Deutschland schafft mich. Michel Abdollahi
meine erste Parallelgesellschaft rutschte ich gleich nach meiner Ankunft aus dem Iran. Der Erste Golfkrieg dauerte da schon mehr als sechs Jahre und mit meinen fünf Jahren stand ich kurz davor, keine Ausreiseerlaubnis mehr zu erhalten. Es war ja Krieg, wie lange noch, wusste keiner, und da brauchte man die Männer zu Hause. Also beschlossen meine Eltern, ihr Kind kurz nach seinem fünften Geburtstag mit der Oma nach Deutschland zu schicken, um es vor einem (un)gewissen Schicksal zu bewahren. Wenn ich heute öffentlich von dieser Zeit erzähle, sei es in Talkshows oder Interviews, erlebe ich häufig eine große Betroffenheit. Einen Flüchtling verbindet man in diesen Zeiten mit ertrinkenden Menschen auf dem Mittelmeer, tausende Kilometer langen Fußmärschen über die Balkanroute oder völlig überfüllten Auffanglagern mit Zäunen und Wachschutz. Ich hingegen flog recht komfortabel Linie mit einer damals hochmodernen Boeing 747-SP, die der Schah eigentlich für die Transatlantikflüge der Iran Air geordert hatte, um Nonstop nach New York fliegen zu können. Es gab hervorragendes Essen und eine liebevolle Oma neben mir, die allerdings bei jeder späteren Rückreise einen roten Stempel in ihren Pass bekam, der verriet, dass sie ein männliches Kind zu Kriegszeiten außer Landes geschafft und nicht zurückgebracht hatte. Wir lebten fortan gemeinsam in Hamburg, bis meine Eltern irgendwann nachkamen.
Welche Nachteile es hatte, die Sprache nicht zu sprechen und auch niemanden zu kennen, der sie sprach, zeigte sich schnell. Ich wurde kurz nach meiner Ankunft eingeschult. Was man da in der Grundschule Heidacker im beschaulichen Hamburg-Eidelstedt von mir wollte, verstand ich nicht, genauso wenig wie die mitgereiste Familie wusste, was sie fernab vom trubeligen Teheran in diesem verschlafenen Vorort den ganzen Tag machen sollte. Grundschüler Michel, Klasse 1b, stellte sich in der Milchpause um 9.30 Uhr wie alle anderen Kinder brav in eine Schlange und zeigte dann vor der Milchmutter überzeugend auf jeweils das, was er haben wollte. Alle anderen machten es genauso, und um das nachzumachen, brauchte es keine Sprache. Die kleinen quadratischen Kartons mit dem dazugehörigen Strohhalm waren magisch. 15 Pfennig für die Milch, 20 Pfennig für den Kakao oder die Vanillemilch, 30 Pfennig für den Trinkjoghurt und 50 Pfennig für etwas Undefinierbares in Kackbraun, was sich Jahre später als Nusspudding herausstellen sollte.
Ich zeigte stets auf die gelbe Vanillemilch, die wir bei Aldi mal versehentlich gekauft hatten, weil Gelb meine Lieblingsfarbe war. Niemand aus der Familie konnte mit dem sonderbar süßlich-gelben Getränk, mit der für damalige Iraner völlig fremden und absonderlich schmeckenden Vanille, etwas anfangen. Ich mochte das süße Zeug, aber ich bekam es nicht. Jeden Morgen um 9.30 Uhr stellte ich mich mit allen Kindern an, zeigte auf die Vanillemilch und bekam sie nicht. Die Milchmütter sagten zwar etwas zu mir, aber ich verstand sie nicht. Ich nickte, zeigte wieder auf den gelben Karton und wurde erneut abgewiesen.
Zu Hause wurde dieses mir völlig unverständliche Erlebnis nicht wirklich ernst genommen. Niemand verstand so richtig, worum es überhaupt ging. Wie sollte man überhaupt ohne Sprachkenntnisse herausfinden, warum alle Kinder bekamen, was sie wollten, nur ich nicht? Wie sollte man danach fragen, was es mit diesem komischen Nusspudding und dem kalten Hagebuttentee auf sich hatte, von dem ich Alpträume bekam, den ich aber jeden Tag trinken sollte? Vielleicht mochte man mich nicht, weil ich anders aussah? Vielleicht wurden die Deutschen anders behandelt als wir »Gäste«? Vielleicht machte ich auch etwas falsch oder dachte mir die Geschichten einfach nur aus, damit ich Aufmerksamkeit bekam, weil meine Eltern nicht da waren, man wusste es nicht. Es gab viele Theorien, aber niemanden, der die Wahrheit herausfinden wollte und konnte. Ich bekam dafür morgens Toastbrot mit Nutella mit auf den Weg, denn das kannten wir und mochten wir, und vor allem konnte ich es ab und zu gegen eine Tüte Vanillemilch mit meinen Mitschülern tauschen. Bis irgendwann meine Eltern die ersehnte Ausreisegenehmigung erhielten und dem Spuk ein Ende setzten.
Während ihnen alle aufgeregt von den Ereignissen an der Schule erzählten, von der gelben Milch, dem braunen Pudding, dem kalten Tee und von diesem einen sehr sonderbaren Ereignis, das den kleinen Michel und die ganze Familie sehr traumatisiert hatte, diesem einen Morgen im März, als es draußen neblig war und der Boden gefroren und das Kind mittags weinend wieder nach Hause kam, weil man es in einen Wald geschleppt hatte, um dort Dinge zu suchen, dämmerte es meiner Mutter, dass hier sehr viele Mutmaßungen, aber kaum Fakten vorhanden waren.
