Unter Freunden. Udo Staber
Satz vorsagen, nimm ihn wie er ist, der Mensch kann sich nur selbst ändern. Oder wenn das nicht hilft, soll ich mich vor den Spiegel stellen und laut sagen, ich bin ein Mensch, ich achte und respektiere mich. Einen Stressball hatte ich mir auch schon zugelegt. Wochenlang drückte ich wie verrückt, aber es tat sich nichts, außer dass meine Finger steif wurden. Rainer sammelt leere Flaschen, Dübel, Glühbirnen und Schlüsselringe, und ich drücke diesen blöden Ball, bis meine Kunden mich fragen, ob ich unter Arthritis leide. Ich hatte schon Angst, ich muss meinen Beruf an den Nagel hängen, wenn meine ganze Hand irgendwann mal völlig steif ist und ich kein Buch mehr halten kann. In meinem letzten gemeinsamen Jahr mit Rainer habe ich wochenlang einen Stift durch meine Hände gleiten lassen, zur Entspannung, so wie es im Apothekerblatt stand, aber das half auch nicht. Vielleicht war es die Talkshow im Fernsehen, die mir den Todesstoß versetzte und mich zum Ausziehen bewog. Da ging es um Wiedergeburt, um die Frage, ob nach dem Tod alles vorbei ist, oder ob alles wieder von vorne anfängt. Da sagte ich mir, du großer Gott, was passiert, wenn ich Rainer wieder begegnen muss? Ich schaff das nicht. Ich geistere nachts oft im Haus herum. Einmal bin ich auf der Treppe auf einem Stapel Kopierpapier ausgerutscht. Er hat im ganzen Haus Kopierpapier herumliegen, wo er doch gar keinen Kopierer oder Drucker hat. Er braucht das als Schreibpapier, sagt er, es sei das beste Papier für seinen Lieblingsfüller, den er aus seiner Schulzeit vor fünfzig Jahren gerettet hat, zusammen mit drei Federmäppchen und seiner Schiefertafel aus der ersten Klasse. Wenn er mit diesem Füller auf etwas anderem als Kopierpapier schreibt, könnte es Flecken geben, und er will sich nicht Nachlässigkeit nachsagen lassen. Wie er dieses Problem vor fünfzig Jahren löste, als es noch kein Kopierpaper gab, hat er mir nie erklärt.
Ach, ich weiß gar nicht, warum ich so lange gewartet habe. Rainer, sagte ich zu ihm an einem Samstagvormittag, als er gerade mit einer Doppelfamilienpackung Klopapier aus dem Supermarkt nach Hause kam, jetzt ist Schluss, wisch dir deinen Arsch doch mit Zeitungspapier ab, ich zieh aus. Eine ganze Woche lang hat er getobt. Ich sei komplett verrückt, brüllte er, ich sei undankbar, wo er doch alles für mich täte und mir ein warmes Heim gebe. Ich sagte, ja, ein Heim vollgestopft mit Klopapier und Gurkengläser, und eine Garage, in der man kein Auto abstellen kann, weil sie mit Streugut zugemüllt ist. Ob ich einen anderen hätte, wollte er wissen. Ob ich zum Beispiel mit dem Mann der Nachbarin angebandelt hätte. Ich glaubte, ich hörte nicht recht. Ausgerechnet der Nachbarin, die ihm seit Jahren mit der Polizei droht. Dabei grüßt ihr Mann mich nicht einmal. Hat er noch nie, außer er wollte etwas von mir, seinen Mülleimer hinausschleppen zum Beispiel, wenn er einen seiner Migräneanfälle hatte. Seine Frau sei an seiner Migräne schuld, sagte er, und sie halte sich für zu fein, um den Mülleimer überhaupt anzufassen.
Detlef sammelt überhaupt nichts, weder Gurken noch Klopapier. Wenn er Lebensmittel einkaufen geht, kommt er gerade mit dem Notwendigsten nach Hause. Er braucht einen Grund, alle zwei Tage in den Supermarkt zu gehen. Er könnte dort an der Kasse wichtige Leute treffen, sagt er. Er redet über diese Leute, als seien sie Oligarchen, mit Geld wie Dreck und geradezu fürstlichem Einfluss im Stadtrat und Bauamt. Er findet sie widerlich, doch er versteht es, mit ihnen umzugehen. Die Psychologie des Menschen verstehen sei die eigentliche Kunst im Immobiliengeschäft, behauptet er. Mit Charme macht er das, so wie er auch mit Frauen umgeht. Das kann er, da ist er ein Engel.
Nicht dass mich das eifersüchtig macht. Im Gegenteil, es macht mich richtig stolz, wenn ich sehe, wie nett er zu den Leuten ist, die mir wichtig sind. Neulich kam er früher als sonst nach Hause, weil er wusste, dass ich eine Freundin zu mir zum Tee eingeladen hatte. Er kam mit einem wunderschönen Blumenstrauß für mich, und meiner Freundin hat er Pralinen mitgebracht. Ich hatte an dem Tag einen schlimmen Schnupfen, und er rannte sofort ins Schlafzimmer und holte für mich ein Taschentuch, eins aus Stoff, nicht aus Papier. Das war echt rührend von ihm. Auch meiner Freundin hat das imponiert. Tagelang hat sie davon gesprochen. Wenn nur ihr eigener Mann so nett wäre, sagte sie. Der mache ihr nur an Weihnachten Geschenke, und dann seien es immer nur Dinge für den Haushalt.
