Durch Schatten gehen. Birgit Treckeler

Durch Schatten gehen - Birgit Treckeler


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      Durch Schatten gehen

      Roman nach einer wahren Begebenheit

      Birgit Treckeler

       Wenn man versteht, sich zu entscheiden zwischen dem, was man sich wünscht, und dem, was man wirklich braucht, kann es passieren, dass man den einen Menschen trifft, der einen vor sich selbst rettet.

       In Liebe und Dankbarkeit dem wichtigsten Menschen in meinem Leben gewidmet.

       Inhaltsverzeichnis

       1. Eiskalter Mittwoch

       2. Feiertage

       3. Auszug

       4. Weggeschlossen

       5. Italien - Anfang vom Ende

       6. Bonn

       7. Tiefpunkt

       8. Urlaubsfreuden

       9. Gruß aus der Vergangenheit

       10. Überflüssiger Sommer

       11. Harter Aufprall

       12. Endlich in Sicherheit

       Epilog

      1 Eiskalter Mittwoch

      Ein weiterer bitterkalter Abend in diesem Dezember. Schnee, Eisregen und Minusgrade begleiten uns nun schon seit Wochen, tagaus, tagein. Und auch tief drinnen in mir breitet sich diese Eiseskälte immer weiter aus, ergreift zunehmend Besitz von mir. Die Decke, die ich um mich geschlungen habe, kann die Kälte nicht vertreiben. In mir toben Aufregung, Unruhe, Erschöpfung und Angst – obwohl ich doch so dringend zur Ruhe kommen müsste. Das geht jetzt schon wochenlang so, Tag für Tag, Nacht für Nacht.

      Ich bin allein, meine Tränen fließen. Immer in solchen unbeobachteten Momenten bin ich offenbar unfähig, mit dem Weinen wieder aufzuhören. Mein Blick ist leer, mal starre ich die Wand an, mal die Zeiger der Uhr. Ich zerknülle das Taschentuch, werfe es achtlos zu den anderen nassgeweinten, die sich am Boden sammeln. Richte mich schwerfällig auf, sitze einfach nur da. Für viele Monate werde ich dem Weinen keinen Einhalt mehr gebieten können. Die Tränen, sie werden laufen und laufen, ganz ohne mein Zutun. Und einfach herabfallen.

      Ich hülle mich noch tiefer in die Decke ein, doch sie wärmt mich nicht. Lady und Ovambo, meine beiden Collies, werfen mir einen raschen besorgten Blick zu, als ich mich rege, gerade so, als wollten sie sich vergewissern, dass ich in Ordnung bin.

      Es ist Mittwochabend. Der Fernseher läuft im Hintergrund, ohne Ton, wirft seine gespenstischen Bilder in das ansonsten dunkle Zimmer. Ich warte auf Eberhard. Er ist gerade in einer Einzelsitzung mit unserem Paartherapeuten. Und es hängt so viel ab von diesem einen Gespräch – für mich, für ihn, für unser ganzes weiteres Leben. Denn dass es um nichts weniger als das geht, ist mir in den vergangenen Wochen mehr und mehr zur Gewissheit geworden.

      Die Vorstellung, dass in wenigen Tagen Weihnachten ist, verdränge ich bereits seit geraumer Zeit. Wie soll das nur aussehen in dieser Situation? Das Fest der Liebe feiern, unser Traditionsessen genießen, das wir jedes Jahr stets gemeinsam zubereitet haben, uns gegenseitig beschenken, während unsere Ehe in den letzten Zügen liegt? Es erscheint mir grotesk – und passt zugleich auch irgendwie in diese surreale Zeit.

      21.30 Uhr. Sein Auto fährt die Auffahrt hoch. Für einen kurzen Moment erhellen die Scheinwerfer den Raum. Mit untrüglichem Gespür machen unsere Hunde unter hunderten von Autos, die sich dem Grundstück nähern, auf Anhieb den Wagen ihres Herrchens aus. Und so sind sie auch bereits ungestüm und voller Vorfreude auf dem Weg zur Haustür, die Eberhard soeben öffnet.

      Noch ist er nicht in meinem Blickfeld, und doch ist mir jede seiner Bewegungen vertraut. Nach so vielen gemeinsamen Jahren kennt man einander blind: Er legt – wie immer – die Schlüssel aufs Bord, stellt die Schuhe ins Regal, hängt die Jacke an die Garderobe, schaltet das Handy ab, ehe es seinen gewohnten Platz auf der Kommode findet. Endlich betritt er den Raum. Unwillkürlich umfängt mich Angst. Mir ist kalt. Bitterkalt. Von den Hunden nimmt er diesmal kaum Notiz. Mich beschleicht eine düstere Vorahnung. Er setzt sich mir gegenüber in den Sessel, schaut mich eindringlich an.

