Täterland. Binga Hydman

Täterland - Binga Hydman


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wir die Jüdin Kleinow?“ Für einen kurzen Moment herrschte Stille. Nach ein paar Sekunden hatte Paul Gerard den ersten Schreck überwunden und erwiderte ruhig „Was wird Frau Kleinow zur Last gelegt?“ Über das Gesicht des größeren der beiden Beamten huschte ein kurzes Lächeln. Ihn schien die Frage nach dem Grund für den Haftbefehl zu amüsieren. „Mehrere Zeugen bestätigen, dass die Jüdin Kleinow auf dem Wochenmarkt in Amsfeld staatsgefährdende Reden geschwungen hat. Dabei hat sie auch den Führer beleidigt, in dem sie ihn als…“, der Beamte blickte kurz auf das Stück Papier in seiner Hand. „..gefährlichen Demagogen bezeichnet hat“. Jetzt war es Paul Gerhard von Amsfeld, der zu Lächeln begonnen hatte. „Das ist doch wohl ein schlechter Scherz meine Herren. Diese Frau ist siebzig Jahre alt und völlig unpolitisch. Es muss sich dabei um ein Missverständnis handeln“. „Nein. Es ist definitiv kein Missverständnis. Diese Jüdin hat antideutsche Propaganda gemacht und damit die öffentliche Ordnung auf das schwerste gefährdet.“ In diesem Moment öffnete sich hinter den drei Männer die Tür des kleinen Zimmers, in dem Ursula Kleinow wohnte. Die alte Haushälterin trat in den Flur. Sie war vollständig angekleidet. Offenbar hatte sie das Gespräch der Männer mit angehört „Ich wäre dann soweit“, sagte sie mit fester Stimme und trat in den Flur hinaus. Die beiden Beamten nahmen sie in die Mitte. „Aber Ursula, diese Vorwürfe sind doch ein Witz.“ Paul Gerhard war von der an den Tag gelegten Kooperationsbereitschaft seiner Haushälterin sichtlich überrascht. Die alte Frau lächelte. „Ach Herr von Amsfeld, das spielt doch gar keine Rolle mehr. Wir wissen doch beide, dass diese Herren keinerlei Begründung brauchen um mich mitzunehmen.“ Nach diesen Worten drehte sie sich um und zu dritt traten sie auf den menschenleeren Hof hinaus. Einer der Gestapo-Schergen hatte der zierlichen Frau derweil Handschellen angelegt und sie auf den Rücksitz des Mercedes Benz 170 bugsiert. Sekunden später war der Wagen bereits hinter den Stallgebäuden verschwunden.

      Als Martin an diesem Morgen in das Arbeitszimmer seines Vaters trat, sah er den alten Mann gedankenverloren an seinem Schreibtisch sitzen. Er sieht müde aus, dachte Martin. Sein Vater war in den letzten Monaten sichtlich gealtert. Die einst schwarzen Haare waren grau und sein hageres Gesicht durchzogen tiefe Falten. Martin wusste, dass sich der Freiherr seit der Machtübernahme der Nazis verändert hatte. Der früher lebenslustige und stets gut gelaunte Mann wirkte in letzter Zeit zunehmend verschlossen. Er schien immer häufiger von einer tiefen Traurigkeit befallen zu sein. Seiner täglichen Arbeit ging er nur lustlos nach und immer häufiger wirkte er schon am Mittag erschöpft. An den Abenden zog sich Paul Gerhard von Amsfeld dann meist nach dem gemeinsamen Abendessen zurück. Martins Mutter missfiel der Zustand ihres Mannes, aber sie sah sich nicht in der Lage, ihre Situation zu ändern. „Guten Morgen Vater.“ Paul Gerhard hob kurz den Kopf und nickte ihm wortlos zu. Eine Träne rann ihm über die rechte unrasierte Wange. „Was ist passiert?“, fragte Martin. Eine unbestimmte Angst ergriff von ihm Besitz. Er hatte seinen Vater bis jetzt noch niemals weinen sehen. Was zum Teufel war hier los? Auf dem Schreibtisch entdeckte er die Pistole seines Vaters. Die Waffe befand sich seit seiner Militärzeit im Besitz des ehemaligen Rittmeisters. „Sie haben Ursula abgeholt“, flüsterte Paul Gerhard mit brüchiger Stimme. Martin fühlte, wie ihm die Beine den Dienst versagen wollten. Mit einem schnellen Schritt erreichte er das kleine Sofa neben dem Bücherregal und ließ sich mit einem Plumps hineinfallen. „Ich konnte nichts machen. Sie haben sie einfach mitgenommen.“ Wieder liefen ihm die Tränen über das Gesicht. „Warum?“, war alles, was Martin herausbrachte. „Sie soll den Führer beleidigt haben“. Die Traurigkeit in der Stimme seines Vaters hatte nun einer mühsam kontrollierten Wut platz gemacht. „Recht und Gesetz gibt es nicht mehr in diesem Deutschland. Wir werden von elenden Verbrechern regiert, die uns alle in den Abgrund stoßen werden.“ Die letzten Worte schrie er hinaus. Mit geballten Fäusten und hochgezogenen Schultern starrte er an Martin vorbei ins Leere. „Vater, beruhige dich doch“ Martin war sich nicht sicher, ob seine Worte den sichtlich aufgebrachten Mann überhaupt erreichten. „Ich soll mich beruhigen?“ Der Sarkasmus in der Stimme des Vaters war unüberhörbar. „Ursula gehörte zur Familie und hat in ihrem ganzen Leben nichts Unrechtes getan. Sie wurde verhaftet, weil ihre Großeltern Juden waren. Eine völlig unwichtige Tatsache, die sie weder zu verantworten hat noch irgendwie beeinflussen konnte. Dieser widerliche Rassenirrsinn der Nazis erklärt gute Menschen zu Verbrechern, die absolut nichts getan haben, außer jüdischer Abstammung zu sein. Das ist doch Wahnsinn!“ Nach diesen Worten sank der alte Mann erschöpft in seinem Stuhl zusammen. Martin erhob sich und griff nach der auf dem Tisch liegenden Pistole. „Ich werde die Waffe zurück in den Safe legen“, flüsterte er mit sanfter Stimme. Sein Vater schien ihn nicht mehr zu hören.

