Die Dirigentin. Maria Peters
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Maria Peters
Die Dirigentin
Roman
Aus dem Niederländischen von Stefan Wieczorek
Atlantik
Für meine Enkelin Yuna
»A dream is unrehearsed.«
Yehudi Menuhin
»Vom Mond aus gesehen
sind wir alle gleich groß.«
Multatuli
»Because we women form only
a small percentage of conductors, it is as if
we are all under a microscope.«
Marin Alsop
~ Willy ~
1 New York, 1926
Der falsche Platz. Pass gefälligst besser auf.« Direktor Barnes packt mich am Ellenbogen und wirft mir einen strafenden Blick zu. Erschrocken sehe ich, was er meint. Das Durcheinander in der Sitzreihe ist mir bislang nicht aufgefallen. Das ältere Ehepaar, dem ich eben einen Platz angewiesen habe, bahnt sich mühevoll den Weg zurück in den Gang. Schuldbewusst senke ich den Blick.
»Entschuldigen Sie bitte«, sage ich möglichst unterwürfig, denn er ist mein Boss, und ich kenne meinen Platz in der Rangordnung. Direktor Barnes ignoriert mich und eilt dem Ehepaar zu Hilfe. Ich stehe verloren daneben, reiße mich aber zusammen und wende mich den nächsten wartenden Gästen zu.
Zum x-ten Mal leiere ich herunter: »Ich wünsche Ihnen ein schönes Konzert.« Leute zum richtigen Platz zu bringen ist meine Abendbeschäftigung. Tagsüber arbeite ich als Schreibkraft in einem großen Büro. Manch einer mag es merkwürdig finden, dass ich zwei Jobs habe, aber ich bin es nicht anders gewohnt. Meine Mutter will das so. Sie hat auch kein Problem damit, meinen Vater zwei Schichten hintereinander ackern zu lassen. Sie braucht das Geld, sagt sie.
Eigentlich tut es mir gut, so oft von zu Hause weg zu sein. Mutter ist nicht unbedingt das, was man einen Sonnenschein nennt. Wenn sie lacht, bildet ihr Mund allenfalls einen Strich; für gewöhnlich hängen ihre Mundwinkel aber nach unten. Als ich in die Schule kam, malte ich sie mit diesem Gesichtsausdruck. Voller Stolz zeigte ich ihr das Bild. Das hätte ich besser nicht gemacht, denn danach konnte ich zwei Tage lang nicht richtig sitzen. Zugegeben, die Zeichnung war kein Meisterwerk, vielleicht hatte sie also sogar recht.
Nach diesem Erlebnis habe ich mich selbst dazu gezwungen, jedes Mal wenn ich in einen Spiegel schaue, zu lächeln. Auch wenn es gerade nichts zu lachen gibt. Meine Einbürgerung steht zwar noch bevor, aber ich lebe schon den amerikanischen Traum. Inklusive des dazugehörigen Dauerlächelns und alles anderen.
Das Konzert heute Abend beginnt mit Beethovens Dritter. Hier in Amerika heißt sie Eroica Symphony, wir Holländer nennen sie die Heroische.
Ludwig van Beethoven schrieb die Symphonie zu Ehren von Napoleon Bonaparte, als dieser sich zum Kaiser von Frankreich ausrief. Um allen zu zeigen, wie die Machtverhältnisse waren, erlaubte Napoleon nicht, dass der Papst ihn krönte, sondern er setzte sich die Krone selbst auf. Männer können das.
Beethoven, der in derselben Zeit lebte, feierte die Heldentaten des Diktators. Für mich ist Beethoven ein größerer Held als dieser Napoleon. Er spürte, dass er mehr und mehr ertaubte, aber das tat seiner Streitlust keinen Abbruch. »Ich will dem Schicksal in den Rachen greifen, ich ergebe mich ihm nicht«, war seine Reaktion auf den Hörverlust (oder zumindest so ähnlich). Daraufhin beendete er mit seiner Musik die Epoche der Klassik und schlug einen neuen Weg ein, hin zur Romantik. Damit kann man doch etwas anfangen.
Er ist seit neunundneunzig Jahren tot, aber die Menschen strömen noch immer in die Konzertsäle, um seine Meisterwerke zu hören. Ich deute einen Knicks an. Die beiden Herren, denen ich gerade den Platz anweise, beziehen das auf sich, aber in meinem Innern bedanke ich mich bei Beethoven für die Komposition des heutigen Abends. Das Hantieren der Orchestermitglieder, die ihren Platz einnehmen, lenkt mich ab. Bereits die Geräusche, die beim Stimmen der Instrumente entstehen, versetzen mich in Erregung. Ich betrachte die Härchen auf meinem Arm. Ich habe Gänsehaut, jetzt schon.