      „Du weinst? Was ist los?“ In seiner Stimme schwingt ein Unterton, der mir gar nicht gefällt.

      „Ich kann nicht mehr, Eberhard“, bricht es aus mir heraus, die Stimme schon ganz heiser vom vielen Weinen, „ich kann einfach nicht mehr!“ Ich beginne hemmungslos zu schluchzen.

      Doch anstatt mich in die Arme zu nehmen, mir zu versichern, dass alles wieder gut wird, lehnt er sich noch tiefer in den Sessel zurück, entfernt sich noch weiter von mir.

      Er atmet tief ein, so als brauche er Mut für das, was er mir nun sagen will. „Ich habe gerade von unserem Therapeuten erfahren, dass du am Samstag bei ihm warst. Das hast du mir gar nicht erzählt“, weicht er vorwurfsvoll aus.

      Tatsächlich hatte ich mir am vergangenen Wochenende ohne Eberhards Wissen einen

      Einzeltermin bei Herrn Stegner geben lassen, denn nach der letzten gemeinsamen Sitzung hatten wir auf der Rückfahrt wieder bitterböse miteinander gestritten. Ich wollte einfach keine Reflexionsgespräche mehr führen, wollte mir von Eberhard nicht mehr anhören, wie traumhaft wir als Paar doch vor Jahren einmal funktioniert hatten. Und ich wollte auch nicht mehr über das reden, was heute davon noch übrig geblieben ist. Wollte nicht über vorhandene, verdeckte und verlorengegangene Gefühle nachdenken, mich nicht mehr mit den verbalen und stummen Vorwürfen auseinandersetzen, geschweige denn darüber reden. Mir fehlte inzwischen schlichtweg einfach die Energie für Fantasien, für Wünsche und für die alten Geschichten.

      Zu diesem Zeitpunkt war ich bereits völlig überfordert mit der ganzen Situation. Ich trat einen feigen und kraftlosen Rückzug an, verlor mich in Aggression, Vorwürfen und Distanz. Mehr und mehr führte ich mich jeden Tag auf wie ein verwundetes wildes Tier. Und bei unserem Therapeuten wiederholte ich immer wieder mit letzter Kraft, dass ich das alles nicht mehr wolle, dass ich diese Unterhaltungen nur noch als sinnlos, als reine Zeitverschwendung ansähe. Eberhard und ich sollten uns doch endlich trennen – das war alles, was mir dazu noch einfiel.

      Aber dieser im Grunde paradox formulierte Trennungswunsch war eigentlich nichts anderes als ein weiterer hilfloser Appell an meinen Mann, meinen katastrophalen Zustand in seinem ganzen Ausmaß endlich zu bemerken. Ich wünschte mir so sehr von ihm, endlich einmal Verantwortung zu übernehmen, für uns, für mich. Ich wünschte mir, dass er aktiv würde, dass er das für uns beide Richtige täte in dieser verfahrenen Situation. Bereits damals kam es mir unglaublich brutal und ignorant vor, dass er als mein Mann, mein Partner, mein engster Vertrauter blind dafür war, wie schlecht es mir seit langem schon ging. Hätte ich doch nur ein gebrochenes, eingegipstes Bein gehabt, das wäre wahrscheinlich selbst für ihn plakativer gewesen! Vielleicht hätte er dann verstanden, dass ein 400-Meter-Hürdenlauf für mich gerade nicht infrage kommt. Vielleicht aber hätte ihn das zu diesem Zeitpunkt auch schon längst nicht mehr interessiert …

      Aber die Beziehung tatsächlich beenden, ausziehen, das Haus verkaufen, unsere Ehe wirklich aufgeben, Eberhard verlieren, gar eine Scheidung – das kam in letzter und realer Konsequenz für mich überhaupt nicht infrage. Ich fühlte mich einfach nur völlig überfordert, ausgelaugt, mit meinen psychischen und physischen Reserven am Ende. Ich hatte auf Eberhards so oft beschworene Liebe gesetzt, auf sein Verständnis, das ich gerade jetzt so dringend brauchte. Genauso wie die Hoffnung, dass es schon irgendwie weitergehen wird, dass er sich um mich kümmern wird, wie auch ich mich all die Jahre um ihn gekümmert habe. Aber er begriff nicht, verstand mich nicht. Er glaubte nur an das, was für ihn offensichtlich war. Das allein zählte. Und er hatte sich sehr schnell mit der neuen Situation arrangiert, mit dieser bedrückenden Atmosphäre voller Distanz, Fremdheit und Sachlichkeit.

      So redete Eberhard in jenen Wochen auch kaum noch mit mir, ging zunehmend auf Abstand, was die Situation


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