Die Dirigentin. Maria Peters
die Toilette besuchen. Dann muss ich mich wieder aus dem Staub gemacht haben. Aber im Augenblick gehört die Herrentoilette mir allein.
Ich mache eine Geste in Richtung der ersten Geige: lauter. Der zweiten Geige: etwas zurückhaltender. Jede Instrumentengruppe erhält einen Hinweis. Ich gehe derart darin auf, dass ich mich selbst vergesse. Es ist eine Art Trance. Wenn auch eine ganz andere als jene, in die Mutter sich versetzen will, wenn sie mit ihrem Frauenclub Séancen abhält. Damit kann sie mir gestohlen bleiben, an diesen Unfug glaube ich nicht. Dass ihr allerdings Beethoven und Liszt bei einer diesen Séancen erschienen sind und allen mitgeteilt haben, ich würde eine große Musikerin werden, kam mir doch sehr zustatten. Sonst hätte sie mir nie die Klavierstunden erlaubt. Aber wieso sie und ihre Freundinnen wussten, wie Ludwig van Beethoven und Franz Liszt aussehen – und das sogar als Geister –, ist mir heute noch ein Rätsel.
Die Tür öffnet sich, und ich erschrecke mich zu Tode. Rasch lasse ich die Arme sinken. Ich höre, wie das Essstäbchen auf die Fliesen fällt. Ein junger Mann kommt herein und schaut mich erstaunt an. Ich versuche, nicht ertappt zu wirken, hebe den Kopf und blicke ihn möglichst gelassen an. Schließlich arbeite ich hier und nicht er.
»Das ist die Herrentoilette«, sagt er.
Offensichtlich hält er es für nötig, seine Anwesenheit hier zu begründen. Es dauert einige Sekunden, bis ich die Sprache wiedergefunden habe. »Ich … kontrolliere kurz alles.«
Er betrachtet meine Kleidung, ich trage ganz offensichtlich die Uniform einer Platzanweiserin.
»Was kontrollierst du hier?«
»Ob auch alles sauber ist.« Ich reiße ein paar Türen auf und inspiziere die Kabinen. »Die Herrentoiletten verschmutzen schneller, daher kontrollieren wir sie häufiger.«
Er behält mich im Auge. Der Störenfried kann nicht viel älter sein als ich. Maximal Ende zwanzig. Es regt mich auf, dass er gut aussieht. Seine Kleidung zeugt von Wohlstand. Auch das regt mich auf, denn dadurch fühle ich mich immer unwohler.
»Und bist du jetzt fertig damit?«
Ich nicke: »Alles ist sauber.« Ich halte die Tür zu einer der Kabinen auf und hoffe, dass er dahinter für immer und ewig verschwinden möge. Aber er bleibt stehen, schiebt die Hände lässig in die Hosentaschen, als hätte er alle Zeit der Welt, und blickt mich immer noch an.
»Sie verpassen das Konzert.«
»Das habe ich schon öfter gehört«, antwortet er.
Ich schaue ihm tief in seine viel zu hübschen braunen Augen, als könnte ich ihm damit meinen Willen aufzwingen. Aber nein, er bleibt an der Tür stehen. Also muss ich zum Ausgang gehen. Er tritt zur Seite, um mich vorbeizulassen, wendet den Blick aber nicht ab.
Ich bin schon auf dem Flur, als ich ihn hinter mir sagen höre: »Du hast etwas vergessen.« Ich drehe mich um. Er schaut auf das Stäbchen, er hat also gehört, wie es hinfiel. Es liegt zu seinen Füßen, aber er macht keine Anstalten, es aufzuheben. Ich bücke mich.
An diesem Abend bildet das ganze Personal eine lange Reihe. Direktor Barnes verteilt selbstgefällig die wöchentlichen Lohntüten. Es ist Freitagabend, und wie üblich zählt er auf, welche Konzerte uns in nächster Zeit erwarten. Ich höre mit gespitzten Ohren zu, diesen Teil finde ich interessanter als meinen Lohn.
»Und dann haben wir nacheinander Aufführungen der Vierzigsten Symphonie von Mozart, der Hundertsten von Haydn, der Dritten von Schumann, des Violinkonzerts von Mendelssohn …«
Meine Kollegin Marjorie wendet sich mir zu und flüstert: »Ich langweile mich zu Tode. Willst du etwas von meinem Kaugummi abhaben?«
Marjorie und ihr Kaugummi sind unzertrennlich. Sie hat immer mehrere Päckchen auf Vorrat. Adams’ New York Gum No. 1 – Snapping and Stretching. Wenn niemand zuschaut, macht sie Kaugummiblasen und lässt sie zerplatzen. Niemand scheint mitzubekommen, dass sie die ganze Zeit über das Zeug im Mund hat; wie sie das schafft, weiß ich nicht. Einmal klebte sogar Kaugummi in ihrem geflochtenen Haar, das sie immer um den Kopf drapiert. Sie erzählte, es müsse im Schlaf passiert sein. Es dauerte Tage, bis sie alle klebrigen Reste rausgepfriemelt hatte.