Ich sitze etwas versteckt auf dem Flur. Eine Take-away-Mahlzeit liegt auf meinen Oberschenkeln. Die Türen des Saals sind jetzt geschlossen. Wir dürfen nicht mehr hinein. Ich rühre mit den Essstäbchen durch die chinesischen Nudeln, die längst kalt sind.
Es ist immer höchste Eisenbahn, wenn ich von meinem Tagesjob zu meinem Abendjob wechsle. Im Büro haben wir nur eine Stechuhr, und wenn man Pech hat, wartet da schon eine Schlange. Die Schreibkräfte haben es nicht eilig – wenn man langsam macht, erweckt man den Eindruck, länger gearbeitet zu haben. Wenn ich mich also ganz hinten einreihen muss, bin ich die Dumme.
Ich habe keine Zeit, zwischendurch nach Hause zu gehen. Mutter gibt mir jeden Tag Reste mit, aber die esse ich nie. Sie sind nämlich nicht vom Vortag, denn die isst sie selbst. Sie sind auch nicht zwei Tage alt, denn die bekommt mein Vater. Die Reste, die mir zustehen, sind mindestens drei Tage alt. Es dauerte eine Weile, bis ich ihr System begriff, und zu Anfang bin ich sogar schon mal richtig krank von dem verdorbenen Essen geworden. Deshalb werfe ich das fiese Zeug jetzt immer gleich weg. Allerdings darf ich ihr das auf keinen Fall verraten. Sie würde einen Anfall bekommen: Essen wegzuwerfen ist eine Todsünde.
Der kürzeste Weg vom Büro zur Konzerthalle führt quer durch Chinatown. Mit einem kleinen Restaurant habe ich einen Deal machen können, der mich nicht viel kostet. Sie verkaufen auch außer Haus an der Straße. Mr Huang hat mein Essen bereits fertig, wenn ich vorbeikomme. Er weiß, wie wenig Zeit ich habe. Meistens schlinge ich es sofort herunter, aber wenn ich mich verspäte, hat er es schon für mich eingepackt, sodass ich es mit zur Konzerthalle nehmen kann. Am Anfang hat er mich ausgelacht, als er sah, wie ich mit den Essstäbchen kämpfte, aber als er merkte, wie rasch ich damit zurechtkam, verschaffte mir das Respekt.
Die Nudeln pappen zusammen, und ich habe immer weniger Appetit. Ich habe genug davon in meinen Mund gestopft. Ich frage mich, ob das Konzert schon lange genug läuft, um auf die Herrentoilette zu gehen. Es ist niemand zu sehen. Die Luft ist rein. Auf dem Weg werfe ich das Essen in einen Abfalleimer. Ein Stäbchen behalte ich und verberge es in einer Rockfalte meiner mausgrauen Uniform.
Ich kann nichts dagegen tun, die Herrentoilette der Konzerthalle zieht mich an wie ein Magnet. Sie befindet sich in einem der unteren Geschosse, direkt unter der Bühne. Es wäre wesentlich praktischer, wenn dort die Damentoilette wäre; aber in der hört man leider überhaupt nichts vom Konzert. This is the place to be.
Vorsichtig betrete ich den großen, quadratischen Raum, der vor kurzem neu gekachelt wurde. Der hübsche, moderne Stil wird Art déco genannt. Mit einem Blick sehe ich, dass das Pissoir frei ist. Nachdem ich kontrolliert habe, ob auch niemand eine der zahlreichen Toiletten benutzt, stelle ich mich mitten im Raum auf, schließe die Augen und lausche. Ich lausche der Musik, die durch eine akustische Verbindung zur Bühne so klar klingt, als würde ich direkt vor dem Orchester stehen.
Beethovens Musik durchdringt jede Faser meines Körpers. Sie spielen den ersten Satz der Symphonie, insgesamt sind es vier. Es ist das Allegro con brio, das lebendig und feurig gespielt werden muss. Ein echter Held strotzt natürlich immer vor Energie. Ich hebe das Stäbchen hoch und stelle mir alles vor, sehe mich als Dirigentin vor dem Orchester stehen. Hundert Männer folgen meinen Handbewegungen und lassen sich durch mich leiten, die Heroische so zu spielen, wie ich es für richtig halte. Das Stäbchen hebt und senkt sich im Dreivierteltakt. Das macht mich unglaublich glücklich. Als würde mein Leben so viel reicher. Diese Glücksexplosion macht abhängig.
Trotzdem versuche ich, ihr nicht zu oft nachzugeben. Ich gönne sie mir nur einmal pro Woche, immer an unterschiedlichen Tagen. Es darf den anderen Platzanweiserinnen, die sich im Foyer leise miteinander unterhalten, nicht auffallen, dass ich verschwinde. Und ich mache das immer am Anfang des Konzerts. Die erste halbe Stunde ist sicher, ich weiß aus Erfahrung, dass