Die Dirigentin. Maria Peters
Etui ein und schwöre, dass ich es nach Gebrauch wieder zurückgeben werde, ich bin doch kein Dieb.
Leise betrete ich das Schlafzimmer meiner Eltern. Ich weiß, wo ich suchen muss. Unten im großen Schrank liegen die Koffer, mit den Aufdrucken der Holland-America Line. In ihnen bewahrt meine Mutter ihre alte Kleidung und die Schuhe auf, die sie trug, als sie selbst noch jung war. Ich nehme ihr festliches Kleid heraus. Es ist aus einem glänzenden Stoff gefertigt, mit Tüllbesatz. Eine Naht hat sich geöffnet, das habe ich nicht erwartet. Dann angele ich auch ihr einziges Paar hochhackiger Schuhe heraus. Sie sehen aus wie neu. Ich wette, meine Mutter hat sie noch nie angehabt.
Am nächsten Tag wird meine Mutter unterwegs sein. Ich habe vergessen, was sie alles vorhat; ich merke mir immer nur, wann sie zurückkommt.
Ich stehe in meinem Zimmer und mache, was ich so häufig tue: Ich betrachte all die Dinge, die meinen Traum am Leben halten. Die ausgeschnittenen Fotos meiner beiden Idole hängen über dem Klavier an der Tapete – Willem Mengelberg beim Dirigieren und Albert Schweitzer an der Orgel. Daneben eine Postkarte mit dem Amsterdamer Concertgebouw sowie die Ankündigung eines Auftritts von Albert Schweitzer als Organist in einer niederländischen Kirche. Auch mehrere Zeitungsartikel über sein Krankenhaus im afrikanischen Urwald schmücken die Wand. Es befindet sich in Lambarene, einem Ort am Fluss Ogooué in Gabun, etwas südlich des Äquators.
In der Bibliothek habe ich Schweitzers Buch Zwischen Wasser und Urwald. Erlebnisse und Beobachtungen eines Arztes im Urwalde Äquatorialafrikas gelesen, in dem er beschreibt, wie er aus dem Nichts mitten im Busch ein Krankenhaus errichtet. Er hat eine ganz andere Perspektive auf die afrikanischen Ureinwohner als die Kolonialherren. Diese betrachten ihre schwarzen Mitmenschen allzu schnell als faul, da es – wie sie meinen – unmöglich sei, sie zur Arbeit anzutreiben. Schweitzer wendet diese Betrachtungsweise in ihr Gegenteil, indem er sagt, dass diese Naturmenschen, wie er sie nennt, in Wirklichkeit die einzig freien Menschen seien. Dass sie sich nicht verleiten lassen von unserem westlichen Hetzen und Eilen, sondern erst dann hart arbeiten, wenn sie selbst die Notwendigkeit dazu einsehen – und dann arbeiten sie ausgezeichnet.
In seinem Buch führt er das Beispiel von fünfzehn Schwarzen an, die sechsunddreißig Stunden lang, fast ohne Unterbrechung und ohne zu ermüden, ein Boot stromaufwärts ruderten, um einen todkranken Weißen zum Krankenhaus von Schweitzer zu bringen. Eine Leistung, zu der er einen Weißen nicht in der Lage sieht.
Dass er scheinbar unverrückbare, weitverbreitete Ansichten so auf den Kopf stellen kann, bewundere ich an Schweitzer. Er geht nicht vor des Kaisers neuen Kleidern in die Knie. Er sagt einfach, wie es ist. Deshalb ist er mein Vorbild.
Und die Männer bilden sich ein, ich hätte keine Ahnung.
Noch ein paar Stiche, dann ist die Naht des Kleides wieder perfekt. Ich will gerade die Tür des Schranks schließen, als mein Blick auf die Gasmaske fällt. Ich habe sie in der hintersten Ecke versteckt. Welches Mädchen hebt denn so ein schräges Horrording in seinem Zimmer auf? Aber ich schaffe es nicht, das widerliche Stück wegzuschmeißen. Mein Vater hat es einmal als Schatz aus dem Müll für mich mitgebracht. Ich hatte keinen Schimmer, wofür so ein Ding gut ist, aber er dachte, sie könne vielleicht nützlich sein, wenn ich wieder einmal Zwiebeln schneiden müsse.
»Kannst du was damit anfangen?«, hat er mich gefragt. Ich habe nichts gesagt. Mir war schon klar, was meine Mutter damit anfangen würde. Beim nächsten Mal, als sie mich dazu zwang, Zwiebeln zu schneiden, holte sie das Ding aus meinem Zimmer und versuchte es über meinen Kopf zu stülpen. Ich schnitt halb blind irgendwie auf dem Brett herum. Sie gab keine Ruhe, bis die Maske ordentlich auf meinem Kopf saß. Der Anblick war natürlich bizarr. Das schneidende Lachen meiner Mutter drang durch die Küche. Ausgelacht zu werden fand ich nicht weiter schlimm, daran hatte ich mich längst gewöhnt. Aber das schreckliche Ding war schlimmer als alles andere. Das Ende vom Lied war, dass ich es nie wieder aufsetzte.
