Täterland. Binga Hydman
Ich bin der Ansicht, dass in Deutschland in der Zeit von 1918-1933 und vor allem 1933 nicht zu sehr die Masse des Deutschen Volkes politisch versagt hat, sondern gerade diejenige Schicht eines Staates, die ein Volk politisch führen sollte, die Intelligenz.
Hans Scholl (1918 - 1943), hingerichteter Widerstandskämpfer
gewidmet meinem Großvater
TÄTERLAND
Roman
Binga Hydman
© 2020 Binga Hydman
Umschlaggestaltung, Illustration: Michael Mikulsky
Lektorat,Korrektorat: Pia Henke
Verlag+Druck: tredition GmbH, Halenreie 40-44
22359 Hamburg
ISBN: | 978-3-347-12265-9 (Paperback) |
978-3-347-12266-6 (Hardcover) | |
978-3-347-12267-3 (e-Book)) |
Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt ins- besondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar
Vorwort
Dieses Buch war mir ein Anliegen. In Zeiten einer sich rapide verändernden Welt, in der sich einst demokratisch gewählte Regierungen daranmachen, ihren Bevölkerungen eine Rückkehr zum Nationalstaat als den Königsweg zu präsentieren, ist es um so wichtiger geworden, dem spaltenden Element einer solchen Politik entschlossen entgegenzutreten. In jeder Epoche der bisherigen Menschheitsgeschichte gab es Staatsmänner, die die ihnen anvertrauten Nationen an den Rand des Abgrunds führten oder sogar noch einen Schritt weiter gingen. Diese Männer und Frauen allein hätten ihre politischen Vorstellungen und Irrwege aber niemals umsetzen können. Stets umgaben sie sich mit Menschen, die sich ihren pervertierten Ideologien, ihren kruden Weltanschauungen oder aber ihrer Gier nach Macht und Reichtum bedingungslos anschlossen. Diktatoren oder Präsidenten konnten sich nur deshalb über das Gesetz stellen, weil sie über Helfer verfügten, die ihnen dafür in den Parlamenten den Weg ebneten. Im Grunde genommen sind es also zunächst einmal die Opportunisten und willfährigen Hofschranzen, die sich an der Demontage eines bis dahin funktionierenden Rechtsstaates beteiligen. Für ihren Verrat an der Demokratie erhalten solche Menschen hohe Ämter oder gut bezahlte Jobs an zentralen Stellen der Wirtschaft und der Politik. Korruption, Bestechung und juristische Immunität sind und waren schon immer die drei Säulen einer jeden Diktatur. In den allermeisten dieser „Ein-Mann-Regierungen“ gab und gibt es Menschen, die sich willig zu Mittätern gemacht haben, obwohl sie bereits frühzeitig erkannten, dass das was sie tun, Unrecht ist. Auch nach dem sie zu dieser Einsicht kamen, beteiligten sich viele von ihnen weiterhin an befohlenen Verbrechen und kriminellen Machenschaften.
Als Adolf Hitler im Jahre 1933 zum Reichskanzler des Deutschen Reiches gewählt wurde, ahnten viele Deutsche bereits, dass dessen Politik unweigerlich zu einem Krieg führen würde. Hitlers Rassenpolitik, die Verfolgung Andersdenkender, die radikale Gleichschaltung der Presse und vollständige Militarisierung der gesamten Bevölkerung waren deutlich sichtbare Anzeichen für das Entstehen eines Unrechtsstaates. Unzählige deutsche Juden und sogenannte Staatsfeinde mussten ihre Heimat Hals über Kopf verlassen, um nicht in einem der neugeschaffenen Konzentrationslager zu verschwinden oder während eines nächtlichen Verhörs in einem der Folterkeller der Gestapo zu Tode geprügelt zu werden. Die meisten Volksgenossen arrangierten sich schon bald mit dem Regime und lernten in ihm zu leben. Diejenigen, die keine Nationalsozialisten waren und es sich leisten konnten, zogen sich in das Privatleben zurück. Hunderte ehemalige Abgeordnete, deren Parteien nach 1933 verboten worden waren, begaben sich in die freiwillige politische Isolation. Sie widmeten sich fortan der Landwirtschaft oder der Pferdezucht. Die Angst durch einen dummen Zufall in den Fokus der Gestapo zu geraten war allgegenwärtig. Man verhielt sich daher möglichst unauffällig und blieb vorsichtig.
