Deutschland schafft mich. Michel Abdollahi
passiert, manchmal so viel, dass man den Überblick zu verlieren droht. Ich habe diese Entwicklungen deshalb in diesem Buch zusammengefasst, damit sich erkennen lässt, welcher Schaden bereits angerichtet wurde.
75 Jahre nach dem Terror der Nationalsozialisten ist der Schutz von jüdischen Einrichtungen in Deutschland immer noch nötig. Muslimische Einrichtungen werden bald ebenso gefährdet sein, wenn sie es nicht schon längst sind. Die Neue Rechte richtet sich gegen alle, die nicht in ihr Weltbild passen. Diese Entwicklung betrifft sehr viele Menschen in diesem Land. Sie ist keine Frage des Glaubens. Wir dürfen die Augen nicht weiter davor verschließen.
Aus dem Bustan
Ein Wölfchen wuchs auf bei einem Mann,
als es groß war, fiel es ihn an.
Als die Seite nun offen und der Tod im Angesicht,
eine weise Stimme sich über ihn beugt und spricht:
»Wusstest du nicht, dass dich einst wird verwunden,
der Feind, dem du in Liebe warst verbunden?«
Saadi
Das Gedicht des persischen Lyrikers Saadi folgt der Übersetzung von Purandocht Pirayech, mit Änderungen des Autors: Gol-o-Bolbol. Ausgewählte Gedichte aus 12 Jahrhunderten übertragen aus dem Persischen. Yassavoli Publications, Teheran 1999, S. 35.
1986–2014
Die alte Ordnung
Verständigung
Einem Kind kann man nicht verständlich machen, warum sich bestimmte Menschen nicht mögen, nur weil sie anders aussehen. Kinder verstehen das nicht. Kinder kennen keinen Rassismus, sie erlernen ihn erst im Laufe ihres Lebens.
An meiner Grundschule war ich neben einem anderen Jungen, den alle »Schokolade« riefen, weil er so dunkel war, der einzige Ausländer. Ich nannte ihn auch so, ich hatte keine Ahnung, dass es falsch war. Kinder eben, so sind sie, ungezwungen und ehrlich. Nein, eben nicht: Kinder sind ahnungslos und auf sich selbst gestellt. Natürlich hätte uns ein Lehrer aufklären müssen, aber das geschah nicht. Sicher würde eine frühe Sensibilisierung die Grundlage dafür schaffen, sich im Laufe des Lebens immer wieder mit diesem Thema auseinanderzusetzen, damit aus einem vermeintlichen Scherz später keine echte Fremdenfeindlichkeit wird. Hier ist noch immer einiges zu tun.
Anfang der neunziger Jahre gesellte sich mit Olga das erste Kind aus der sich im Zerfall befindenden Sowjetunion dazu. Damals war ich in der dritten Klasse und konnte mittlerweile schon ganz gut Deutsch. Olga war Armenierin oder Aserbaidschanerin, ich erinnere mich nicht mehr so genau, auf jeden Fall aus einer ehemaligen Sowjetrepublik, die eine Grenze zum Iran hatte. Das Mädchen mit dem runden Gesicht und den herzlichen Eltern war nun die Neue in der Klasse und wurde deshalb natürlich von allen etwas kritischer beäugt, wie das eben so ist, wenn jemand zu einer bestehenden Gruppe dazu stößt. Von Begriffen wie Migrationshintergrund und Integration waren wir damals noch sehr weit weg.
Olga wurde in die Klasse gesetzt und alle wunderten sich, warum das zehnjährige Mädchen einen nicht verstand, wenn man es ansprach. Unverhofft wurde aus mir, dem einst selbst Unverstandenen, die Brücke zwischen Olga und Deutschland. Als Olga nämlich von der Lehrerin auf Deutsch angesprochen wurde, machte sie mehrere Anläufe, sich verständlich zu machen. Erst auf einer Sprache, die ich nicht verstand, dann aber plötzlich auf Persisch. Olga sprach tatsächlich Persisch! Das führte zu einer ähnlichen Ratlosigkeit zwischen allen Parteien wie drei Jahre zuvor, als ich neu in der Klasse saß, nur diesmal mit dem Unterschied, dass es jemanden gab, der ihre Sprache sprach. Also meldete ich mich und erklärte meiner Lehrerin, dass ich Olga verstand. Allgemeines Staunen. »Soll ich übersetzen?«, fragte ich. Noch größeres Staunen. Was sollte das heißen, »übersetzen«? Für viele Kinder war das noch ein Fremdwort, ich jedoch hatte das Wort besonders schnell gelernt und auch Olga kannte es. Bei uns zu Hause musste ständig übersetzt werden. Also übersetzte ich, und ich glaube, die meisten meiner Mitschüler hörten mich das erste Mal in meiner Muttersprache sprechen, fleißig zwischen Deutsch und Persisch hin und her wechselnd, sodass Olga dem Unterricht folgen konnte.