Ich stelle mich ans Fenster und schaue nach draußen. Lange Wäscheleinen mit Kleidungsstücken hängen wie Girlanden zwischen den Häuserblöcken, als würde hier ein nie endendes Fest gefeiert. Das Baby der Nachbarn schnappt frische Luft, das heißt, es hängt in einem Netz außen am Fenster. Die Frauen hier haben keine Zeit, mit ihren Kindern im Park spazieren zu gehen. Aber sie wollen natürlich nicht, dass der Nachwuchs an Rachitis erkrankt. So ein Netz kann die Lösung sein.
Das Baby liegt auf dem Bauch in seinem kleinen Gefängnis. Hoffentlich hat es keine Höhenangst. Ich habe es oft durch mein Klavierspiel in den Schlaf gewiegt. Jetzt weint es nicht. Das ist auch gut so, denn heute habe ich keine Zeit. Mit den Zähnen beiße ich den Faden von meiner Näharbeit ab.
Man weiß erst, ob man sich traut, wenn man es auch wirklich tut. Ich hätte mich nicht über mich gewundert, wenn ich beim Portier einfach kehrtgemacht hätte. Aber er hielt mir die Tür auf wie einer Königin, und ich schritt hindurch. Ich dachte an meine Mutter, die auf einem Teppich aus Müll die Treppe hinunterstolzierte. Kopf hoch, das ist das Wichtigste.
Sie sind einiges gewohnt, aber jetzt bekommen sie den Mund gar nicht mehr zu, als ich eintrete. Der Chef der Band, Robin Jones, wirft dem Künstler, der letztes Mal in Frauenkleidern herumlief, heute aber unauffällig als Mann gekleidet ist, einen vielsagenden Blick zu. Sie waren gerade dabei, ein Lied zu proben, und ich habe sie gestört.
»Those educated babies are a bore
I’m gonna say what I said many times before
Oh, the dumber they come, the better I like ’em
’Cause the dumb ones know how to make love«
Das sangen sie im Chor. Ich hatte schon herausgehört, dass kluge Mädchen langweilig sind und dumme besser im Bett. Der Text arbeitet noch in meinem Kopf, während ich versuche, möglichst anmutig zu ihnen hinüberzugehen. Ein wenig so wie die kokette Bewerberin aus dem Büro.
Das funktioniert aber nicht richtig, denn meine Fußgelenke kommen noch nicht mit den hohen Absätzen zurecht. Ich schwanke. Mutters Kleid hängt an mir herunter, und ich fühle mich irgendwie nackt. Das Zeug auf meinem Gesicht klebt und zieht. Vor allem wenn ich ein breites Lächeln aufsetze, um einen guten Eindruck zu machen.
»Was kann ich für dich tun?«, fragt Robin.
»Ich hätte gerne gewusst … Ist der Job noch zu haben?«
Sie schauen mich fragend an. Sie haben keine Ahnung, wer vor ihnen steht.
»Ich habe hier vor kurzem vorgespielt«, helfe ich ihnen auf die Sprünge.
Ich sehe, wie der Groschen fällt.
»Ach, du bist das«, sagt Robin. »Ich habe dich gar nicht erkannt, du siehst so … anders aus.«
»Ich versuche mich anzupassen«, sage ich mit Nachdruck. Ich habe mich ganz schön angestrengt, wie eine Künstlerin auszusehen, die gerade richtig angesagt ist, aber das Problem ist, dass ich noch nie zuvor Make-up benutzt habe. Robin tauscht einen Blick mit seinen Bandkollegen. Er ist sich nicht sicher. Ich muss diesen Job haben, also lege ich noch einmal nach.
»Bitte, bitte nehmt ihr mich auf? Ich werde arbeiten bis zum Umfallen.«
»Also doch verzweifelt«, antwortet Robin.
~ Robin ~
9
Es war nicht zu übersehen, dass Dennis die Augen verdrehte, als ich vorschlug, Willy könne heute Abend probeweise mitspielen. Er schaute mich vielsagend an und flüsterte mir ins Ohr: »Ich bin dagegen.« Ich hätte sie in diesem Augenblick einfach wegschicken können, aber ich dachte: Frauen haben es schwer genug in unserem Metier, und wo sie jetzt schon einmal da ist …
Wenn sie nachher gut ist, bekommt sie den Job. Ich bin der Bandleader, aber die anderen müssen auch zustimmen. Ich habe ihr alle Bandmitglieder vorgestellt, den Schlagzeuger, den Mann am Banjo, den Trompeter und den Klarinettisten. Ich stehe hinter meinem Kontrabass, und Willy sitzt am Klavier.
Die Revuetänzerinnen sind mit ihrem verführerischen Stepptanz