Als die Wehrmacht am 1. September des Jahres 1939 das Nachbarland Polen überfiel und damit den 2. Weltkrieg auslöste, wurden die meisten dieser Männer zum Wehrdienst eingezogen. Viele von ihnen dienten als Offizier in der Wehrmacht und wurden an der Front nicht selten Augenzeugen von deutschen Kriegsverbrechen. Einige dieser Offiziere verschlossen die Augen und sahen weg, als die Einsatzgruppen der SS und des Sicherheitsdienstes SD im russischen Hinterland tausendfachen Massenmord an Juden und Zivillisten begangen. Einige dieser Männer beteiligten sich sogar persönlich an diesen Gräueltaten. Entweder aus Überzeugung oder aber aus Opportunismus beteiligten sich einst anständige Männer im deutschen Namen an unvorstellbaren Verbrechen, die für immer unentschuldbar bleiben werden. Nur eine Handvoll dieser meist adeligen Offiziere wagte am 20. Juli 1944 den Staatsstreich. Das Stauffenberg-Attentat auf-Hitler misslang und der Staatsstreich brach schon nach ein paar Stunden in sich zusammen. Die führenden Offiziere dieses letzten verzweifelten Versuchs, sich noch aus eigener Kraft aus den Fängen des Hitler-Regimes zu befreien, misslang. Die Folgen sind bekannt. Das sinnlose Sterben an den Fronten und in den Vernichtungslagern ging noch fast zehn Monate weiter, bis das deutsche Oberkommando schließlich bedingungslos kapitulierte und die Waffen streckte. Hitler und viele seiner engsten Mitstreiter entzogen sich der Verantwortung durch Selbstmord oder versuchten unter falschem Namen unterzutauchen. Die meisten dieser Kriegsverbrecher und Schreibtischtäter konnten die alliierten Sieger allerdings aufspüren, festnehmen und aburteilen.
Einigen wenigen gelang die Flucht in das weit entfernte Ausland. Doch was wurde aus den Opportunisten aus der dritten Reihe, dem Blockwart aus der Wohnung von nebenan, dem Wachtposten auf dem Wachturm in einem Konzentrationslager oder dem kleinen Parteifunktionär in einem pommerschen Dorf. Viele dieser Männer und Frauen, die jahrelang widerspruchslos unmenschliche Befehle befolgt hatten, schwiegen fortan oder rechtfertigten ihre eigenen Taten, in dem sie sie zu kriegsrelevanten Notwendigkeiten verklärten und sich auf den Befehlsnotstand beriefen. Es gab aber auch eine nicht unerheblich große Anzahl derer, die an ihrer Schuld zugrunde gingen. Sie flüchteten sich in den Alkohol oder brachen unter der Last der eigenen Verbrechen irgendwann zusammen. Hunderte begingen noch Jahre nach dem verlorenen Krieg einfach Selbstmord oder flüchteten in den Wahnsinn. Die meisten der Täter kehrten jedoch in ihr altes beschauliches Leben aus der Vorkriegszeit zurück, wurden wieder Versicherungsvertreter oder eröffneten irgendwo ein kleines Geschäft, in dem sie fortan Schuhe oder Radiogeräte verkauften. Ihre Schuld jedoch blieb. Heute liegt es an jedem einzelnen von uns, aus der Geschichte zu lernen und eine Wiederkehr von nationalem Größenwahn und staatlicher Willkür zu verhindern. Dieses Buch soll ein Versuch sein, dem Denken und Handeln jener Menschen auf die Spur zu kommen, die mitmachten, oder aber aus moralischer Verpflichtung heraus begannen Widerstand zu leisten. Die Hauptfiguren der vorliegenden Geschichte sind frei erfunden. Ihre Biografien entstammen ausschließlich meiner Fantasie. Einige der Handelnde Personen hat es aber tatsächlich gegeben. Für die vorliegende Geschichte habe ich einige ihrer Lebensgeschichten und Handlungen, soweit es für die Erzählung notwendig war, verändert. Die meisten der Tatsachen und Geschehnisse in diesem Buch entsprechen allerdings den historischen Begebenheiten und haben sich tatsächlich so abgespielt.
Binga Hydman, August 2020
1. Kapitel
Die neue Zeit
„Martin! Das Essen steht auf dem Tisch!“ Der Ruf der Hauswirtschafterin hallte über den sonst menschenleeren Hof. Der sich auf der Treppe des alten Herrenhauses sonnende bereits betagte Schäferhund hob schläfrig den Kopf, bevor er ihn wenig später auf die warmen Steinplatten zurückfallen ließ. Es war kurz vor Mittag und die meisten der Mägde und Knechte, die auf dem Gut der Familie von Amsfeld arbeiteten, waren zu dieser Zeit entweder noch auf den Feldern oder in den Stallungen beschäftigt. Wo steckt der Junge bloß wieder, dachte Ursula Kleinow und wischte sich die Hände an ihrer Schürze ab. Eine Sekunde später entdeckte sie den Knaben. „Ich komme schon“, rief er und winkte ihr dabei zu. Er trat aus einem der Pferdeställe heraus und die alte Haushälterin wunderte sich einmal mehr, wie erwachsen der Junge