Die Dirigentin. Maria Peters
»Willy?«
Ich höre, wie meine Mutter in der Diele lärmt. Rasch schlage ich die Partitur zu und will sie wieder unters Bett legen, aber es ist zu spät. Mutter kommt ins Zimmer. Das macht sie immer ohne Ankündigung, sogar jetzt, wo ich schon dreiundzwanzig bin. Sie streckt mir die Hand hin.
»Deinen Lohn.«
Ich gebe ihr die Lohntüten meiner beiden Jobs, und während sie das Geld zählt, schiebe ich mit dem Fuß die Partitur weiter unter das Bett. Sie ahnt nicht, dass mein kleines Zimmer eigentlich eine Ansammlung von Verstecken ist. Das beste befindet sich hinter der Holzverkleidung meines maroden Klaviers. Mit zwei Handgriffen kann ich die unterste Leiste lösen und abheben. Dahinter verstecke ich das Geld, das ich mir vom Mund abspare. Davon bezahle ich unter anderem Mr Huang.
»Ich brauche eine neue Bluse.«
»Jammere nicht rum. Diese ist noch gut.«
»Ich bin deswegen ermahnt worden …«
»Die kannst du noch ausbessern.«
»… sonst würden sie mich rausschmeißen«, beende ich den Satz. Damit habe ich sie in der Hand, denn weniger Geld im Haus wäre für sie eine Katastrophe.
Meine Mutter zögert. Dann gibt sie mir zwei Dollar.
»Ich glaube nicht, dass das reicht«, versuche ich mehr herauszuhandeln, aber sie geht nicht in die Falle.
»Mehr bekommst du nicht.«
Und mit dieser Bemerkung lässt sie mich allein.
Der nächste Tag ist ein Samstag, und ich muss nicht ins Büro. Meine Mutter ist nicht da. Sie liest für einen Kunden aus Teeblättern. Mit diesem Betrug verdient sie sich hin und wieder etwas dazu. Ich nehme Nadel und Faden aus ihrem Nähkästchen und kümmere mich um den verschlissenen Kragen an meiner Arbeitsbluse.
An diesem Abend gehe ich dem Direktor nicht aus dem Weg.
»Schauen Sie«, sage ich, als ich ihm im Foyer begegne. Ich zeige auf meine Bluse und lächle.
»Schon besser«, kommentiert er. »Ich freue mich, dass du auf mich hörst.«
~ Willy ~
2
Kurz stehen meine Finger still über den Tasten der Schreibmaschine, und ich schaue auf die große Uhr an der Wand. Noch eine Viertelstunde, dann darf ich gehen. Ich kann es gar nicht erwarten, denn heute dirigiert Mengelberg.
Als ich die sechzig Frauen sehe, die in meiner Abteilung arbeiten, werde ich nervös. Schaffe ich es, als Erste bei der Stechuhr zu sein? Meine Tasche steht gepackt unter dem Tisch, ich muss nur noch diesen einen Brief beenden. Ich beobachte, wie meine Chefin durch die Reihen läuft. Ich konzentriere mich wieder auf die Arbeit und lasse die Finger über die Tasten rasen. Sie soll bloß nicht auf die Idee kommen, ich wäre schon fertig. Aber ich habe Pech. Sie bleibt genau vor meinem Tisch stehen.
»Könntest du kurz einen Test beaufsichtigen?«, fragt sie.
Verflixt und zugenäht, warum sucht sie immer mich für solche Sachen aus? Aber ich antworte natürlich beflissen: »Jetzt?«
»Genau, jetzt.«
Sie winkt zwei wartende Bewerberinnen herbei.
Widerwillig stehe ich auf. Mit meiner Chefin diskutiert man nicht. Sie ist eine typische alte Jungfer, die mit ihrer Arbeit verheiratet ist. Ich habe mir gelegentlich ausgemalt, wie sie wohl ihre Abende verbringt. Aber im Laufe der zwei Jahre, die ich mittlerweile hier an der Maschine sitze, habe ich es aufgegeben, mir darüber Gedanken zu machen. Die Einsamkeit steht ihr ins Gesicht geschrieben; es ist klar, dass sie mutterseelenallein auf der Welt ist. Sie überspielt das recht gut, indem sie sich auf die Arbeit stürzt.
Hinter ihrem Rücken nennen die Schreibkräfte sie den Pitbull, weil sie nie zurückweicht, aber ich beteilige mich nicht daran. Ich finde es unfair, Frauen so bloßzustellen. Würde man einen Mann so bezeichnen, als Pitbull? Oder gar als Furie oder Zimtzicke? Das ist eher unwahrscheinlich. Männer werden auch nicht alte Hexe, Schreckschraube oder Miststück genannt. Ich kenne einige Männer hier auf der Arbeit, die schlimmer sind als unsere Chefin, die nie auch nur einen Zentimeter nachgeben, aber die bekommen keinen bescheuerten Spitznamen.
