Deutschland schafft mich. Michel Abdollahi

Deutschland schafft mich - Michel Abdollahi


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hätte die Frage nach dem Unterschied ganz einfach beantworten können: Es gibt keinen.

      Viele dieser neuen Begriffe haben sich langsam ausgebereitet. Erst über rechte Medien wie Compact, dann in deutschsprachigen Leitmedien wie der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, und dann selbst in den sonst so vorsichtigen linken Medien, weil die Menschen in dieser Sprachverwirrung die Übersicht verloren hatten. Es ging so weit, dass die MDR-Moderatorin Wiebke Binder am Abend der Landtagswahlen in Brandenburg und Sachsen eine Koalition aus CDU und AfD als »bürgerlich« bezeichnete und dafür, selbstverständlich, von der AfD viel Beifall erhielt. Es war offensichtlich gelungen, die Umdeutung von Begriffen schleichend durch ständige Wiederholung so lange voranzutreiben, bis auch für eine Moderatorin des öffentlich-rechtlichen Rundfunks die Grenzen zwischen rechtsradikal und bürgerlich vollkommen verschwommen waren. Nach großer medialer Entrüstung äußerte sich schließlich der MDR-Chefredakteur Torsten Peuker dazu:

      »Eine Wahlsendung ist eine Live-Sendung, da ist ein Versprecher, eine Verwechslung, eine Unschärfe in einer Formulierung auch mal möglich. Hier handelte es sich klar um einen Versprecher, für den wir uns entschuldigen.«[14]

      Ich bin überzeugt, dass Wiebke Binder keine verkappte AfD-Sympathisantin ist, die in der Wahlsendung subtil Meinungsmache betreiben wollte. Ich denke, sie war sich dessen nicht bewusst, was sie da gerade sagte, und genau das zeigt in erschreckender Weise, wie gut die Propaganda der Neuen Rechten gefruchtet hat. Jedes Argument, jeder Fakt, jede andere Meinung wird von ihnen als »Hetze« abgetan und damit jegliche Basis für eine ernsthafte Auseinandersetzung zerstört. Diese Menschen dann auch noch als »bürgerlich« zu bezeichnen, ist blanker Hohn für die, die sich wirklich für Bürgerlichkeit einsetzen, für das gemeinsame Miteinander.

      Rechtsradikale sind nicht bürgerlich, auch wenn sie das gerne wiederholen. Sie bleiben Rechtsradikale. Es ist schlicht nicht möglich, die AfD zu wählen und sich selbst in der bürgerlichen Mitte zu verorten. Wo sich die AfD im politischen Spektrum sieht, entscheidet sie nicht selbst, sondern die Wissenschaft auf Grundlage der politischen Thesen und Forderungen der Partei, und die sind schlicht und ergreifend rechts. Wenn man rechts wählt, sich aber davor fürchtet, als rechts bezeichnet zu werden, weil rechts negativ konnotiert ist, kann man nicht einfach behaupten, dass man eine bürgerliche Partei wählt, nur weil sich das besser anhört.

      Mir geht es hier nicht darum, den Begriff »bürgerlich« zu definieren, sondern darum, was es mit Menschen macht, wenn man sich hinter Begriffen versteckt, um die Wahrheit erträglicher zu machen. Es macht im Ergebnis keinen Unterschied, ob die Nazis die Springerstiefel gegen Jutebeutel tauschen, damit ihnen die Anhänger nicht weglaufen oder die AfD ihre Radikalität hinter dem Begriff Bürgerlichkeit tarnt, um den Einstieg für den noch Wankenden und die Rechtfertigung für den Parteigänger zu erleichtern. Der Kern der Sache bleibt gleich, oder wie es bei Two and a Half Men mal hieß: Man kann einer Ziege einen Frack anziehen, aber Ziege bleibt Ziege.

      Den Trauermarsch in Bad Nenndorf gibt es übrigens nicht mehr. Die Neonazis haben nicht bis 2030 durchgehalten. Die 11000-Einwohner-Gemeinde hat sich jedes Mal gegen die braunen Trauergäste gestellt, bis sie aufgegeben haben. Ein ziemlich hohes Nazitier hat mir gesagt, dass die Bad Nenndorfer Gegendemonstranten sich immer als Schlümpfe verkleidet und Schlumpflieder gesungen hätten. Das sei den richtigen Glatzen dann doch zu doof geworden, weswegen sie nicht mehr hingegangen seien. Seit 2016 wird nicht mehr getrauert. Danke, Vader Abraham.

      ***

      Zurück zur Klappbrille. Das Problem mit der Nazisprache war 2015 zumindest noch nicht allen bewusst. Die Formulierung, die die Klappbrille benutzte ist mittlerweile jedoch für viele, insbesondere für Migranten, zu einem Sinnbild des neuen deutschen Rassismus geworden, der sich heute quer und offen durch alle gesellschaftlichen Schichten zieht. Ein geflügeltes Wort, eine Phrase für die Ewigkeit, die den Rassisten inzwischen stets und überall entlarvt. Die Klappbrille antwortete nach einigem Überlegen auf meine Frage »Wie finden Sie eigentlich Ausländer?« schließlich mit den magischen Worten: »Ich habe nichts gegen Ausländer, aber …«. Dieses »aber«, das deutscher nicht sein kann.

