Täterland. Binga Hydman

Täterland - Binga Hydman


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durchgeführt worden. Das neugeschaffene "Zentral-Komitee zur Abwehr der jüdischen Greuel- und Boykotthetze" des fränkischen Gauleiters Julius Streicher war für die Durchführung dieser perfiden Hetzkampagne verantwortlich gewesen. Seit Mitte der zwanziger Jahre weiteten die Nazis ihre antijüdischen Aktionen immer weiter aus, und nach der Machtübernahme am 30. Januar 1933 begannen sie immer offener und rabiater gegen die Juden vorzugehen. Die durch die Nazis unterwanderte Polizei und Justiz griff nur noch sehr selten ein und registrierte die antijüdischen Ausschreitungen in der Regel tatenlos. Dieser staatlich geduldete und sogar geförderte Antisemitismus erschien vielen Deutschen suspekt und als nicht richtig. Paul Gerhard von Amsfeld war einer von diesen Deutschen. Die Familie von Amsfeld galt von jeher als weltoffen und ausgesprochen liberal. Antisemitismus war ihnen fremd und so ging der ehemalige DDP-Abgeordnete kurz nach der Machtergreifung der Nazis zu den neuen Herren auf Distanz.

      Die Nürnberger Rassegesetze vom 15. September 1935 stellten den bisherigen Höhepunkt des staatlich verordneten Antisemitismus dar. Fortan wurde zwischen „Reichsbürgern“, die deutschen oder artverwandten Blutes sein mussten und jüdischen „Staatsangehörigen des Deutschen Reichs“ unterschieden, die im Gegensatz zu den erstgenannten über keinerlei bürgerlichen Rechte mehr verfügten. Als ein sogenannter „Volljude“ galt, wer von mindestens drei jüdischen Großeltern abstammte. zu „Halbjuden“ wurden jene Menschen, die von zwei jüdischen Großeltern abstammten.

      Ursula Kleinow stieg die Treppen des Wohnhauses hinauf. Die alte Haushälterin hatte sich, gleich nach dem sie auf das Rittergut zurückgekehrt waren, in ihr kleines Zimmer zurückgezogen. Der Besuch im Büro des Ortsgruppenleiters Matuschek wirkte auch bei ihr immer noch nach. Sie hatte die grenzenlose Wut und den Hass dieses Mannes erlebt, und auch das Entsetzen Martins war ihr nicht entgangen. Sie schloss die Augen und vor ihrem geistigen Auge setzten sich Stück für Stück längst vergessene Erinnerungen zu Bildern zusammen. Sie sah ihre Großmutter, die sie so sehr geliebt hatte, auf einem Schaukelstuhl sitzen, während ihr Großvater wie üblich an seinem Schreibtisch hockte und dabei war die Zeitung zu studieren. Ursula lächelte, als sie sich selbst zwischen den beiden alten Leuten auf dem Boden hocken sah. In der Hand hielt sie ihre Lieblingspuppe, und als sie zu ihrer Großmutter aufsah, lächelte die alte Frau ihr freundlich zu. Dann verschwanden diese Erinnerungen und machten anderen Bildern platz. Jetzt sah sie ihre Großeltern, die sich händehaltend auf eine Parkbank gesetzt hatten, um Ursula beim Spielen zu zuschauten. Plötzlich tauchten zwei junge Männer auf, die im Vorbeigehen über die beiden alten Menschen lachten und sie verspotteten. „Verdammtes Judenpack“, hatte einer der beiden gerufen. Diese Worte konnte Ursula bis heute nicht vergessen. Damals war sie sechs Jahre alt gewesen und hatte nicht einmal gewusst, was diese Worte eigentlich bedeuteten. Nur der traurige Blick ihrer Großeltern hatte sich tief in ihr Gedächtnis eingebrannt. Die jüdische Religion spielte damals in ihrem Elternhaus nie eine sonderlich große Rolle. Als ihre Großeltern ein paar Jahre später starben, sprach im Hause Kleinow kein Mensch mehr über die jüdischen Wurzeln der Familie ihrer Mutter.

