheint mir zwar unerträglich, ihn danach nie mehr wiederzusehen, jedoch tödlich. Also bleibt mir nichts anderes übrig, als mir ein Leben mit ihm zu schaffen. Und dazu muss ich den Marker kontrollieren!
Nach 2 Stunden erreiche ich die erste Straße. Sie führt bergab, Richtung Highschool. Der Kunstunterricht hat längst begonnen. Mrs Frensh wird wahrscheinlich gerade ausschweifend über den Expressionismus und seine Vertreter im 20. Jahrhundert referieren. Ich sehe an mir herab, auf meine am Knie zerrissene Jeans, meine nackten Füße, meine verdreckten Hände. Um mich zu waschen und die Kleidung zu wechseln, hätte ich schon vor 20 Minuten abbiegen müssen. Aber Mrs Frensh wird mich nicht zu Gesicht bekommen, denn mein Weg führt direkt ins Rektorat.
Irgendwie werde ich Mum und Dad schon begreiflich machen, dass ich die Highschool nur noch besuchen werde, um meine Prüfungen abzulegen. Ich darf keine Zeit mehr verschwenden …
3
12. Juni 2014, mittags, zu Hause in Mill Valley
Heute ist es unerträglich heiß. Die hohe Luftfeuchtigkeit treibt mir den Schweiß aus den Poren.
Gut so.
Jeremy sitzt mit einer kalten Limo und einer Stoppuhr in der Hand unter dem Apfelbaum und wartet auf mein Kommando. Ungeduldig lässt er den Strohhalm zwischen den klappernden Eiswürfeln rotieren. »Kann’s endlich losgehen?«
»Moment noch. Ich muss mich erst aufwärmen.«
»Als wenn’s nicht schon warm genug wäre. Das ist öde.«
»Jeremy, bitte! Nur 2 Minuten.«
Ich strecke mein Bein nach