Täterland. Binga Hydman
alle anderen Arbeitsmänner seinen cremefarbigen Drillichanzug. Der Himmel über dem kleinen Lager war wolkenverhangen und düster, Regen kündigte sich an. Zwischen den mit Schilf überwachsenen Dünen, die die Baracken umgaben, entdeckte Martin ein paar Kameraden, die gerade dabei waren einen Stacheldrahtzaun zu ziehen. Nach wenigen Minuten waren alle Arbeitsmänner der Abteilung 3/77 angetreten. Wie Gewehre hatten sie ihre blank polierten Spaten geschultert und warteten auf den Abmarschbefehl. Die ersten dicken Regentropfen platschten vereinzelt, dann vermehrt auf den eben noch trockenen feinen weißen Sand. Wieder grollte es laut und schwarze Gewitterwolken vereinten sich über ihren Köpfen zu einem gewaltigen Festival aus Blitz und Donner. Sturzbachartig ergoss sich nur einen Atemzug später ein Platzregen, der den Appellplatz in Sekundenschnelle in morastigen Schlamm verwandelte. Die Arbeitsmänner verharrten regungslos an ihrem Platz. Ihre nassen Drillichanzüge klebten an den Körpern, als der Obertruppführer endlich den Befehl zum Abmarsch gab. Die Männer stampften durch das Tor hinaus in die karge Dünenlandschaft der Insel. Nach einer halben Stunde, in der es weiterhin und ununterbrochen regnete, erreichten sie die Baustelle. Martin staunte nicht schlecht, als er bemerkte, dass es dort keinerlei schweres Arbeitsmaterial gab. Nirgendwo entdeckte er einen Bagger oder wenigstens einen Traktor, die die Männer bei der harten Arbeit hätte unterstützen können. Tag und Nacht wurden die Arbeitskolonnen hauptsächlich für die Errichtung eines 5,2 Kilometer langen Damms eingesetzt, der nur mit Schaufel und Spaten auf eine Höhe von fast sechs Meter aufgeschüttet werden sollte. Die Arbeitsbedingungen waren hart und meist wurde bis zur völligen Erschöpfung gearbeitet. Martin fiel nach der Rückkehr in das Lager vor Müdigkeit fast um.
An seinen Händen und Füßen hatten sich unzählige blutige Blasen gebildet, die wie Feuer brannten. Die Muskeln der Oberarme und seine Schultern fühlten sich taub und ausgelaugt an. Als er sich erschöpft auf einen der Stühle in seiner Stube fallen ließ, vermutete er, dass er sich nie wieder richtig bewegen würde können. „Martin, beweg deinen adeligen Arsch hierher und polier deinen Spaten. Der Oberfeldmeister wird gleich zur Stubeninspektion erscheinen.“ Einer seiner Zimmergenossen hielt ihm auffordernd den verschmutzten Spaten hin. „Nun mach schon!“ Martin tauchte den Putzlappen in einen der Eimer mit Politur.
Der Schmerz, als das scharfe Reinigungsmittel auf die offenen Wunden an seinen Händen gelangte, war höllisch. Er stöhnte auf und das Wasser schoss ihm in die Augen. Wenige Minuten später brüllte der Stubenälteste „Achtung“, und die anwesenden Arbeitsmänner nahmen die Habachtstellung ein. Im selben Moment betrat ein Riese die mit sechs Männern belegte Stube. Der Oberfeldmeister Jochen Meinhard war mindestens 2,10 Meter groß und hatte die Statur eines Preisboxers. Die Oberarme waren so dick wie Baumstämme, die Oberschenkel so muskulös wie die eines Rennpferdes. Meinhard musste sich ducken, um durch die Tür in das Zimmer zu treten. Sein markantes Gesicht war im Gegensatz zu seinem muskulösen Körperbau von einer fast edlen Schönheit. Seine wachen blauen Augen musterten die Anwesenden und blieben dann auf Martin gerichtet. „Arbeitsmann von Amsfeld, wenn ich mich nicht irre?“ Die Weichheit der Stimme wollte für Martin so gar nicht zu diesem riesenhaften Körper passen, der sich da vor ihm aufgebaut hatte. „Jawohl Herr Oberfeldmeister“. Der Riese lächelte freundlich und deutete auf den Spaten. „Lassen Sie mal sehen!“ Martin reichte den Spaten an den Vorgesetzten weiter. Der helle neue Holzstiel war an einigen Stellen durch das Blut der verletzten Hände dunkel eingefärbt. Meinhard bemerkte das schmerzverzerrte Gesicht seines gegenüber. „Das wird schon wieder mein Lieber“, sagte er und reichte Martin den Spaten zurück. „Sie haben sich heute gut geschlagen. Weiter so!“. „Jawohl Herr Oberfeldmeister“ Martin schlug die Hacken zusammen und empfand tatsächlich so etwas wie Stolz. Meinhard warf einen flüchtigen Blick auf die Spaten der anderen fünf Arbeitsmänner. Dann schob sich sein hünenhafter Körper durch die Türöffnung und war verschwunden. „Du bist wohl jetzt sein neuer Liebling.“ Martin schaute sich um. Kurt Knutzen, ein Hafenarbeiter aus Hamburg, grinste amüsiert und zündete sich dann eine Zigarette an. Knutzen war der Stubenälteste und Martin mochte diesen schlichten Geist, der das Herz an dem richtigen Fleck zu haben schien. Überhaupt hatte Martin bei der Stubenzuteilung Glück gehabt. Alle seine neuen Kameraden hatten ihn freundlich aufgenommen. Nachdem sie den abendlichen Revierdienst erledigt hatten, fielen die erschöpften Männer in ihre schmalen Kojen. Nur noch schlafen, dachte Martin und war schon Sekunden später eingeschlafen.