Es war nämlich so, dass ich an einem Märzmorgen bei Dunkelheit gezwungen wurde, mit den anderen Kindern in einen Wald zu gehen, der sich später als das Niendorfer Gehege herausstellen sollte. Lange bevor Till Schweiger dort sein Unwesen trieb, besuchte ich dieses Kleinod der Natur am Rande von Hamburg zusammen mit Dutzenden aufgeregten Kindern, die selbstverständlich darauf vorbereitet waren und ausgestattet mit regenfester Allzweckwäsche, Gummistiefeln, Friesennerz und allerlei anderer Funktionskleidung in den Wald stürmten. Ich hingegen war angezogen wie auf dem Weg zu meiner eigenen Hochzeit, mit Hemd und Fliege. Auf der Einladung hatte »Ausflug« gestanden, das wurde zu Hause im Wörterbuch nachgeschlagen und ich dann so angezogen, wie es im Iran Sitte war, wenn Kinder auf einen »Ausflug« gingen. Wahrscheinlich bestand im Iran bei Ausflügen immer die Möglichkeit, dass man den Kaiser traf oder um die Hand angehalten wurde, ich weiß es nicht. Hemd und Fliege jedenfalls schienen verbindlich zu sein. Während die Funktionskleidung der anderen Kinder nicht ganz so elegant daherkam, war sie doch zumindest praktisch, derweil ich mich ratlos, frierend, deplatziert, aber elegant angezogen wieder in den warmen Bus zurücksehnte.
Meine damalige Erzieherin Strocki versuchte mir zu erklären, was hier jetzt passieren würde. Das wiederum machte mir nur noch größere Angst. Ich sollte hier hinter den Bäumen nach Eiern suchen, nach bunten Eiern. Ich mochte keine Eier. Generell machen mir seit diesem Tag ovale Dinge Angst. Zwar konnte ich die Sprache noch nicht wirklich sprechen, doch an meinem Gesichtsausdruck ließ sich anscheinend deutlich die Frage ablesen, warum ich an einem dunklen Märzmorgen in einem nassen Wald nach Eiern suchen sollte. Warum die auch noch bunt waren, war da erst einmal irrelevant. »Der Hase hat sie gebracht«, erklärte Strocki. Der Hase, so so. Bunte Eier. Strocki machte einen Hasen nach, der mit langen Ohren durch das Niendorfer Gehege sprang.
Es ist sehr unterhaltsam, wenn Menschen versuchen, scheinbar allgemeingültige Gesten und Laute in anderen Sprachen anzuwenden. Das beliebteste Fettnäpfchen ist der ausgestreckte Daumen, der unter anderem im Iran das Pendant zu unserem Mittelfinger darstellt. Genauso wie das »Mäh Mäh« des Schafs bei uns ein »Bah Bah« ist, das »Wuff Wuff« des Hundes »Waq Waq«, das »Oink Oink« des Schweins gar kein Gegenstück hat und das »Kikeriki« des Hahns mit einem in meinen Ohren viel treffenderen »Ghoughoulighoughou« transkribiert wird, war auch der auf den Füßen mit den Händen hinter den Ohren springende Hase für mich schwierig zu erkennen, obwohl Strocki für diese Performance rückblickend einen Toni verdient hätte. Da standen wir dann im Niendorfer Gehege, beide etwas peinlich berührt. Ich glaube, durch meinen skeptischen Blick wurde auch Strocki klar, wie unglaubwürdig diese Geschichte war. Ein Hase, der bunte Eier in einem Wald versteckt haben soll? Hier stimmte etwas nicht.
Da die anderen Kinder bereits aufgedreht und aufgeregt Dinge fanden, wollte mir Strocki eine Freude machen, ließ mich hinter einen Baum schauen und warf mir – Überraschung! – etwas vor die Füße. Es war etwas Undefinierbares in Hasenform, dazu noch braun, der Farbe, mit der ich seit dem Nusspudding nichts Gutes verband. Ich erschrak mich zu Tode und fing an zu weinen. Angeblich sei der Hase essbar, wurde ich belehrt. Man brach mir ein Stück ab und reichte es mir. »Probier doch mal, das ist lecker!« Ich wollte ihn nicht essen. Er roch komisch.
Stunden später, verstört und verschnupft, brachte man mich samt Hasentrophäe nach Hause, wo ich der staunenden Familie die Geschichte von diesem sonderbaren Vormittag im Wald erzählte, während der braune Hase ehrfürchtig herumgereicht und beschnuppert wurde. Zur Sicherheit stellte ihn meine Oma in den Gefrierschrank, wie sie es mit allem tat, was sie nicht einordnen konnte, sodass wir ihn passend zur Geschichte meinen Eltern, die beide in den Sechzigern und Siebzigern in Deutschland studiert hatten und deshalb fließend Deutsch sprachen, präsentieren konnten. Das Eiergesuche entpuppte sich als Ostern, der Hase als Lebkuchen und die Milch bekam ich nicht, weil ich montags nie die zwei Mark für Getränkemarken dabeihatte. Nach kurzer Zeit hatten sich alle Probleme in Luft aufgelöst, ich trank endlich fleißig Vanillemilch und erkannte schnell, dass ich davon Bauchschmerzen bekam, weshalb ich auf den Nusspudding umsattelte. Meine Oma schwor bis zu ihrem Tod auf Lebkuchenherzen mit Füllung und machte über die Jahre im Iran sämtliche