Zeitrausch (2). Spiel der Zukunft. Kim Kestner
wenn er im Moment nicht sichtbar ist, können sie mich jederzeit durch ihn aufspüren, mich aus meiner Zeit reißen, mir sogar Schmerzen zufügen. Irgendwie ist das Ding mit meinem neuronalen Netz verbunden. Mein Gehirn würde gewissermaßen explodieren, würde ich den Marker gewaltsam entfernen.
Kay erzählte mir, es gelang ihm, den Marker so zu manipulieren, dass ihm kurze Zeitsprünge möglich waren, nur durch seine Willenskraft. Sollte die Spielleitung je davon erfahren, sie würde es zu verhindern wissen. Es wäre ein unkalkulierbares Risiko für sie.
Auch wenn es mir gleichzeitig das Herz zerreißt, das Einzige, was ich von Kay habe, zu vernichten: Zur Sicherheit reiße ich den Brief in winzige Schnipsel, greife nach einer Metallschale mit Räucherkegel und lasse die Papierfetzen hineinflattern. Streichhölzer … Wo? Ach da, hinter dem Stapel Geschichtsbücher. Ein Ratsch, kurz riecht es nach Schwefel, dann verbrennt Kays Botschaft in einer Wolke aus Kiefernnadelgeruch. Ein Geruch, den ich für immer mit Kay in Verbindung bringen werde, als ich ihn das letzte Mal in der Vergangenheit sah …
Vielleicht sollte ich auch meine Notizen verbrennen? Könnten sie mir gefährlich werden?
Unter meinem Kopfkissen ziehe ich eine karierte Kladde hervor, schlage sie auf. Erst wenige Seiten sind beschrieben und die Zeit drängt. Nein, sie sollen ruhig sehen, wie ich mich vorbereite auf das, was kommen kann. Sie können wissen, dass ich mein Schicksal nicht tatenlos abwarte.
Auf der ersten Seite der Kladde steht fett unterstrichen: Lernen!
Ich gleite mit dem Zeigefinger über die Liste, die ich einen Monat nach meiner Rückkehr aufgestellt habe, meinen Trainingsplan:
1. Wasser Wassergewinnung: Wasseradern aufspüren Wasser entsalzen Wasser filtern
2. Feuer machen Feuerbohrer Feuersteine Brennglas
Ich blättere um und seufze. Die Liste setzt sich über die nächsten Seiten fort. Verschiedene Arten, Unterkünfte zu errichten, zwölf Wege, Fallen zu stellen, Fischen auf unterschiedlichste Weise, Jagdtechniken, Orientierung bei Tag und Nacht, Verteidigungsmöglichkeiten mit und ohne Waffen, Behandlung von Wunden und Brüchen, Heilpflanzen, essbare Kräuter, Pilze und Beeren, Tarnung, amerikanische Geschichte, Weltgeschichte, Geografie und Vegetation aller Gebiete der Vereinigten Staaten.
Nur der Feuerbohrer und eine Fischtechnik sind bisher abgehakt. Aber erst, wenn ich alles beherrsche, habe ich eine Chance, die nächste Show zu überleben!
Mit einem Kugelschreiber umkreise ich Orientierung bei Nacht, schiebe die Kladde zurück unter das Kissen und schalte das Licht aus.
Bis auf die Schuhe bleibe ich angezogen. Mehr als 5, maximal 6 Stunden Schlaf gönne ich mir ohnehin nie. Um Mitternacht werde ich in den Wald gehen. Der Himmel ist wolkenlos und die Sterne sind gut zu sehen. Bis zur ersten Schulstunde bleiben noch 13 Stunden … Ich werde mich mindestens 3 davon durch die Redwoods treiben lassen, den Blick auf den Boden geheftet. Wenn alles gut geht, finde ich meinen Weg zurück, bevor Mum aus der Nachtschicht kommt.
Ich denke an Kays Brief. Trainiere jede Sekunde, hat er geschrieben. Aber wie? Wie trainiert man etwas, das unbegreiflich erscheint?
Meine Augenlider sind schwer und flattern bei dem Versuch, im fahlen Mondlicht meine Handinnenfläche zu fixieren. Minutenlang suche ich nach einer Verbindung zwischen meinem Gehirn und dem Marker, stelle mir die feinen silbernen Linien vor, die meine Haut durchweben, die leuchtenden Ziffern des Countdowns, der mir zeigt, wie viele Tage, Stunden, Minuten mir während der Zeitreise-Challenge bleiben.
Vergeblich. Nichts tut sich! Der Marker scheint verschwunden. Dass er es nicht ist, weiß ich nur, weil ich mich erinnere. Ohne Marker hätte ich alle anderen Realitäten vergessen. Ich hätte Kay vergessen.
2
16. Dezember 2013, gegen Mitternacht, Mill Valley
Ich schrecke hoch. Habe ich verschlafen? Noch ist es dunkel draußen …
Radiowecker, Handy, MP3-Player, selbst den Taschenrechner habe ich Jeremy geschenkt. Bis auf Letzteren fand er es super. Technischen Schnickschnack gestatte ich mir nicht mehr, denn ich muss lernen, in jeder Lebenslage ohne ihn klarzukommen. Ob mein innerer Chronograf auch nachts funktioniert, werde ich gleich herausfinden.
