Aus der Deckung. David Lopez
ausgestreckten Armen beginne ich die Scheibenwischer-Übung; dabei gehen die Hände in den Nacken und wieder zurück. Selbst wenn ich nicht in Form bin, schaffe ich sie damit alle. Wenn es bei mir zu brennen anfängt, müssen sie Höllenqualen ausstehen. Noch immer mit ausgebreiteten Armen stoppe ich und lasse die Arme oben. Man muss die Zähne zusammenbeißen. Ich kündige dreißig Sekunden an, für manche macht es das erträglich, andere sehen das Ende nicht. Fünfzehn Sekunden später verkünde ich noch einmal dreißig Sekunden, und Sucré vernichtet mich mit einem Lächeln. Zur Steigerung lasse ich die Hände noch kleine Kreise beschreiben. Farid konzentriert sich, der kleine Victor gibt auf, bevor die Übung zu Ende ist, Cyril ist hochrot, und Virgil tut so, als mache ihm das nichts aus.
Nach einer halben Drehung auf dem vorderen Bein stoße ich mit meiner Ferse gegen Cyrils. Er lächelt mir zu und nutzt die Rempelei, um einige Sekunden Atem zu schöpfen. Cyril ist schon knallrot, aber ich weiß, das ist sein Ding, den Schmerz aushalten. Brauchst du die Place de la Concorde, oder was, fragt er, und ich erwidere grinsend, dass sich diese Art von Kollisionen vermeiden ließe, wenn er nicht so ein Schrank wäre. Cyril ist Maurer. Folglich hat er Maurerhände. Und von diesen Händen möchte ich keinen Treffer kassieren. Er ist Superschwergewichtler, ein Fass von mehr als hundert Litern. Und er gehört zu jenem Typ Boxer, der das wenige, was er kann, sehr gut beherrscht. Er ist ein Jabber und nutzt seine Größe, um uns auf Distanz zu halten. Ich habe den Rhythmus seiner Jabs kapiert, ich kann ihn daher jagen und kontern. Er ist größer und stärker, aber ich bin zu schnell für ihn. Trotzdem, ein Spaziergang ist es nie. Sein Schlag ist ein Hammer, tut richtig weh. Manchmal ziehe ich ihn auf und sage, nur weil er eine Speckschwarte sei, habe er so viel Kraft, und er gibt zurück, ich hätte nur Angst vor ihm, sonst würde ich seine Einladungen zum Kampf nicht so oft ausschlagen. Und das stimmt.
Weiter geht es im Training mit Übungen zur Beweglichkeit des Oberkörpers. Das ist die Voraussetzung für gelungene Ausweichmanöver. Beine gespreizt, die Fersen gegen den Boden gestemmt und die Knie leicht gebeugt, kreisen wir mit dem Kopf und drehen den Oberkörper aus dem Becken heraus. Die Übung wechselt mit einer seitlichen Version, bei der man sich gerade hält und mit der Hand das Knie berührt. Dann steigert man das Tempo. Ich bin gut darin, ich höre erst auf, wenn ich merke, dass die anderen in Schwierigkeiten kommen. Trotzdem würde ich gerne einmal sehen, was passieren würde, wenn man die Übung so lange fortsetzte, bis man vor Schmerz nicht mehr kann. Wenngleich ich hier nicht zu denen gehöre, die besonders wild darauf sind zu leiden. Virgil zum Beispiel ist ein Tier, ein Monster an Ausdauer. Jetzt bin ich an meiner Grenze. Deshalb höre ich mit den Leibesübungen auf, bevor es zu ziehen beginnt.
Ich gehe auf und ab im Trainingsraum und atme tief durch. Mein weißes Achselshirt ist bis zum Zwerchfell grau vom Schweiß. Mein Ziel ist immer, dass kein Quadratzentimeter Stoff trocken bleibt. Manchmal wringen wir zum Scherz unsere Trainingsshirts aus und vergleichen, welches am meisten trieft. Farid kommt zu mir und beugt sich zu meinem Ohr. He, Jonas, ich hab gerade guten Stoff. Ich sage, Alter, ist aber nicht der richtige Zeitpunkt, und er, ’tschuldigung. Drei Sekunden vergehen, dann frage ich, was das für ein Stoff sei, und er meint, ich geb dir nachher ein Piece zum Probieren. Und ich, nur zu.
Farid ist vierundvierzig, sieht aus wie dreiunddreißig und führt sich auf, als wäre er siebzehn. Er schmiedet immer Pläne. Ich habe gehört, er sei zu seiner Zeit ein verdammtes Schlitzohr gewesen. Ich weiß nichts über ihn, aber ich weiß, dass er ein verfickter Linkshänder ist. Linkshänder sind megaanstrengend zu boxen, weil Rechtsausleger. Das verwirrt einen. Sie dagegen sind es gewohnt. In einem Boxclub kommt ein Linkshänder auf zehn Rechtshänder. Wahrscheinlich nervt es sie sogar selbst, wenn sie an einen anderen Linkshänder geraten. Farid ist nicht sehr groß, er boxt in gekrümmter Haltung, die Hände hoch vor dem Gesicht, mit kleinen Schritten. Wenn er angreift, ist es, als käme ein Einsiedlerkrebs aus seiner Muschel. Ich halte ihn auf Distanz, gelingt es mir, macht ihn das kirre. Doch wenn er durchkommt, schlägt er kurz und heftig. Er und ich, wir geben es uns richtig. Es fängt immer harmlos an, beinahe so, als wollten wir uns mit leichten Schlägen auf die Schulter aufwärmen. Er greift nur ab und zu an, deshalb boxe ich geruhsam gegen ihn. Doch er will, dass ich sofort Druck mache. Deshalb kassiert er früher oder später immer einen Treffer. Oft sage ich dann ’tschuldigung, obwohl ich das eigentlich nicht tun sollte. Sich bei einem Boxer für einen Treffer zu entschuldigen ist fast so, als würde man ihm absprechen, einer zu sein. Doch er stört sich nicht daran. Er sagt, der saß. Bei mir muss keiner sorry sagen, wenn er einen Treffer landet. Ich sage nicht, der saß. Ich sage vielmehr, okay, das reicht, jetzt pass mal auf, los, boxe. Einen Treffer zu kassieren tut nicht weh. Nicht so sehr. Mit dem großen Zeh an ein Tischbein zu stoßen, das ist schmerzhaft. Einen Haken gegen die Stirn, der Kopf wackelt, man verliert für den Bruchteil einer Sekunde die Orientierung, und dann ist man wieder in Kampfposition. Es spielt sich im Kopf ab, nicht am Kopf.