      Die Erläuterung nach dem »aber« fiel weit ausführlicher und detaillierter aus als die Einleitung. Es schien ihm ein langgehegter Wunsch gewesen zu sein, diese Gedanken mit jemandem zu teilen. Grundsätzlich machte er Abstufungen: Es gab die schlechten Ausländer. Die sprachen laut, behandelten ihre Frauen nicht gut und benahmen sich generell nicht so, wie er es für richtig hielt. Woher er wisse, dass »die« ihre Frauen schlecht behandelten, konnte er nicht sagen, es sei ein allseits bekannter Fakt. Er beschrieb damit in klassischer Weise das Stereotyp des gemeinen Muslims, ein fiktives Bild, das sich 2015 schon längst durch ständiges Wiederholen zu einer gefühlten Realität entwickelt hatte, ganz ähnlich dem raffgierigen Juden der Nazipropaganda mit langer Nase und den Taschen voller Gold.

      Wen die Klappbrille hingegen gut fand, das waren die Ostasiaten, »die Fidschis«, wie er sagte, ein abwertender Begriff für vietnamesische Vertragsarbeiter in der DDR, dem Pendant zum westdeutschen Gastarbeiter. Die seien »leise, sie stehen still und sie sprechen nur, wenn man sie anspricht.« Damit ich es auch wirklich verstand, machte er es mir vor. Er malte einen Tisch in die Luft, stellte sich fiktiv dahinter, den Kopf gesenkt, den Körper leicht gebeugt, die Hände am Körper, der Blick demütig, darauf wartend, von der Klappbrille angesprochen zu werden. »Das waren Dienstleister. Bis heute.« Gegen diese Ausländer habe er nichts, ganz im Gegenteil. Aber gegen die anderen schon. Die möge er nicht. Leise, demütig und unsichtbar müsse man sein.

      Was er damit meinte, lag auf der Hand. Solange man »niedere« Tätigkeiten ausübte, sich nicht in den gesellschaftlichen und politischen Diskus einmischte und dankbar war mit dem, was einem zugeteilt wurde, war man vielleicht nicht gerade willkommen, wurde aber zumindest toleriert. Was die Klappbrille wollte, waren klassische Fabrikarbeiter, Putzkräfte und Taxifahrer, aber bitte keine aufmüpfigen Journalisten, die das Land schlechtredeten und auch noch von »seinen« Rundfunkbeiträgen bezahlt würden. Gäste müssen sich benehmen, und wer Gast ist und wer nicht, das entscheidet die Klappbrille selbst und nicht das Gesetz. Wer in dieses Land kommt, hat sich anzupassen. Dabei reicht es nicht, die Sprache zu lernen, die Gesetze zu befolgen, seine Steuern zu zahlen, nein, man muss die Demut vor dem Gastgeber nicht nur empfinden, sondern auch aktiv zeigen.

      Da sind wir wieder am Anfang: Ausländer, ja bitte! Aber nach unseren Regeln. Das aber kann und darf nicht sein. Das ist weder das Deutschland, das ich kenne, noch das Deutschland, in dem ich leben will. Dieses Deutschland ist nicht erstrebenswert, es ist nicht das Deutschland der Einigkeit, weil Einigkeit alle umschließt. Solch ein Deutschland wäre kein Rechtsstaat, weil das Recht für alle gleichermaßen gelten muss. Und es wäre auch nicht das Deutschland der Freiheit, denn Freiheit ist immer die Freiheit des Andersdenkenden. Wer kann schon glaubhaft von sich behaupten, Deutschland retten zu wollen, wenn er dafür Einigkeit und Recht und Freiheit abschaffen will?

      Ich fragte die Passanten in Grevesmühlen damals auch danach, was sie denn wählten. Bei der Fülle an rassistischen Ressentiments gegenüber Migranten konnten sie alle ja nur NPD oder AfD wählen, dachte ich. Aber weit gefehlt. Von der Linken über SPD bis zur CDU wurden alle Parteien genannt. Die Gemeinsamkeit dieser Menschen war damals nicht die Parteizugehörigkeit, es war die Ablehnung von Migranten. Heute ist die gemeinsame Parteizugehörigkeit hinzugekommen, diese Menschen haben in der AfD eine politische Heimat gefunden.

      ***

      Es war im Herbst 2019, als Hiobsbotschaften von den Landtagswahlen in Sachsen, Brandenburg und Thüringen salvenartig durch Presse und soziale Medien schossen. Angst und Schrecken: Würde die AfD über 20 % der Stimmen holen? Stärkste Kraft werden? Zweitstärkste Kraft? Was würde dann passieren? Dabei wird oft vergessen, dass die AfD bereits 2016 zweimal deutlich zweitstärkste Kraft wurde: in Mecklenburg-Vorpommern mit 20,8 % und in Sachsen-Anhalt mit 24,3 %. So neu ist die Entwicklung also nicht, von der alle Parteien so überrascht scheinen. Sie haben es auch drei Jahre nach diesen beiden Wahlen versäumt, irgendein Gegenmittel zu finden. Sie haben es nicht vermocht, diese Menschen, die ich damals auf der Straße befragte und die sich damals noch querbeet durch das demokratische Parteienspektrum wählten, wieder einzufangen. Vielleicht, weil sie nicht einzufangen waren, aber eher doch, weil man dachte, es würde schon irgendwie gutgehen.


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