Verschlüsselt - Geheimnisse einer Stadt. Bianca Eckenstaler
wie damals.
Für einen kurzen Moment spürte sie wieder Wärme in sich. Ein Geräusch riss sie aus ihren Gedanken. Sie war zurück im Hier und Jetzt. Traurigkeit erfüllte ihr Herz. Es wird sicher eine Weile dauern, bis dieser Schmerz vorbei ging und sie sich wieder auf einen Jungen einlassen würde. Doch darüber wollte sie nicht weiter nachdenken. Sie nahm den Zettel mit dem Spruch und überlegte.
Geh an den Ort, der Hoffnung gibt.
Es ist ein Ort der Harmonie und Vollkommenheit.
Es ist der Ort des Alpha und des Omega.
Bella dachte laut nach. »Ein Ort, der Hoffnung gibt. Was könnte das sein?« Sie überlegte, dass sie das Kästchen mit einer historischen Zahl öffnen konnte. Also könnte dieser Ort auch in der Geschichte etwas Bedeutendes gewesen sein. »Ja, eine Kirche. Es kann eine Kirche sein. Doch welche? Hier in Delitzsch hatten wir drei. Doch war die Kirche wirklich ein Ort der Harmonie und Vollkommenheit? Steht sie für den Anfang und das Ende?« Bella rieb sich das Gesicht. Es könnte auch ein Friedhof gemeint sein. Auf dem Friedhof stand ebenfalls eine Kapelle, in der die Trauerfeiern gehalten wurden. Doch woher würde sie wissen, dass sie an dem richtigen Ort war? Was sollte sie dort finden? Sie wünschte sich, sie hätte jemanden, mit dem sie ihre Gedanken austauschen konnte. Doch sie musste allein überlegen.
Tom wusste viel. Er war ihre Inspiration. Er beschäftigte sich neben der Schule viel mit Fachliteratur und verfügte über ein großes Allgemeinwissen. Sie lernte viel von ihm. Doch er war nicht hier.
Sie fing erneut an zu weinen und dachte daran zurück, mit welcher Ausrede er sie zu sich gelockt hatte. Angeblich brauchte er Hilfe in Musik, in der Notenlehre. Sie musste lächeln. Es war eine schöne Erinnerung. Sie wischte sich die Tränen weg und stand auf. »Laufen hilft beim Nachdenken«, sagte sie sich. Sie lief in Richtung Tierpark. Von außen sah sie die Trampeltiere und beobachtete sie. Es gab ihr innere Ruhe und ein Stück Frieden. »Gut«, sagte sie. »Ich werde jeden Ort ablaufen, der in Frage kommt. Vielleicht habe ich Glück und es fällt mir spontan etwas ins Auge.«
Voller Entschlossenheit lief sie los. Es war Donnerstagnachmittag, in der Nähe des Tierparks lag die Kirche St. Peter und Paul. Sie hatte keinerlei Bezug zur Religion, bewunderte aber die kunstvollen Gotteshäuser. Es war beachtlich, was Menschen erschaffen konnten. Sie erreichte die Kirche, die geöffnet war. Am Eingang befand sich ein Spendenkästchen und sie konnte eine Kerze anzünden. Sie wollte eine für ihre Oma anbrennen. Sie fehlte ihr sehr. Oma Rosi erlitt einen Schlaganfall und wurde nun von ihrem Sohn, Bellas Onkel, gepflegt. Leider wohnte sie einige hundert Kilometer entfernt, sodass sie Oma Rosi nur selten besuchen konnte, was sie sehr schmerzte. Nachdem Bella die Kerze angezündet hatte, lief sie in die Kirche hinein. Es war leise in dem großen und überwältigenden Saal. Wenige Menschen saßen verteilt auf den Holzbänken und hielten Andacht. Bella war noch nie in dieser Kirche gewesen, es hieß, dass sie den Einwohnern von Delitzsch in schwierigen Zeiten Hoffnung gegeben hat. Die Menschen kratzten Staub von der Mauer der Kirche und aßen ihn, in der Hoffnung, dass Gott dann in ihnen war und sie beschützte.
Sie lief in Richtung Altar und schaute sich um. Sie konnte an den Wänden viele Figuren erkennen, doch keine trug ein Zeichen, das wie ein Alpha oder Omega aussah. Sie stand mit einigem Abstand vor dem Altar und sah zu Jesus, doch auch dort konnte sie nichts erkennen. Sie lief außen an der rechten Bankreihe entlang und schaute, ob an der Bank etwas zu finden war. Das Gleiche tat sie auf der linken Seite, es war nichts zu finden. »Mmh. Mir fehlt absolut der Anhaltspunkt.« Sie sah den Pfarrer und wollte ihn fragen, ob er hier in der Kirche schon mal ein Alpha- oder Omega-Zeichen gesehen hat. Sie ging zu ihm. »Hallo Pfarrer. Kann ich Sie etwas fragen?«
Er schaute zu ihr und antwortete: »Ja, gern. Was möchtest du wissen?«
Sie sah ihn an und fragte: »Haben Alpha und Omega eine Bedeutung in Bezug auf die Kirche oder den Glauben? Haben Sie solche Zeichen hier in der Kirche gesehen?«
Der Pfarrer schaute sie verwundert an. Mit solch einer Frage hatte er nicht gerechnet. »Mein liebes Kind, ich weiß, was Alpha und Omega bedeutet. Es ist die Vollkommenheit des Ganzen. Die dafür stehenden Zeichen gibt es allerdings in dieser Kirche nicht. Es tut mir leid.«
Sie dankte und entschuldigte sich für die Störung.