Monsieur Pierrot ist zur Rundenuhr gegangen, um sie anzustellen. Sie hängt an der Wand und klingelt abwechselnd einmal nach drei, dann nach einer Minute. Wir trainieren 3-Minuten-Runden und machen eine Minute Pause. Alle schnappen sich ein Springseil und verteilen sich im Raum. Ich stelle mich vor den größten Spiegel. Aber ich springe nicht besser, wenn ich mir dabei zuschaue. Ich lausche auf das Klatschen der Seile, wenn sie auf den Boden schlagen, was mir die jeweilige Schlagzahl verrät. Im Spiegel sehe ich dem kleinen Victor beim Seilhüpfen zu. Seine Zehenspitzen scheinen den Boden nur leicht anzutippen, wenn er über das Seil gesprungen ist. Mit Unterstützung der Schultern schwingt er das Seil aus den Handgelenken heraus völlig gleichmäßig. Er ist locker. Victor ist unser Kleinod. Er ist vierzehn, so alt wie ich, als ich mit dem Boxen angefangen habe. Er ist begabt, aber ein wenig zerbrechlich. Ich betreue ihn, wenn Monsieur Pierrot mit den anderen beschäftigt ist. Wenn ich ihn trainiere, weise ich ihn nur auf Fehler hin, sodass er dazu tendiert zu glauben, er mache alles falsch. Ich schone ihn nicht. Denn wenn man sich ausruht auf dem, was man gelernt hat, kann man die Sache vergessen. Er soll nicht meinem Vorbild folgen. Manchmal tue ich es nur, um zu sehen, wie er reagiert, ob er sich entrüstet, doch so weit kommt es nie. Dann schaut mich der Alte mit der Geringschätzung eines Mannes an, der sein Leben lang Boxer ausgebildet hat, und statt mir zu widersprechen, haut er mir eine aufs Kinn. Oft weiche ich aus, aber nicht immer. Er ist noch auf Zack, der Alte. Ich boxe nie gegen Victor, der Unterschied ist zu groß. Dagegen bittet mich Monsieur Pierrot manchmal, sein Sparringpartner zu sein. Die Aufgabe besteht dann mehr oder weniger darin, Victor auf mich einschlagen zu lassen. Dadurch soll er lernen, sich im Ring zu orientieren, sich richtig zu bewegen und Angriffe zu starten. Ich gebe ihm nur meinen Jab und vielleicht eine Gerade pro Runde. Ich mache das gerne, denn ich übe dabei die Beinarbeit, die Ausweichbewegungen. Sein leichtes Grinsen, wenn ihm ein Treffer gelingt, gefällt mir hingegen weniger. Es nervt mich, dass er sich einbilden könnte, er hätte mich wirklich getroffen, während ich ihm eigentlich freie Bahn gelassen habe. In diesem Fall gebe ich ihm eins auf den Helm, nicht mit voller Kraft, aber kurz und knackig, autoritär, das kapiert er dann. Damit er nicht anfängt, sich für stark zu halten. Wir trainieren, um weniger schwach zu sein. Was die Kraft angeht, so wird es immer einen geben, der uns in die Schranken weist. Häufig gehen Victor seine Mittel aus, und danach wagt er nicht mehr anzugreifen. Das ist kontraproduktiv, aber mir macht es die Sache leichter.
Monsieur Pierrot ist in die Pratzen geschlüpft, jene flachen Handschuhe, gegen die der Boxer mit voller Kraft schlägt, um Schlagfolgen und Kombinationen zu trainieren. Er ruft Victor, der sein Springseil fallen lässt und seine Boxhandschuhe anzieht. Während ich in gleichmäßigem Rhythmus und immer auf den Zehenspitzen weiterhüpfe, behalte ich die Szene im Blick. Ich sehe mich wieder an seiner Stelle, wie ich Monsieur Pierrot die Anweisungen von den Lippen saugte, der damals zwar erheblich dynamischer, aber ebenso kurz angebunden war. Die Rechte nach deiner Linken, nicht mit der Schulter nach vorn kommen! Streck dich, zum Teufel! Der kleine Victor gehorcht, und das so fleißig, dass seine Bewegungen schematisch werden, was Monsieur Pierrot ihm sofort unter die Nase reibt. Du bist doch kein Roboter, Victor! Boxe flüssiger, geschmeidiger, flieg! Bäng, bäng, bäng! Victor hat alle Mühe, den Anforderungen des Alten zu genügen. Er setzt sich unter Druck, der Kleine, das ist mir auch so gegangen. Er fängt sich eine leichte Ohrfeige. Schade, dass er nicht versteht, dass sie liebevoll gemeint ist.
Es klingelt. Sucré und Farid sind Typen, die sich zwischen den Runden unterhalten. Ich konzentriere mich lieber auf meine Atmung, sie geht schon kurz. Ich kann höchstens noch ja