Auf nackten Füßen tapse ich zum Fenster und stoße die Fensterflügel auf. Die Luft ist kalt. Der Himmel ist jetzt sternenklar. Weit lehne ich mich aus dem Fenster, um nach dem Polarstern zu suchen. Er ist der wichtigste Orientierungspunkt in der Nacht, zumindest auf dieser Seite der Erde. Erst finde ich ihn zwischen den Wipfeln der immergrünen Mammutbäume nicht, halte mich am Fensterbrett fest, um mich noch weiter vorzustrecken.
Über dem Schornstein unseres Hauses entdecke ich schließlich das Sternbild des Kleinen Wagens, der helle Polarstern am Ende. Jetzt muss ich nur noch Kassiopeia ausmachen, um die Zeit zu bestimmen. So stand es zumindest im Astronomiebuch. Im Winter gleicht das Sternbild einem W, im Sommer einem M. Es kreist um den Polarstern, wie die Zeiger einer Uhr, nur entgegengesetzt.
Aber wie ich mich auch verbiege, ich finde das blöde W nicht. Egal! Zumindest jetzt ist es nicht überlebenswichtig.
Aus dem Wald dringt das leise Huhu eines Kauzes.
Als ich die Holztreppe ins Erdgeschoss hinunterschleiche, knarzt jede Stufe – trotz meiner nackten Füße. Vom Flur spähe ich ins Wohnzimmer. Der Fernseher läuft noch immer, ist aber stumm geschaltet. Nur Dads pfeifendes Schnarchen dringt zu mir. Er ist auf dem Sofa eingeschlafen, wie so oft, seit Mum in der Nachtschicht arbeitet.
Leise ziehe ich die Tür zu, gehe in die Küche und öffne die Messerschublade. Ein großes Tranchierwerkzeug liegt neben kleinen, spitzen Schneiden zum Kartoffelschälen. Einen Moment möchte ich zu dem großen Messer greifen. Es ist zwar nicht gut ausbalanciert, was das Werfen schwierig macht, aber die Klinge ist mächtig genug, um zu töten. Heute Nacht habe ich jedoch nicht vor, ein Tier zu erlegen, und greife zu dem kleineren, aber spitzen Küchenmesser, mit dem ich tags zuvor gescheitert bin. Vielleicht bleibt mir etwas Zeit zum Üben.
Als ich die Verandatür öffnen will, höre ich ein Klappern aus dem oberen Stockwerk. Das Fenster steht noch offen, richtig. Besser, ich schließe es, bevor Dad davon wach wird und mich sucht. Wieder knarzende Treppenstufen, dann bin ich zurück in meinem Zimmer.
Die lang gestreckten Äste des Apfelbaums wiegen sich leicht im Wind. Mit schräg gelegtem Kopf betrachte ich sie. Warum nicht? Es ist besser, den schwereren Weg zu wählen, umso leichter ist es, wenn ich nicht mehr die Wahl habe.
Ich lehne mich aus dem Fenster, greife einen dicken Ast, der direkt vom Stamm abgeht, und ziehe mich in die kalte Nachtluft. Wieder ruft der Kauz, als wolle er mich begrüßen.
Mit einer Hand stoße ich das Fenster zu, mit der anderen klammere ich mich an den Stamm. Meine Füße tasten nach der nächsten Gabelung. Ich finde sie mit ausgestreckten Zehen und blicke nach unten. Nicht mehr als drei Meter liegen zwischen mir und dem blätterübersäten Rasen, im Notfall könnte ich mich sogar fallen lassen, doch ich will keine unnötigen Verletzungen riskieren.
Wie ein Klammeräffchen arbeite ich mich Zentimeter für Zentimeter abwärts, bis ich schließlich auf der Astgabel sitze. Ein Blick nach unten. Schon besser. Ich springe.
Au! Verdammt! Die Messerspitze bohrt sich gerade in meine Hüfte. Nichts, aber auch nichts will gelingen! Ich werde ein grauenhafter Scout für Kay sein, so tollpatschig, wie ich bin. Wahrscheinlich werde ich gleich über den ersten Stein stolpern und mir das Genick brechen!
Mit dem Messer in der Hand schreite ich wütend aus, drehe mich nicht mehr nach unserem Holzhäuschen um. Es liegt hinter der offiziellen Stadtgrenze Mill Valleys, nur wenige Kilometer vom Tamalpais-Naturschutzgebiet entfernt. Dem Ende der Zivilisation. Als ich in den Wald trete, kann ich mir kilometerweiter Natur sicher sein. Keine Straßen, keine Häuser und bald bin ich zwischen den silbergrauen Stämmen eingetaucht, die im Mondlicht schimmern.
Hier ist die Nacht niemals still. Äste knacken, trockene Blätter zerbrechen knisternd unter meinen Füßen, plötzlich hektischer Flügelschlag von Vögeln,