      *****

      2. Kapitel

      Abschied des Gewissens

      Schon aus der Ferne war der Schriftzug über dem hölzernen Eingangstor gut zu erkennen. Unter den ausgebreiteten Schwingen eines Reichsadlers gab ein Schild Aufschluss über den Zweck der dahinter liegenden Baracken. „Reichsarbeitsdienst – Abteilung 3/77 – Eduard Jungmann“ stand dort geschrieben. Während der langen Anreise aus Rummelsburg hatte der zukünftige Reichsarbeitsmann von Amsfeld genügend Zeit gehabt, sich über seinen neuen Dienstort informieren. Eduard Jungmann, der Namensgeber der Abteilung 3/77, war ein preußischer Offizier gewesen, der während des deutsch-dänischen Krieges als Hauptmann eine Festungsbatterie in der Stadt Eckernförde befehligt hatte. Als am 5. April 1849 vier feindliche Kriegsschiffe einen Angriff auf die Stadt wagten, um den in Flensburg stationierten deutschen Truppen in den Rücken zu fallen, scheiterte dieses militärische Manöver an der herausragenden Leistung des Festungskommandeurs Jungmann. Während des Gefechts wurden alle dänischen Schiffe stark beschädigt. Zwei von ihnen liefen auf Grund und kapitulierten anschließend. Obwohl der Sieg kaum eine strategische Bedeutung hatte, stärkte er doch den Kampfgeist der deutschen Truppen. Jungmann wurde aufgrund seines beispielhaften Einsatzes an vorderster Front, für seine Tapferkeit und Umsichtigkeit zum Major befördert und mit dem sächsischen Hausorden mit Schwertern ausgezeichnet.

      Seit einigen Wochen hatte die Männer des Reichsarbeitsdienstes damit begonnen auf der Insel Sylt mehrere Barackenlager zu errichten. Um die kleinen Dörfer Tinnum, Keitum und Morsum wurden primitive Unterkunftsgebäude gebaut, in denen dann nach und nach insgesamt 700 Arbeitsmänner untergebracht wurden. Das Lager „Eduard Jungmann“ war das bisher Größte und in dem Örtchen Archsum errichtet worden. Am Tor des Lagers angekommen zeigte Martin der Wache seinen Einberufungsbescheid. Einer der Posten deutete auf die größte der sieben Baracken. „Dort melden Sie sich beim Oberfeldmeister.“ Martin bedankte sich und betrat das kleine Lager. Die Gebäude wirkten verlassen. Nur vor dem Stabsgebäude standen einige uniformierte Männer herum, die ihn neugierig musterten. Vor einer Tür, auf die man ein Schild „Geschäftszimmer Abtl 3/77“ montiert hatte, blieb er stehen. Dann klopfte er und trat ein. Ein kleiner Tresen trennte den größten Teil des Zimmers ab, so dass ein Besucher lediglich einen knappen Meter in den Raum hereintreten konnte. Hinter dieser etwa 1,50 hohen Wand aus Sperrholz saßen ein Obertruppführer und ein Vormann an ihren Schreibtischen und waren damit beschäftigt einige Akten zu sortieren. „Entschuldigen Sie bitte, ich soll mich hier melden“, sagte Martin und nahm Haltung an. Der Kopf des Obertruppführers fuhr herum. Das wenig freundlich wirkende Gesicht verfinsterte sich noch, soweit das überhaupt möglich war. „Schau mal Schulz, Frischfleisch!“ Der angesprochene Vormann betrachte den strammstehenden Martin sichtlich gelangweilt. „Noch so ein Babyface“, murmelte er und wandte sich wieder seinen Akten zu. Der Obertruppführer hatte sich erhoben und war an den Tresen herangetreten. „Also Jüngchen, ich will Ihre Papiere sehen.“ Martin griff in seine Hemdtasche und reichte dem Vorgesetzten seinen Einberufungsbescheid. „Mensch Schulz, was haben wir doch für ein Glück. Der Herr ist vom alten Adel“. Der Sarkasmus in der Stimme des Unteroffiziers war unüberhörbar. „Also Jüngchen. Mein Name ist Stachelhaus. Für Sie heißt es Obertruppführer Stachelhaus.“ „Jawohl Herr Obertruppführer“. Auf dem Gang der Baracke waren jetzt Schritte und Stimmengewirr zu hören. „Schulz bewege Deinen Hintern und setzte einen Kaffee auf. Der Oberfeldmeister ist zurück.“ Der Angesprochene erhob sich und verschwand in einem der Nebenzimmer. „Also Arbeitsmann von Amsfeld..“. In der Anrede hatte Stachelhaus die Betonung auf das „Von“ gelegt „..Sie gehen jetzt in die Kleiderkammer und lassen sich ihren Drillich und eine Uniform verpassen. Danach melden Sie sich bei ihrem Stubenältesten.“ Martin schlug die


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