Die Dirigentin. Maria Peters
Gustav Mahler und seine Kompositionen immer berühmter. Seine Musik reflektierte sein Leben.
Der elf Jahre jüngere Willem Mengelberg war ein feuriger Bewunderer von Mahler und lud ihn einige Male nach Amsterdam ein, wo Mahler seine eigenen Symphonien dirigieren durfte. Sie wurden gute Freunde. Mit dem Segen des Meisters entwickelte sich Mengelberg zu einem der bekanntesten Mahler-Interpreten. In Amsterdam führte er mehr als zweihundertmal dessen Werke mit dem berühmten Orchester des Concertgebouw auf. Und heute Abend steht er hier, mit der Philharmonic Society of New York.
Die Beleuchtung des Saals wird heruntergedreht. Der Applaus verstummt. Diese magische Stille kurz vor dem ersten Ton, in der sich alle Konzentration verdichtet. Niemand wagt es, auch nur zu hüsteln.
Das Schlittengeläut erklingt zuerst. Es versetzt mich immer in meine Jugend, als meine Eltern dafür sorgten, dass der Weihnachtsmann mit seinem Schlitten bei uns vorfuhr – allerdings wurde der Schlitten nicht von Rentieren, sondern von sage und schreibe sechs Pferden gezogen. Ich war bereit, alles zu glauben, wenn nur die Glöckchen auf den Rücken der Pferde läuteten. Ich danke Gott dafür, dass Musik mich immer noch so verzaubern kann. Sonst wäre ich verloren. Ich lehne mich zurück. Das Konzert hat angefangen.
Die Symphonie beginnt heiter, als ginge die Sonne im Saal auf. Nach etwa sechzehn Minuten kommt der erste Satz nach einem ausgelassenen Crescendo zur Ruhe. In der weihevollen Stille danach fällt eine Tür mit einem lauten Knall zu.
Gustav Mahler würde sich im Grab umdrehen. Ich glaube nicht, dass jemand hier im Saal weiß, dass Mahler selbst verantwortlich ist für die Stille zwischen den einzelnen Sätzen: Er brachte als Dirigent sein Publikum mit unmissverständlichen Gesten davon ab, zwischendrin zu applaudieren, wie es zur Gewohnheit geworden war.
Erstaunt sehe ich, wie die Leute unter mir die Köpfe zur Seite drehen. Da geht jemand durch den Mittelgang nach vorn. Das ist ungewöhnlich, denn Zuhörer, die zu spät kommen, stehen vor geschlossenen Türen – eine Regel, die ebenfalls von Mahler an der Wiener Hofoper eingeführt wurde.
Ich starre ins Dunkle. Es ist eine Frau, viel mehr kann ich nicht erkennen. Unter einem Arm trägt sie einen hölzernen Klappstuhl, unter dem anderen klemmt ein großes Buch. Sie läuft fast bis zur Bühne. Was hat sie bloß vor? Genau hinter dem Podest des Dirigenten stellt sie den Klappstuhl auf. Woher nimmt sie die Dreistigkeit, sich auch noch hinzusetzen? Im Saal ist empörtes Raunen zu hören.
Mengelberg bekommt davon nichts mit, er blickt so konzentriert auf die Noten, dass er für alle Nebengeräusche taub ist. Ein weiterer Beweis, wie selektiv unser Gehör ist. Mengelberg lässt sich nicht stören.
Die Frau auf dem Stuhl schlägt das Buch auf und wartet wie alle anderen. Meine Mutter beugt sich zu mir herüber.
»Solltest du nicht etwas unternehmen?«
Es ist mir ein Rätsel, warum ich bis jetzt einfach nur wie gelähmt zugeschaut habe.
Ich laufe über den dicken Teppich die Treppe hinunter, als mir Direktor Barnes entgegenkommt.
»Sorgen Sie dafür, dass sie da verschwindet«, sage ich zu ihm.
»Wer?«
Offensichtlich hat er von dem ganzen Vorfall noch gar nichts mitbekommen, aber das ändert sich jetzt. Er folgt mir zu einer Seitentür, durch die man den Gang vor der Bühne sehen kann. Als ich die Tür ein wenig öffne, strömt uns allgemeines Murren wie eine Welle entgegen. Ich spähe in den Saal und kann nur das Profil der Frau erkennen.
»Warum hat das Personal sie nicht aufgehalten?«, frage ich wütend.
»Weil sie zum Personal gehört«, antwortet Barnes kleinlaut.
Erst dann erkenne ich sie. Die Toilettenfrau.
In diesem Augenblick dreht sich Mengelberg doch zum unruhigen Publikum um. Sein Blick bleibt am Klappstuhl hängen. Alle halten den Atem an. Genau wie der Saal warte auch ich darauf, was passieren wird.
