Zeitrausch (2). Spiel der Zukunft. Kim Kestner

Zeitrausch (2). Spiel der Zukunft - Kim Kestner


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wilder Salbei aus dem Wald, kein Zucker. Ich will meinen Gaumen nicht zu sehr verwöhnen. Mein Körper muss auf karge Kost eingestellt sein. Dass ich dadurch sieben Pfund abgenommen habe und geradezu mager aussehe, spielt keine Rolle.

      Mit kalten Fingern umklammere ich die herrlich warme Tasse und will in mein Zimmer gehen, als Mum zurück in die Küche kommt.

      »Bunny! Das hätte ich fast vergessen. Ein Brief für dich.«

      Erstaunt hebe ich die Brauen. »Von wem?«

      »Keine Ahnung. Er ist ohne Absender.« Sie zieht einen cremefarbenen Umschlag aus einem offenen Fach und reicht ihn mir.

      Fast lasse ich die Teetasse fallen, stelle sie klirrend auf den Tisch und starre auf das Papier. Mein Name und meine Adresse sind handgeschrieben, schwungvolle Linien in Schwarz. Plötzlich hämmert mein Herz wild gegen die Brust, denn ich bin mir sicher, der Brief ist von Kay. Wer sonst sollte mir solche Post schicken?

      Den Tee lasse ich stehen. Meine Hände zittern zu sehr. Erst als ich in meinem Dachgeschosszimmer bin, öffne ich das Kuvert und ziehe ein gefaltetes Blatt und eine Karte heraus.

      Die Karte ist beidseitig beschrieben und trägt dieselbe Handschrift wie das Kuvert. Die Schrift ist weiblich, die Karte mit Hillary unterzeichnet. Kays Haushaltshilfe.

      Ich überfliege die Zeilen, schlucke hart und lese sie nochmals Wort für Wort.

       Liebe Alison,

       Kay bat mich, dir den beiliegenden Brief zu schicken, sobald er von uns gegangen ist.

      Kurz schließe ich die Augen, dann zwinge ich mich, wieder auf die Karte zu sehen.

       … von uns gegangen ist.

      Das letzte Wort ist verschwommen, wahrscheinlich unter einer Träne.

       Am 1. Dezember hat er zu atmen aufgehört. Es tut mir leid, aber ich hatte nicht die Kraft, dir früher zu schreiben. Wie es sein Wunsch war, habe ich seine Asche auf dem Waldboden vor seinem Haus verstreut. Er hatte seit Jahren keinen Kontakt mehr zu anderen Menschen. Es war eine einsame Zeremonie. Aber als ich wieder ins Haus ging, sah ich einen Schwarzbären aus dem Wald kommen. Er stand über Stunden an der Stelle, als hielte er Wache …

       Ich bleibe in dem Häuschen, liebe Alison. Meine Schwester wird zu mir ziehen, allein ist es mir zu einsam, auch wenn ich die Natur nicht mehr missen möchte. Ich habe Kay gesagt, ich könnte das Haus nicht nehmen, es stände dir zu, aber er meinte, irgendwann würdet ihr ein gemeinsames haben, mit genug Platz für Kinder. Ich hoffe, du weißt, was er damit meinte.

       Fühle dich umarmt.

       Hillary

      Langsam lasse ich meine Hände in den Schoß sinken, streiche mit dem Finger über die erste Zeile, spüre ein Ziehen in der Nasenwurzel. Rasch lege ich die Karte zur Seite, aber schon schwimmen Tränen in meinen Augen. Ich beiße mir auf die Lippe, verbiete mir zu trauern, gar zu weinen.

      Verdammt! Kay lebt! Irgendwo – oder meinetwegen auch irgendwann – existiert eine Realität, in der wir ein gemeinsames Leben haben werden, ohne dass 87 Jahre Altersunterschied zwischen uns stehen. Ich muss diese Realität nur finden!

      Entschlossen lege ich Hillarys Karte in meine Nachttischschublade und betrachte den gefalteten Brief. Dad höre ich in seinem Schuppen hämmern, Jeremy ist genau wie Mum nicht da, aber trotz der Ruhe fühle ich mich nicht in der Lage, Kays letzte Worte zu lesen.

      Noch nicht.

      Mit angezogenen Beinen lehne ich mich an die Wand, ziehe mir eine bunte Flickendecke bis ans Kinn, und während ich durch das Dachgeschossfenster in die anbrechende Nacht starre, denke ich an unsere erste Begegnung …

      Nicht einmal 6 Monate ist es für mich her. Da war Kay 21, nur 4 Jahre älter als ich damals. Er stand mit hasserfüllten Augen neben Wum Randy, dem Moderator der Zeitreiseshow Top The Realities. Heute weiß ich, dass es alles andere als Zufall gewesen war, dass die Schweinehunde mich als ihre Kandidatin und Kay als meinen Scout gewählt hatten. Nur wegen unserer bedingungslosen Liebe, von der ich jedoch damals noch nichts wusste. Für die Zuschauer der Show war das jedoch ein Riesenkracher!