Die Tage und Wochen vergingen wie im Fluge. Irgendwann hatte es begonnen zu schneien und die karge Dünenlandschaft, für die die Insel Sylt bekannt war, wirkte seltsam unwirklich und fremd. Durch den ständig anhaltenden Westwind überzogen schon bald riesige Schneeverwehungen die einsame winterliche Landschaft der Nordseeinsel. Die Temperaturen fielen zum Teil unter -20 Grad und die harte körperliche Arbeit wurde durch den starken Bodenfrost noch zusätzlich erschwert. Die Männer fluchten und einige brachen nach den wochenlang andauernden Anstrengungen einfach zusammen. Martin, jung genug und mit einer guten körperlichen Konstitution versehen, hatte sich schnell an die Schwerstarbeit gewöhnt. Die Tage und Wochen glichen sich. Tagsüber wurde geschaufelt und am Abend wurde gesoffen. Monotonie und Langeweile lagen wie ein undurchdringlicher Nebel über dem tristen Lagerleben der Männer. Häufig kam es zu alkoholischen Exzessen, die nicht selten schon mal in einer wilden Prügelei endeten.
Oberfeldmeister Meinhard, der als der verantwortliche Lagerkommandant auch für die politische Erziehung seiner Arbeitsmänner verantwortlich war, ließ an manchen Abenden Lesungen durchführen, in dem er Textstellen aus Adolf Hitlers „Mein Kampf“ rezitierte oder aktuelle Berichte aus der deutschen Presse vorlas. Fast immer ging es dabei um die Überlegenheit der germanischen Rasse und die Verabscheuungswürdigkeit des Judentums. Martin, dem der Nationalsozialismus bis dahin immer fremd geblieben war, begann sich plötzlich für Politik zu interessieren. Einmal während eines Vortrages, in dem über die allgegenwärtige jüdische Gefahr für Europa referiert wurde, erinnerte er sich an zu Hause. Er sah Ursula Kleinow vor sich, die erst als Jüdin beschimpft und dann verhaftet worden war. Bis jetzt hatte er Mitleid und sogar Scham empfunden, wenn er an die alte Haushälterin und ihr Schicksal zurückdachte. Doch plötzlich gingen ihm Fragen durch den Kopf, die er sich bisher nie gestellt hatte. Waren die Juden nicht selber schuld daran, dass man sie nicht mochte? Hatten sie nicht vorgehabt das deutsche Volk zu versklaven? Wie ein schleichendes Gift setzten sich ganz allmählich die nationalsozialistischen Wahnideen in Martins Kopf fest, und er entfernte sich zusehends von dem liberalen Gedankengut seines Elternhauses. Ursula Kleinow war für Martin Stück für Stück vom Opfer zum Täter geworden. Die ständige Indoktrinierung und Propaganda der Nazis zeigte nicht nur bei ihm ihre Wirkung. Viele seiner Kameraden waren schon vor ihrem Arbeitsdienst Mitglied in der Hitlerjugend gewesen und daher weltanschaulich bereits gefestigt. In Martin wuchs der Wunsch, unbedingt dazu zu gehören. „Du bist nichts, Dein Volk ist alles“, wurde ihnen immer und immer wieder eingebläut und Martin glaubte irgendwann daran. Als im März der Schnee schmolz und die ersten warmen Sonnenstrahlen den hartgefrorenen Boden begannen aufzutauen, sollte Martins Dienstzeit auf Sylt nach sechs Monaten zu Ende gehen. Ein halbes Jahr nationalsozialistischer Dauerpropaganda und die Isolation in einer schäbigen Barackenlagers hatten ausgereicht, um aus dem einst liberalen und weltoffenen Jungen einen überzeugten Nationalsozialisten zu machen.
Der D-Zug nach Danzig war wieder einmal völlig überfüllt. Martin erhob sich und verließ das Abteil und drängelte sich auf die geöffnete Waggontür zu. Gerade noch rechtzeitig erreichte er sie und sprang auf den Bahnsteig hinaus. Nur Sekunden später schlugen die Türen hinter ihm zu und die große Dampflok ächzte und schnaufte, als sich der Zug langsam in Bewegung setzte. „Martin!“ Er drehte sich um und erkannte seinen Vater, der nur wenige Meter vor ihm auf dem Bahnsteig stand. „Hallo Vater.“ Die beiden Männer reichten sich die Hand. Paul Gerhard von Amsfeld lächelte und die Freude über die Heimkehr seines Sohnes stand ihm ins Gesicht geschrieben. „Deine Mutter erwartet uns pünktlich zum Essen. Es gibt Kartoffelpfannkuchen und Schokoladenpudding“ Martin nickte und grinste. „Das klingt gut. Die letzten Monate gab es bei uns nur Kommissfraß!“ Der Vater schlug seinem Sohn auf die Schulter und die beiden machten sich auf den Weg. Vom Bahnhof in Rummelsburg bis nach Amsfeld benötigten sie eine knappe Stunde. Der altersschwache Ford T, Baujahr 1921 quälte sich über die holperige Landstraße und Martin war froh, als sie endlich das Wohnhaus des Familiensitzes erreichten. Sobald der Wagen vor der großen Eingangstreppe zum Stehen gekommen war, öffnete sich die Haustür und seine Mutter stürzte