Die Dirigentin. Maria Peters

Die Dirigentin - Maria Peters


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dass wir die Besten haben wollen«, erläutert die Chefin ihre Entscheidung. »Aber mein Vorgesetzter will hier keine weiblichen Angestellten, die er nicht attraktiv findet, und ich kann niemanden gebrauchen, der mir Konkurrenz macht.«

      Aufgebracht geht die unterlegene Bewerberin, und ich mache Anstalten, ihr zu folgen. Aber die Chefin hebt demonstrativ den Stapel tropfender Briefe hoch. Ich würde viel darum geben, wenn ich aus diesem Albtraum einfach aufwachen könnte; allerdings ist er noch nicht vorbei.

      Wie besessen tippe ich, um die nass gewordenen Dokumente zu ersetzen. Neben mir liegt die Zeitung, die die strenge Bewerberin liegen gelassen hat. Die Porträtaufnahme von Mengelberg starrt mich an. Ich greife nach der Zeitung und springe auf. Mir reicht es jetzt.

      »Bist du schon fertig?«, fragt die Chefin von ihrem Podest herunter erstaunt durch den Raum. Sie sitzt etwa zwanzig Meter entfernt.

      Gerade jetzt lobe ich mir diesen Abstand: »Nein, aber ich muss zu einem Konzert.«

      »Das muss fertig werden!«

      Ich fange an zu rennen. »Morgen!«

      Hinter meinem Rücken wird sie lauter: »Wenn du jetzt abhaust, bist du entlassen!«

      Ich bleibe wie erstarrt stehen und denke über diese Drohung nach. Damit ich etwas Zeit gewinne, drehe ich mich ganz langsam um.

      »Wie gut, dass Sie gerade eine so flotte Schreibkraft eingestellt haben.« Und dann renne ich durch die Abteilung. Zum Glück kann ich die Stechuhr jetzt links liegen lassen.

      Frag nicht, wie ich das geschafft habe. Rücksichtslos muss ich Fußgänger zur Seite geschubst haben, die mir im Weg waren, und auch rote Ampeln waren mir egal. Zwischen hupenden Autos bin ich ohne Rücksicht auf Verluste auf die Straße gesprungen. Ich bin gerannt, gerannt, gerannt – als würde mein Leben davon abhängen. Das Erste, was ich wieder bewusst wahrgenommen habe, ist die Ankündigung des Konzerts an der Fassade des Theaters.

      Keuchend lege ich mein Geld hin und kann gerade noch sagen, dass ich auf der Warteliste stehe. Der Kassierer macht sich nicht einmal die Mühe, nach meinem Namen zu suchen.

      »Es tut mir leid, Willy, du bist zu spät.«

      »Aber der Direktor … der Direktor …« Ich schnappe nach Luft.

      Mitfühlend schüttelt er den Kopf. »Du kennst die Regeln. Eine halbe Stunde vor Beginn müssen die Karten abgeholt werden.«

      Stinksauer sammle ich mein Geld wieder ein.

      Ich gehe in den Umkleideraum und ziehe meine Uniform an. Ich weiß nicht genau, warum ich das mache, aber jetzt einfach nach Hause zu gehen ist keine Option. Ich will zumindest im selben Gebäude wie Mengelberg sein.

      Gedankenverloren stolpere ich im Gedränge an Marjorie vorbei. Sie spricht mich an. Ich schaue nicht auf, gehe einfach weiter. Ich vermeide jeden Blickkontakt mit den anderen Platzanweiserinnen, die in den letzten Minuten vor Beginn des Konzerts alle Hände voll zu tun haben. Sie würden meine Wut nicht verstehen.

      »Wieso steht du hier so rum? Warum arbeitest du nicht?« Marjorie taucht wieder neben mir auf und lässt einen Kaugummi an meinem Ohr zerplatzen. Sie ist sauer, dass ich mich vor der Arbeit drücke. Dass ich mir heute Abend freigenommen habe, hat sie schon längst wieder vergessen. Mein Herz schlägt laut in meinem Brustkorb. Ich muss mich zusammenreißen.

      Ich tue so, als würde ich zu einer Besuchergruppe hinübergehen. Aber ich kann mich jetzt nicht so benehmen, als wäre das nur ein ganz normaler Arbeitstag. Das kann niemand von mir verlangen. Trotz des Risikos, erwischt zu werden, rette ich mich auf die Herrentoilette. Zum Glück ist niemand dort. Aufgewühlt tigere ich durch den Raum, bis mir mein Spiegelbild auffällt. Ich bleibe stehen, gehe hinüber und schaue in mein Gesicht. Dieses Mal lächele ich nicht.

      ~ Frank ~

      3

      Der Mann, der für Dirigenten und Solisten Konzerte organisiert, so würde ich meine Tätigkeit beschreiben. Meine Visitenkarte ist prägnanter, dort lautet die Berufsbezeichnung: Concert Manager, und heute Abend steht Willem Mengelberg auf dem Programm.