»Mir wird von Kaugummi immer schlecht«, flüstere ich zurück.
»Na klar.« Marjorie denkt, ich veräppele sie. Aber es ist die Wahrheit. Ich konzentriere mich wieder auf den Direktor.
»Und dann ist es natürlich eine außergewöhnliche Ehre, dass nächsten Monat der berühmte niederländische Dirigent Mengelberg bei uns zu Gast sein wird …«
Mengelberg!
»… mit Mahlers Vierter Symphonie«, beendet Barnes seine Übersicht.
»Da muss ich dabei sein«, flüstere ich Marjorie zu. Ich bin vollkommen aus dem Häuschen. Marjorie schaut mich an, als wäre ich das siebte Weltwunder. Aber als sie in meinem Gesicht erkennt, dass ich es ernst meine, und Barnes nur noch zwei Schritte von mir entfernt ist, zischt sie mir zu: »Frag ihn einfach!«
Der Direktor bleibt vor mir stehen und begutachtet mich von oben bis unten. Der penetrante Geruch seines Achselschweißes dringt mir in die Nase. Seine Aufmerksamkeit habe ich wahrscheinlich dem Rüffel heute Abend zu verdanken, oder hat der Toilettenbesucher sich etwa doch über meine Anwesenheit auf dem Herrenklo beschwert? Ich verliere den Mut, den Direktor um etwas zu bitten. Schließlich bleibt sein Blick an meinem ausgefransten Kragen hängen.
»Besorge dir eine neue Bluse. Diese ist zerschlissen.«
Ich halte die Augen geradeaus auf die Wand gerichtet und nicke. Er überreicht mir die Lohntüte und geht weiter zu Marjorie.
»Mr Barnes? Sie würde gerne zu dem Konzert gehen«, sagt sie.
»Wie bitte?«
»Willy möchte zu dem Konzert von Mengelen.«
»Mengelberg«, verbessere ich sie schnell.
»Sag ich doch.«
Barnes wendet sich mir zu. »Unmöglich.«
»Aber …«
»Das Konzert war innerhalb eines Tages ausverkauft.«
Barnes geht weiter. Ich schlucke meine Enttäuschung hinunter und habe die Nase gestrichen voll davon, dass das Personal während der Konzerte keinen Zutritt zum Saal bekommt.
Als ich den Direktor einige Minuten später im Flur rieche und sehe, wie er sein Büro betritt, gehe ich doch noch nicht zum Personalausgang. Ich klopfe an die offen stehende Tür und bleibe auf der Schwelle stehen.
»Mr Barnes, können Sie mich dann auf die Warteliste setzen lassen? Bitte?! Nur dieses eine Mal?« Es erstaunt ihn, dass ich ihm gefolgt bin, das sieht man deutlich.
»Bitte?«, wiederhole ich.
»Fängst du jetzt an zu betteln?« Er schaut mich prüfend an. »Die einfachste Kategorie kostet einen Dollar.«
Als wüsste ich das nicht. Der teuerste Platz kostet zwei Dollar fünfundsiebzig. Als Studentin käme ich für fünfundzwanzig Cent hinein. Ich will das Geld aus meiner Lohntüte nehmen, aber er hält mich auf.
»Du musst erst bezahlen, wenn tatsächlich ein Platz frei wird.« Er nimmt seinen Füller und setzt meinen Namen mit zierlichen Buchstaben auf die Warteliste.
Pfeifend laufe ich die schier endlosen Treppenstufen der Mietskaserne hoch, in der meine Eltern ihre Wohnung haben. Ich weiß, dass es sich für Mädchen nicht schickt, laut zu pfeifen, aber heute ist mir das egal. Ich fühle mich innerlich ganz leicht.
Als ich die Wohnung betrete, gehe ich sofort in mein Zimmer und hole eine der Partituren hervor, die ich unter dem Bett versteckt habe. Ich setze mich auf den Rand des Bettes. Mit Ehrfurcht lese ich den Namen auf der Vorderseite: Gustav Mahler, Vierte Symphonie. Meine Augen gleiten gierig über die Notenblätter und die Anmerkungen, die ich mit rotem und