Irgendwann war Olga plötzlich weg. Sie kam nicht mehr zur Schule. Was passiert war, wussten wir nicht. Es erklärte uns auch niemand. Rückblickend denke ich, dass die Familie entweder eine größere Wohnung bekommen hatte und umgezogen war oder abgeschoben wurde. Ich hoffe Ersteres. Auch wenn es nur kurz war, es war ein schönes Gefühl, jemandem eine Stimme zu geben. Die Macht der Sprache wurde mir da zum ersten Mal so richtig bewusst. Olga hatte nicht meinen Weg gehen müssen und das machte mich froh.
Nun hatte ich das Glück, von liebevollen Eltern großgezogen zu werden, die sich um ihr Kind kümmern konnten, weil Zeit und Geld da waren. Wobei der größte Luxus sicher ihre Sprachkenntnisse waren. Ich denke mittlerweile nicht mehr, dass die Sprache der einzige Schlüssel zum Erfolg ist. Diese These hat sich schlicht nicht bewahrheitet, sonst wären viele Migranten der zweiten, dritten, vierten und fünften Generation wesentlich besser integriert. Aber die Sprache ist ein wichtiger Faktor beim langen Prozess der Integration. Den einen Schlüssel zu einer gelungenen Integration gibt es nicht. Integration ist leider oft Einzelfallhilfe; dabei gibt es sicher Faktoren, die, wenn nicht allgemeingültig, zumindest doch gute Ergebnisse liefern. Ich erinnere mich an eine Podiumsdiskussion, an der ich zusammen mit jungen geflüchteten Syrern um die zwanzig aus Aleppo teilnahm. Ich sprach damals lange über die Bedeutung der Sprache für eine gelungene Integration, bis mir einer der Teilnehmer in fließendem Englisch entgegnete, er wolle die Sprache gar nicht lernen, weil er Deutsch als nicht wichtig erachte. Es könne eh jeder Englisch. Ich musste an Bundesgesundheitsminister Jens Spahn denken, der sich in der Zeit über »Hipster-Parallelgesellschaften« echauffiert hatte, in denen nur noch Englisch gesprochen würde.[21] Englisch in deutschen Großstädten? Für Jens Spahn »das augenfällige Symptom einer bedauerlichen kulturellen Gleichschaltung«. Wer Englisch spreche, sei nicht etwa cool und international, sondern er betreibe damit »provinzielle Selbstverzwergung«. Selbstverzwergung, Herr Spahn, welch Gourmet-Wort der deutschen Sprache. Diese »elitären Hipster« seien eine »Zumutung«. Neulich sei er in einem Berliner Restaurant vom Kellner auf Englisch angesprochen worden. Also, in Paris sei ihm das nicht passiert. Was uns Herr Spahn damit eigentlich sagen wollte, kann ich bis heute nicht ganz verstehen. Außer purem Populismus ist in diesen Aussagen nicht viel zu erkennen.
Als ich den Syrer sagen hörte, dass er mit Englisch hier gut klarkommen würde, war ich auf der einen Seite ganz froh, dass wir uns in Deutschland von you can say you to me verabschiedet und nun zumindest in Berlin auch im Englischen die nose in front haben. Diese Internationalisierung hat sicher in den vergangenen Jahrzehnten zu einer deutlichen Weltoffenheit in Deutschland geführt. Aber so gar kein Deutsch lernen zu wollen? Ich wollte auch nicht ständig in Deutschland auf einer anderen Sprache angesprochen werden, dafür hatte ich mir erstens viel zu viel Mühe gegeben, diese Sprache zu erlernen, und zum anderen bin ich so gut integriert, dass ich es als meine Pflicht ansah, die deutsche Sprache in Aleppo zu verteidigen. Dennoch hatte ich kein wirkliches Argument gegen den jungen Mann in der Hand, um mit der These »Die Sprache ist der Schlüssel zu einer gelungenen Integration« zu punkten. Denn natürlich wusste auch ich, dass es viele Migranten in diesem Land gibt, die Deutsch längst als Muttersprache sprechen und von Integration trotzdem noch sehr weit weg sind. Was ich aber anführen konnte, war, dass mangelnde Sprachkenntnis oft zu Angst führt, weil immer die Sorge besteht, im Gespräch grobe Fehler zu machen. Diese Angst führt oft zu Frustration, weil man sich erst gar nicht traut, das, was man sagen will, zu sagen. Letztendlich entsteht daraus entweder eine partielle oder eine grundsätzliche Fehlkommunikation, die schließlich in einer beidseitig wahrgenommenen Ausgrenzung gipfelt, weil man sich nicht richtig verständigen kann. Dieses Problem besteht insbesondere da, wo es auf die Feinheiten der Sprache ankommt, bei Themen wie Politik, Gesellschaft und Religion. So entstehen Parallelgesellschaften, die wiederum denen Angst machen, die nicht verstehen, warum solche gesellschaftlichen Gebilde entstehen, und am Ende haben alle Angst voreinander. Was es braucht, ist eine richtige Mischung aus Sprachkenntnissen und Kümmern.