      Wie im aufgeklärten Pommern allgemein üblich ,waren die Kleinows im protestantischen Glauben erzogen worden und gehörten wie die meisten Bewohner Amsfelds der evangelischen Kirche an. Ursula seufzte und ließ sich erschöpft auf ihren Sessel fallen. Was sollte sie nun tun? Sie galt jetzt nach den deutschen Rassengesetzen als Halbjüdin und war damit praktisch rechtlos. Als noch schlimmer aber empfand sie die plötzliche Erkenntnis der Hilflosigkeit. Was konnte sie überhaupt noch tun? Ein Klopfen an ihrer Tür riss sie aus ihren Gedanken. „Herein“ Sie räusperte sich „Herein“ wiederholte sie etwas lauter. Die Tür öffnete sich und Paul Gerhard von Amsfeld betrat den Raum. Er blickte sich um, dann lächelte er. „Darf ich mich setzen?“ Die alte Frau sah ihren Arbeitgeber müde an und deutete dann auf einen der beiden alten Stühle. „Ich mache nur eine kurze Pause Herr von Amsfeld“, entschuldigte sie sich. „Sie werden heute den ganzen Tag lang Pause machen können, denn ich gebe Ihnen für heute frei.“ Freiherr von Amsfeld schüttelte traurig mit dem Kopf. „Martin hat mir von ihrem Besuch bei diesem strohdummen Matuchek erzählt.“ Seine Stimme war eisig, wurde aber sofort wieder sanft und einfühlsam, als er weitersprach. „Machen Sie sich bitte keine Sorgen über Ihren weiteren Verbleib in unserem Haus. Sie gehören seit vielen Jahren praktisch zur Familie, und niemand von uns wird diese Tatsache jemals vergessen.“ Paul Gerhard holte tief Luft, dann fuhr er fort. „Wir leben in schwierigen Zeiten. Deutschland ist in die Hände einer Verbrecherbande gefallen, und sie können mir glauben, dass alles noch viel schlimmer werden wird. Die Nazis werden uns mit ihrer aggressiven Politik über kurz oder lang in einen Krieg führen, das steht für mich fest. Der antisemitische Rassenwahn dieser Herrschaften wird ebenfalls zu großem Leid führen. Dieser ganze Quatsch vom arischen, germanischen Menschen ist lächerlich und dumm!“ Ursula Kleinow blickte ihren Arbeitgeber traurig an. Dann erwiderte sie lächelnd mit leiser Stimme „Sie sind ein guter Mensch Herr von Amsfeld. Ich danke Ihnen für die ehrlichen Worte, aber würde ich bleiben, bekämen Sie und Ihre Familie sicher Schwierigkeiten.“ „Da machen Sie sich mal keine Sorgen.“ Beruhigte er sie, obwohl er selbst kaum beunruhigter hätte sein können. „Ich denke es wird das Beste sein, wenn ich für eine Weile zu meiner Schwester nach Österreich gehe. Sie hat ja diesen Polizeibeamten aus Wien geheiratet.“ „Ich bitte Sie zu bleiben. Was sollen wir ohne Sie denn machen?“ Der Gutsherr lächelte und blickte sie fast flehend an. „Ich werde darüber nachdenken“, sagte sie und er bemerkte, dass für sie das Gespräch damit beendet war.

      Martin von Amsfeld stellte das Fahrrad an die Mauer des kleinen Backsteingebäudes, das die örtliche Verwaltung des Dorfes beherbergte. In seiner Hand hielt er den Einberufungsbescheid zum Reichsarbeitsdienst. Seit wenigen Monaten war dieser halbjährige Dienst für männliche Jugendliche im Alter von 18 bis 25 Jahre zur Pflicht geworden. Unter dem Motto „Mit Spaten und Ähre“ wurden die Jungen in Arbeitskolonnen eingesetzt, um neues Ackerland zu kultivieren, Deiche zu errichten oder Moore trockenzulegen. War der Arbeitsdienst zuerst nur dafür gedacht gewesen die Arbeitslosigkeit zu mindern, diente er jetzt hauptsächlich als eine nationalsozialistische Erziehungsmaßnahme und Vorausbildung für den sich anschließenden Wehrdienst. Als Martin wenige Minuten später wieder auf der schmalen, menschenleeren Dorfstraße stand, war er im Besitz einer ordnungsgemäß gestempelten Fahrkarte für eine Zugfahrt in der 3.Klasse zum Dienst im RAD-Reicharbeitsdienstlager 3/77 in Archsum auf der Insel Sylt. Sein Vater hatte wenig begeistert reagiert, als der Bescheid vor ein paar Tagen mit der Post ins Haus geflattert war. „Ich kenne einen Arzt in Rummelsburg, der könnte Dich DU (Dienstunfähig) schreiben“, schlug er seinem Sohn vor, doch Martin winkte ab. „Nein Vater, das wäre nicht recht. Ich werde fahren und wie alle anderen dort meine Pflicht leisten. Außerdem war ich noch nie auf Sylt“. Sein Vater nickte stumm. Letztendlich hatte er von seinem Sohn nichts Anderes erwartet. Martin war ein guter Junge und eine ehrliche Haut. Manchmal zu ehrlich, dachte der Alte von Amsfeld. „Wann musst Du einrücken?“ Helene hatte unbemerkt das Arbeitszimmer betreten und blickte ihren Sohn fragend an. „Schon nächste Woche“, erwiderte der. Seine Mutter ging geradewegs auf ihren Sohn zu und küsste ihm auf die Stirn.

      „Du wirst uns sehr fehlen“, flüsterte sie ihm leise zu. Martin blickte ein wenig verlegen zu Boden. „Ich bin ja nur für sechs Monate dort. Im Anschluss werden sie mich sowie so für zwei Jahre zum Wehrdienst einziehen“, sagte er. Seine Mutter strich ihm mit den Fingerspitzen zärtlich über die linke Wange. Sie war eine schöne Frau. Ihr volles blondes Haar wirkte durch eine perfekt gelegte Dauerwelle voluminös und elegant. „Wehrmacht!“, fauchte Paul Gerhard und in seiner Stimme lag die pure Verachtung. Helene nahm ihren Mann an die Hand und zog ihn mit sich in das Speisezimmer. „Kommt meine beiden Männer. Wir wollen doch Ursula nicht warten lassen.“

      Zwei Tage bevor Martin zum RAD einrücken sollte, wurde Ursula Kleinow verhaftet. Wie so oft kamen die Beamten der Gestapo in den frühen Morgenstunden. Es war sechs Uhr, als es an der großen Haustür klopfte. Freiherr von Amsfeld, der gerade dabei war eine Kanne Kaffee vorzubereiten, murmelte verschlafen. „Ist ja gut“, und ging gähnend zu der schweren Eingangstür hinüber. Als er die Tür einen Spalt weit geöffnet hatte, drängten ihn sofort zwei Männer in langen Ledermänteln zur Seite. „Was erlauben sie sich?“, fuhr er die beiden Beamten an. Der größere der zwei Eindringlinge hielt dem überraschten Gutsherrn seine Gestapo-Marke unter die Nase. „Geheime Staatspolizei, sind Sie Paul von Amsfeld?“


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