Detlef schenkt mir Schmuck und Reisen. Vor zwei Monaten waren wir zusammen in Venedig. Er hatte ein Hotelzimmer ganz nahe am Markusplatz gebucht, damit wir schon in der Früh um fünf dort sein können und den ganzen Platz praktisch für uns allein haben. Es war so furchtbar romantisch, im Frühnebel mit ihm Hand in Hand über den Markusplatz zu schlendern. Rainer würde in diesem Hotel bis zehn Uhr am Frühstückstisch sitzen und lieber die Zeitung lesen, als ein einziges Mal zum Fenster hinausschauen oder zur Abwechslung mal mich ansehen. Nicht dass Detlef beim Frühstück keine Zeitung liest, aber er legt sie sofort zur Seite, wenn er sieht, dass ich mit ihm reden will.
Aber Zeitungen sind etwas anderes als Krawatten. Das muss ich erst noch lernen. Als ich ihm sagte, wir müssen jetzt wirklich gehen, weil wir Regines Freunde nicht warten lassen wollen, machte er mit der Suche nach der passenden Krawatte noch eine ganze Weile weiter. Er konnte sich nicht entscheiden. Dann werde ich eben etwas schneller fahren, Sabinchen, sagte er. Ich mag es, wenn er mich Sabinchen nennt. Ich komme mir dann vor wie Doris Day in Bettgeflüster. Ich schaue mir diesen Film einmal im Jahr an. Es ist eine Dummheit zu glauben, Filme hätten nichts mit dem richtigen Leben zu tun.
Ich weiß nicht, was ich den anderen als Entschuldigung für unser Zuspätkommen sagen könnte. Bei Regine ist das nicht so schlimm, aber für Roland muss ich mir was ausdenken, der nimmt alles immer ganz genau. Hängt bestimmt mit seinem Beruf zusammen, Steuerbeamter. Ich kann ihm nicht sagen, dass Detlef sich für keine seiner vier oder fünf Dutzend Krawatten entscheiden konnte. Er würde das nicht verstehen. Oder dass wir wegen Glatteis langsamer fahren mussten. Das würde er mir nicht abnehmen. Ich frage Detlef, was wir meinen Freunden als Erklärung für unsere Verspätung sagen sollten, ob er vielleicht einen Vorschlag hat. Aber er antwortet nicht. Ich finde es beklemmend, wenn er keinen Hauch von sich gibt. Das macht er öfters. Er erwidert auch nichts, nachdem ich sage, dass wir mit der Erklärung nicht unbedingt groß lügen müssten. Es seien schließlich unsere Freunde, und Freunde zeigen Verständnis für alles.
Oh, bitte kein Streit, nicht jetzt, wo ich mich doch so auf dieses Abendessen freue. Ich habe ihn nur um einen Vorschlag gebeten, aber er glaubt wohl, ich hätte ihn gemaßregelt. Vielleicht habe ich nur zu laut geredet, oder ihm passt das Wort Verspätung nicht. Er sagt, er muss kurz halten, er muss auf die Toilette. „Aber Detlef“, sage ich, „könntest du nicht warten, bis wir im Restaurant sind?“ Ich sage das so, dass es nicht wie ein Vorwurf klingt, doch er antwortet nicht. Ich lege meine Hand auf seinen Arm. „Habe ich was Falsches gesagt, Detti?“ Er reagiert nicht, er schaut stur auf den Verkehr vor uns. Wenn ich sein Gesicht sehen könnte, würde ich vielleicht sehen, dass er eine Schnute zieht. Rainer hat auch oft eine Schnute gezogen, aber bei ihm war es mehr ein Ausdruck von Freudlosigkeit als von Kränkung. „Du musst ja nicht so furchtbar schnell fahren“, sage ich und berühre ganz sanft seine Schulter. Eisiges Schweigen, bis er einen Rastplatz sieht, auf den er abbiegt und dann den Wagen direkt neben dem Toilettenhäuschen abstellt. Ohne ein Wort zu sagen, steigt er aus. Ich könnte mir die Beine vertreten, wenn ich wüsste, wie lange er weg sein wird. Aber ich bleibe lieber im Auto sitzen, damit wir sofort weiterfahren können, wenn er zurückkommt. Es dauert mindestens fünf Minuten, bis er am Eingang erscheint und zweimal um das Toilettenhäuschen herumläuft, warum auch immer, bevor er zum Auto zurückkehrt.
Ich ahne, was mir jetzt bevorsteht. Statt weiterzufahren, wird er eine Weile schweigend dasitzen, die Hände auf dem Schoß und den Zündschlüssel in einer Hand. Und genauso ist es. Eisige Stille, kein Schnaufen, nichts. Er würdigt mich keines Blickes. Dann, nach zwei oder drei Minuten, kommt plötzlich das Donnerwetter. Ich soll doch auch mal seine Bedürfnisse in Betracht ziehen, schreit er mich an. Er sei immer nett zu mir und zu meinen Freunden, und er kümmere sich ganz rührend um mich, also wäre es doch schön, wenn ich wenigstens ab und zu auch mal nach ihm fragen würde. Ich hätte ihn gedrängt, loszufahren, er sei sogar viel schneller gefahren als sonst, was bei diesen Straßenverhältnissen knapp über Null nicht ungefährlich sei, das solle ich mir doch bitte vor Augen führen. Mir zuliebe habe er sich mit der Krawatte keine Zeit genommen, und das habe er jetzt davon. In der Eile habe er die falsche Krawatte erwischt, wie er jetzt im Toilettenspiegel festgestellt habe. „Du hast mir den ganzen Abend versaut“, brüllt er. „Wo ich mich doch so gefreut habe, deine Freunde kennenzulernen.“
Ich muss jetzt die passenden Worte finden. „Aber das hat doch nichts mit