      Alles fing mit Jeremy an. Ich weiß noch, wie ich erwachte und er war verschwunden. Mehr noch, er schien nie existiert zu haben. Nicht einmal unsere Eltern konnten sich an seine Geburt erinnern! Ich dachte, ich müsste durchdrehen!

      Und nur einen Moment später befand ich mich auf einer Bühne, als Kandidatin dieser abartigen Show, über 400 Jahre in der Zukunft. Vor meinem geistigen Auge sehe ich die selbstverliebte, glitzernde Gestalt des Showmasters, höre sein hämisches Lachen, als er sagte: »Einige der Realitäten spielen sich nun mal ohne deinen Bruder ab.«

      Ich verstand nur, dass sie es gewesen waren, die in meinem Leben herumgepfuscht und Jeremys Dasein verhindert hatten.

      Was das genau bedeutete, begriff ich erst, als sie mich tief in die Vergangenheit zurückschickten, um die richtigen Schlüsse zu ziehen, damit ich in den Lauf der Geschichte eingreifen und rückgängig machen konnte, was sie getan hatten. Kurz: Ich musste Jeremys Existenz wiederherstellen.

      Kay hatten sie als meinen Scout mitgeschickt. Seine Aufgabe? Dafür zu sorgen, dass ich überlebe, denn die Show musste weitergehen. Eine tote Kandidatin war wenig interessant. Und sie hatten recht. Ohne Kay wäre ich mit Sicherheit gestorben. Wahrscheinlich verdurstet. Oder erfroren, verhungert, von einer Infektion dahingerafft. Ich hätte keine Woche in der Wüste des vorletzten Jahrhunderts überlebt, in dem wir schlussendlich gelandet waren. Erst dort hatte Kay mir gestanden, dass er mich liebt – schon lange.

      Unbegreiflich!

      Bei der Erinnerung schüttle ich den Kopf. Immer noch fällt es mir schwer, die zeitlichen Paradoxe zu verstehen. Aber ich weiß, in weniger als 2 Jahren seit meiner Rückkehr – linear gerechnet – werden sie mich wieder holen. Denn dann werde ich Kays Scout sein, mich an unsere Liebe klammern, aber er wird sich nicht an unsere gemeinsame Zeit erinnern können, mich nicht einmal kennen. Diesmal ist für ihn Zukunft, was für mich bereits Vergangenheit ist. Er wird nicht wissen, dass ich erst im Jahr 1996 auf die Welt kommen werde, fast 90 Jahre nach ihm.

      Aber am schlimmsten ist: Von alldem werde ich ihm nichts erzählen dürfen. Es würde unsere Zukunft gefährden, neue Paradoxe entstehen lassen.

      Das Klappen der Haustür reißt mich aus meinen Gedanken. Ich höre die Kühlschranktür gegen die Wand schlagen, Dad grummelt irgendetwas, eine Minute später dringt die eintönige Stimme eines Nachrichtensprechers zu mir. Die nächsten Stunden wird Dad fernsehen.

      Ich atme tief durch und entfalte den Briefbogen. Die Wörter wirken wie mit zittriger Hand geschrieben. Fast bin ich enttäuscht, als ich sehe, wie kurz der Brief ist.

       Meine geliebte Alison,

       wenn wir uns das nächste Mal sehen, werde ich mich nicht an dich erinnern können und nicht der Mann sein, den du kennst. Denn erst durch das Geschehene wurde ich zu dem Menschen, der ich heute bin.

       Deshalb, sei hart zu mir! Lass mir nichts durchgehen! Verschwende keine Zeit auf meine Mission. Vielleicht kannst du mir mein Verhalten irgendwann verzeihen, denn ich war ein Riesenidiot. So spät habe ich erkannt, dass das einzig Wichtige du bist. Nur du!

       Du musst den Marker beherrschen lernen. Trainiere jede Sekunde. Du kannst es schaffen. Du musst es schaffen!

       Irgendwo gibt es eine gemeinsame Realität für uns. Du musst sie nur finden. Auch wenn ich bereits tot bin, wenn du dies liest, ist es kein Abschiedsbrief, das weißt du.

       Ich werde dich in jeder Realität lieben.

      Kay

      Ich lese den Brief nicht noch einmal. Es wäre zu gefährlich. Wum Randy könnte mich aus der Zukunft beobachten, vielleicht gerade diesen Moment an seine Zuschauer holoportieren. Solange ich den Marker trage, sind sie dazu zumindest in der Lage.


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