      Im Konzertsaal geht es drunter und drüber. Jeder will ihn sehen. Ich muss mich durchkämpfen, um vom Dirigentenraum, wo Mengelberg sich vorbereitet, zu meiner Loge zu gelangen. Immer wieder halten mich Freunde und Bekannte auf, die mir zum Erfolg der Tournee gratulieren wollen. Ich bedanke mich höflich und gebe meine Standardantwort, die ich übrigens stets an das Heimatland des jeweiligen Dirigenten anpasse, also diesmal: »Alles Gute kommt aus den Niederlanden.« Indem ich Mengelberg ein Kompliment mache, lenke ich die Aufmerksamkeit von mir ab. Und ich brauche nicht einmal zu lügen: lieben wir Amerikaner es doch, mit unseren europäischen Wurzeln anzugeben.

      Niemand hier muss wissen, dass ich mit dieser saloppen Bemerkung versuche, meinen Schmerz zu betäuben. Die Leute haben nicht die blasseste Ahnung, dass Musik für mich die einzige Medizin ist, um die alles übertönenden Kriegserinnerungen, die ich aus diesem verfluchten Europa mitgebracht habe, für eine Weile verstummen zu lassen. Wenn nicht so viel Schönheit diesem Kontinent entstammte, würde ich ihn für immer und ewig vergessen wollen.

      Ich war zu jung, um in diesen blutigen Krieg geschickt zu werden; zu jung und viel zu naiv, wie so viele meiner Kameraden. Und dabei genoss ich noch das Privileg, nicht in die Hölle der Schützengräben zu müssen, sondern in den Feldlazaretten hinter der Front die Schweinerei in Ordnung bringen zu dürfen. Ich arbeitete dort als Medical Officer, da ich in Amerika Medizin studierte. Den Rang hatte ich jedoch nur, weil meine Mutter zum britischen Adel gehört. Tatsächlich war ich allenfalls ein Krankenpfleger. Ich trat meinen Dienst in jenem Jahr an, das später als Gaskriegsjahr in die Geschichtsbücher eingehen würde, aber das konnte ich damals noch nicht ahnen. Aber was soll’s, ich lebe noch. Neun Millionen Soldaten können das nicht von sich behaupten – also welches Recht habe ich, mich zu beklagen?

      Willem Mengelberg hat kaum unter dem Weltkrieg zu leiden gehabt, wie er mir einmal erzählte. Die Niederlande wahrten Neutralität, was Amerika zumindest in den ersten drei Kriegsjahren ebenfalls glückte. Als Amerika 1917 in den Krieg eintrat und ich mit kaum zwanzig – ich war noch grün hinter den Ohren – nach Europa aufbrach, war Mengelberg bereits seit gut zwei Jahrzehnten Chefdirigent des Amsterdamer Concertgebouw-Orchesters. Sein Ruhm sollte immer weiterwachsen.

      Natürlich bin ich stolz darauf, ihn nach New York geholt zu haben. In Amerika ist das Publikum verrückt nach Prominenten, und für die klassische Musik gilt: Nur wenn man es in Europa geschafft hat, gehört man wirklich dazu.

      Endlich erreiche ich die Loge, in der meine Eltern bereits auf mich warten. Ich begrüße sie herzlich und setze mich rasch, denn der Konzertmeister ist bereits aufgestanden. Er signalisiert der Oboe, den Kammerton anzugeben, nach dem dann die anderen Musiker ihre Instrumente stimmen.

      Als sie fertig sind, betritt Mengelberg die Bühne. Das löst einen Sturm der Begeisterung aus. Der brausende Applaus tut mir gut. Mengelberg schüttelt die Hand des Konzertmeisters und nimmt dann seinen Platz am Pult ein.

      Jedes Mal bin ich wieder nervös, sozusagen stellvertretend für die Akteure. Eigentlich merkwürdig, denn ich habe nichts zu tun, ich darf mich einfach zurücklehnen. Aber so entspannt bin ich noch nicht. Ich hocke auf der Kante meines Sitzes und beobachte den Saal unten. All diese erwartungsvollen Menschen, die einen unvergleichlichen Abend erleben werden dank der besonderen Chemie zwischen dem Dirigenten Willem Mengelberg und dem verstorbenen jüdischen Komponisten Gustav Mahler.

      Die Vierte Symphonie, die heute Abend aufgeführt wird, ist im Jahr 1900 entstanden, als das Leben dem Komponisten noch freundlich gesinnt war. Er schrieb die Symphonie während der Sommerferien, da er nicht daran gewöhnt war, einfach einmal nichts zu tun. Ein paar Jahre später sollte das Schicksal zuschlagen: Er verlor seine vierjährige Tochter, die Ehe mit seiner viel jüngeren Frau stand permanent unter Druck, die Ärzte diagnostizierten ein unheilbares Herzleiden, und er verlor seinen Posten an der Wiener Hofoper, wo er zehn Jahre lang das Sagen gehabt und einen Schlussstrich unter zahlreiche


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