Für den Boss ist sie natürlich Gold wert. Es gibt Gerüchte, dass sie einmal eine Affäre hatten, aber soweit ich weiß, ist der Kerl ein grundsolider Ehemann; ich kann mir die beiden einfach nicht zusammen vorstellen.
Während die Chefin weitergeht, präsentieren sich mir die Bewerberinnen. Ihre Namen vergesse ich sofort wieder. Die eine Frau ist um die vierzig und macht einen strengen Eindruck. Ihr dunkles Haar ist straff zu einem Dutt zurückgebunden, außerdem trägt sie eine Brille. Unter ihrem Arm klemmt eine Zeitung.
Ich nehme meinen Brief aus der Maschine, gebe ihr ein leeres Blatt und deute auf den Stuhl. Als sie sich hinsetzt, legt sie die Zeitung neben sich ab. Mein Blick bleibt an einem Artikel hängen, in dem das Konzert von Mengelberg ankündigt wird. Sie hat sofort einen Pluspunkt bei mir, allerdings habe ich hier nichts zu entscheiden.
Die andere Frau schätze ich zehn Jahre jünger. Sie hat diese merkwürdig dünnen, unnatürlich hochgezogenen Augenbrauen. Ihre Brüste stechen für meinen Geschmack etwas zu deutlich unter ihrem engen Pullover heraus, und sie kann keinen Schritt auf ihren hohen Absätzen machen, ohne anzüglich mit dem Hintern zu wackeln. Warum sie in solch einem großen Bogen zu dem freien Tisch neben mir laufen muss, ist mir schleierhaft – denn weit und breit ist kein Mann zu entdecken.
Die Aufgabe, die ich ihnen stelle, ist einfach. Sie müssen nur einen Brief abtippen. »Sie haben zehn Minuten«, sage ich kurz vor dem Startzeichen. Ich drücke die Stoppuhr. Die Sekunden verrinnen, genauso wie auf der Wanduhr.
Mir fällt sofort auf, dass die strenge Bewerberin blind und unglaublich schnell tippt, schneller, als ich es je zuvor gesehen habe. Vermutlich sind das mehr als dreihundert Anschläge pro Minute. Was für ein Kontrast zu der koketten Dame, die sich offensichtlich Sorgen um ihre zu langen, rot lackierten Nägel macht. Wenn sie hundert schafft, ist das schon viel. Ich betrachte ihr platinblondes Haar. Ich kann den Blick nicht von dem unvorteilhaften dunklen Haaransatz abwenden. Was muss sie wohl alles für diese Frisur opfern und erleiden, finanziell, aber auch körperlich?
Das Zeichen zum Büroschluss ertönt, und rundum brechen die Kolleginnen auf. Nur die Chefin thront ungerührt auf ihrem Podest. Sie muss erst noch die Briefe korrigieren, die die Schreibkräfte bei ihr abgeben.
»Halt«, rufe ich nach zehn viel zu langen Minuten. Ich reiße das Papier aus den Maschinen und renne durch das mittlerweile leere Büro zur Chefin. In meiner Eile stoße ich gegen den Schreibtisch. Eine Thermoskanne fällt um. Ungläubig schaut die Chefin auf den kalten Kaffee, der über die Papiere schwappt. Ich versuche das Ganze abzutupfen, aber das macht alles nur noch schlimmer. Sie schaut mich verärgert an, als ich ihr die beiden Briefe überreiche.
Sie braucht nicht lange.
»Von wem ist dieser?« Sie hält den kürzeren Brief in die Höhe und beobachtet die beiden näher kommenden Frauen prüfend.
»Von mir«, antwortet die kokette Dame.
»Geschwindigkeit zu langsam, Nägel zu lang, zu viele Fehler. Und Sie …«, sie hält jetzt den langen Text hoch: »Flotte Finger, kurze Nägel, null Fehler.«
Die Brillenträgerin freut sich über die Komplimente, aber dann kommt es: »Morgen können Sie anfangen«, wendet sich die Chefin ausdrücklich an die jüngere Frau.
Was war das? Die strenge Bewerberin blickt bestürzt von der Chefin zu ihrer Konkurrentin, die mit ihren unterwürfigen Dankesäußerungen gar nicht aufhören kann. Ich senke beschämt die Augen und vergesse fast, dass ich schon längst weg sein sollte, so sehr tut sie mir leid.
»Ich verstehe das nicht«, sagt sie zu meiner Chefin, als die neue Mitarbeiterin – nicht