Ich sehe, wie sie Mengelberg zulächelt. Ihr Lächeln ist ihm trotz der auf ihn gerichteten Schweinwerfer aufgefallen, denn er lächelt freundlich zurück. Das bringt mich noch mehr aus der Fassung.
Gerade als Barnes losstürmen will, fängt Mengelberg mit dem zweiten Satz von Mahlers Vierter an. Ich brauche heute Abend nicht noch mehr Chaos und halte Barnes auf. Aber ich kann die Augen nicht von dem dreisten Rotzlöffel abwenden. Während das geheimnisvolle Scherzo erklingt, sehe ich, wie sie die Partitur auf ihrem Schoß mitliest, und werde fuchsteufelswild.
»Sie brauchen mich nicht zu schubsen, ich kann selbst gehen.«
Sie versucht sich loszumachen. Ich packe sie fester am Arm, an dem ihre Tasche schlaff hin und her baumelt. Unter dem anderen Arm trägt sie die Partitur.
Ich habe sie im Flur erwischt, als sie den Klappstuhl auf den Stapel neben der Herrentoilette zurücklegen wollte. Und nun bringe ich sie zum Personalausgang.
»Menschen wie dich muss man wegsperren«, blaffe ich sie an.
»Darf ich mich denn nicht entschuldigen?«, entgegnet sie deutlich ruhiger.
»Bei wem? Dem ganzen Saal?«
»Bei Maestro Mengelberg.«
Oh mein Gott, was heckt sie denn noch alles aus? Ich schüttele den Kopf. »Du glaubst doch nicht, dass ich dich in seine Nähe lasse? Einen großen Musiker behandelt man mit Respekt!«
Ich öffne die Tür zum Ausgang.
»Du bist entlassen«, sage ich, als ich sie hinausschiebe.
Sie stolpert und fällt beinah die Treppe hinunter, aber sie fängt sich wieder und blickt mich funkelnd an.
»Sie sind nicht mein Chef«, ruft sie mir zu.
»Dein Chef hat schon eingewilligt«, sage ich. Das stimmt sogar. Natürlich habe ich das mit Barnes besprochen.
Sie fleht mich an, dass sie diesen Job braucht, aber das kann mir egal sein. Ich sehe, dass sie weder ein noch aus weiß, empfinde aber kein Mitleid. Als sie einwendet, sie habe ihren Lohn für die letzte Woche noch nicht erhalten, zücke ich das Portemonnaie und drücke ihr etwas Geld in die Hand. Als sie den Betrag sieht, hält sie endlich den Mund. Vermutlich war es zu viel.
~ Willy ~
4
Mir blieb vor Angst das Herz stehen, als ich da so saß, um ganz ehrlich zu sein. Aber ich saß aufrecht, und für die anderen sah es so aus, als würde ich ungerührt nach vorn schauen. Dabei spürte ich, wie sich mir die entrüsteten Blicke des Publikums in den Rücken bohrten. Schau einmal an, dachte ich. Man muss sich nur trauen, dann kann man auch eine Heldin spielen.
Ich schlendere durch die Straßen, nehme mir unendlich viel Zeit, alles anzuschauen – nur um nicht nach Hause zu müssen. Am liebsten hätte ich mit Mengelberg gesprochen, über sein Konzert und über die Musik. Über seine Interpretation der Symphonie und das Leistungsniveau unseres Orchesters. Auf Niederländisch. Und vielleicht hätte ich mich sogar getraut, ihm zu erzählen, was ich anders gemacht hätte.
Ich wäre auch damit zufrieden gewesen, ein Teil der Menschenmenge sein zu dürfen, die den Konzertsaal verlässt. Schweigend den Kommentaren zuzuhören und in Gedanken den Abend und seine Eindrücke Revue passieren zu lassen. Aber der Kerl von der Toilette musste ja alles verderben. Das ist ein Naturgesetz: Seifenblasen zerplatzen immer.
Ich bleibe bei dem blinden Bettler stehen, der an seinem festen Platz sitzt. Wenn er gut gelaunt ist, spielt er eigene Melodien auf dem Akkordeon, aber jetzt ist er still. Ich glaube, für heute hat er keine Musik mehr. Ich blicke in seine Augen, die von einem blauen Schleier bedeckt sind, die Pupillen sind unsichtbar. Es kann einen immer noch schlimmer treffen, geht es mir durch den Kopf. Er hört, dass jemand vor ihm steht, denn er hält mir die geöffnete Hand hin.
Ich betrachte den leeren Filzhut, der neben ihm liegt. Er ist von Motten zerfressen. Daneben liegt ein Stück