Er drehte sich um und wollte schon gehen, als er noch einmal stehenblieb. »Warten Sie. Aller Anfang eines Lebens ist der Tod. Wenn jemand stirbt, wird die Seele freigegeben. Diese findet sich in einem Neugeborenen wieder. Ich würde es mit Alpha und Omega gleichsetzen.«
Sie dachte nach und fand, dass seine Erklärung ganz schlüssig klang. »Was meinen Sie, welcher Ort passt dafür besser? Das Krankenhaus oder der Friedhof?«
Er schaute sie irritiert an. »Mädchen, warum möchtest du das alles wissen?«
Sie überlegte, ob sie ihm von dem Schlüssel und dem Kästchen erzählen sollte, doch sie dachte sich etwas aus. »Ich habe in Ethik eine Hausaufgabe bekommen und soll ein wenig über die Bedeutung von Alpha und Omega herausfinden.« Sie hoffte, er würde ihr glauben.
»Nun gut«, sagte er und überlegte. »Ich denke, dass es der Friedhof ist. Zuerst steht das Leben, dann der Tod.«
Sie dankte ihm, ihr Herz hüpfte vor Freude, dass sie einen neuen Hinweis bekommen hatte. Wenn sie länger darüber nachdachte, kam ihr der Friedhof logisch vor. Es ist ein Ort der Harmonie und Vollkommenheit. Doch ob es ein Ort war, der Hoffnung gab, bezweifelte sie. Zumindest konnte sie es sich nicht vorstellen. Bislang war sie auf keiner Beerdigung gewesen. Sie machte sich auf den Weg zum Friedhof. Er lag auf der anderen Seite der Stadt. Sie wusste, dass es auf dem Platz auch eine Kapelle gab, wo sich die Familien und Freunde von ihren Lieben verabschieden konnten. Sie hoffte, dass sie dort etwas finden würde. Sie blickte auf die Uhr, es war bereits 16 Uhr. Der Friedhof schloss im Winter um diese Zeit, da es schnell dunkel wurde. Nun gut, sie würde morgen früh direkt hinfahren. Sie würde das Fahrrad nehmen, da es von ihrer Wohnung ein ganzes Stück entfernt war. Sie machte sich auf den Heimweg. Das Abendessen wollte sie nicht verpassen, denn sie hatte schon großen Hunger. Ihr fehlte das Mittagessen.
Sie lief auf dem Rückweg durch den Park und gab sich ihren Träumen hin. Sie dachte an die Zeit mit Tom. Er war ein Jahr jünger als sie und besuchte eine Klasse unter ihr. Beide gingen auf dieselbe Schule. Sie trafen sich immer in den Hofpausen und standen eng beieinander. Sie kuschelte sich gern an ihn ran. Er hatte einen muskulösen und gut gebauten Körper, er war groß und sportlich. Nach der Schule gingen sie beide gemeinsam nach Hause. Manchmal gingen sie noch zusammen mit dem Hund Gassi, danach trennten sich ihre Wege. Jeder ging zu sich und machte seine Schulaufgaben oder ging seinem Hobby nach. Am Abend trafen sie sich auf dem Balkon. Seine Familie war der direkte Nachbar von Bellas Familie, sodass die Balkons direkt nebeneinander lagen. Es war schön. Sie schauten zur untergehenden Sonne und hielten sich die Hände. Bella schluchzte. Es waren schöne Momente, Tom fehlte ihr. Es fehlte ihr, sich mit ihm zu unterhalten. Er war so erfrischend und klug. Traurigkeit machte sich wieder in ihr breit. Sie fror. Am liebsten wäre sie jetzt bei ihrer Oma Rosi. Sie hatte immer ein gutes Wort für Bella. Inzwischen war es schon dunkel. Sie bog in die Straße, in der sie wohnte.
Kaum war sie zur Tür rein, schellte ihre Mutter: »Wo warst du?«
Bella schaute sie erschrocken an. »Ich war in der Bibliothek und bin dann ein wenig durch Delitzsch gelaufen.«
Die Mutter brummelte etwas Unverständliches. »Das nächste Mal sagst du, wo du hingehst und haust nicht einfach ab.«
Bella nickte nur und verschwand anschließend in ihrem Zimmer. Anstatt dass die beiden mal fragten, wie es ihr geht, erhielt sie Schelte, weil sie sich nicht abmeldete. Sie nahm ihren CD-Player, schloss ihre Augen und hörte bis zum Abendessen Musik. Ihre Gedanken kreisten um das Rätsel, welches sie zu lösen versuchte. Morgen wusste sie hoffentlich mehr.
Bella hatte vor einem Jahr erfolgreich ihr Abitur abgeschlossen,