Durch Schatten gehen. Birgit Treckeler
und blieb ohne jede Resonanz. Und dieser Schmerz ließ mich immer kälter und härter werden, bis ich schließlich auf Autopilot schaltete: Ich funktionierte lediglich nur noch im Alltag. Den Schmerz, die Gefühle des Alleinseins, der Überforderung und der Angst verschloss ich tief in mir und errichtete Mauern aus Gereiztheit und Getriebensein um mich herum.
Zum Glück ahnte ich zu diesem Zeitpunkt noch nicht, wie viele schmerzhafte Momente und bittere Erkenntnisse noch vor mir liegen sollten, ehe ich all das verstehen würde …
Erst vor wenigen Wochen noch hatte ich eine Überraschungsparty zu Eberhards Geburtstag organisiert, hatte alle seine und unsere gemeinsamen Freunde in unsere Lieblingspizzeria eingeladen – und sie waren der Einladung gerne gefolgt. Ich hatte so große Hoffnungen in diesen Abend gesetzt, wollte ihm eine Freude machen, wollte uns die Chance geben, endlich mal wieder lockerer miteinander umzugehen, einfach ein paar schöne gemeinsame Stunden zu verleben. Und ja, ich wollte ihm und auch unseren Freunden zeigen, dass wir noch immer unser Leben miteinander teilten und dass er mir nach wie vor wichtig war. Doch Eberhard hat an diesem Abend kein einziges Wort mit mir gewechselt, nicht einmal meine Nähe gesucht. Und am Ende hat er sich nur kurz und sachlich für den Abend bei mir bedankt, so als hätte ich ihm ein Buch geschenkt.
Jetzt also wurde es ernst. Tief in mir spürte ich, dass es mir nicht mehr lange gelingen würde, die Fassade, die ich um mich errichtet hatte, aufrechtzuerhalten. Ich brauche Hilfe. Ohne groß weiter zu überlegen, rief ich Herrn Stegner an, mit dem wir beide bereits einige gemeinsame Therapiegespräche hatten. Eberhard war an diesem Samstag mit einem Freund zum Fußball verabredet, ich war allein.
Nach nur zweimal Klingeln nahm Herr Stegner ab. „Bei mir bricht hier gerade meine Welt zusammen! Ich habe solche Angst, dass mir alles entgleitet, dass sich alles verändern wird“, überfiel ich ihn ohne weitere Einleitung. Nervös lief ich im Zimmer auf und ab, kraulte Lady wie nebenbei das Fell. Meine Schöne sah mich aus großen, traurigen Augen an und als ahnte sie die Gefahr, wich sie nicht von meiner Seite.
„Wie kann ich Ihnen denn helfen, Frau Ilkner?“, fragte Herr Stegner.
„Ich muss unbedingt mit Ihnen reden, geht das? Kann ich vielleicht heute noch zu Ihnen kommen?“
„Gerne können Sie kommen, am Nachmittag könnte ich es noch einrichten, wenn es bei Ihnen passt“, war seine rasche Antwort. Nachdem er mir sodann sachlich die Tarife für die Wochenendsprechstunde genannt hatte – doppelter Stundensatz plus Wochenendzuschlag –, verabredeten wir uns für den frühen Nachmittag.
Endlich bei Herrn Stegner angekommen, konnte ich nichts anderes mehr als weinen – der Startschuss für die Tränenflut, die mich in den kommenden Wochen und Monaten überschwemmen sollte. Instinktiv hatte ich erfasst, dass ich so nicht mehr weitermachen konnte. Ich spürte, wie mich alle Kraft verließ. Ich hatte keine Ahnung, warum das so war, ich wünschte mir nur, dass mir endlich jemand helfen würde und ich diesen Albtraum hinter mir lassen könnte.
„Ich erlebe Sie heute so ganz anders als bei unseren letzten Gesprächen mit Ihrem Mann, Frau Ilkner. Ich hatte wirklich den Eindruck gewonnen, dass Ihre Ehe für Sie bereits Geschichte ist. Stimmt das denn so gar nicht?“, sah er mich überrascht an und wartete auf meine Reaktion. Im Haus schlug irgendwo eine Tür zu, unwillkürlich zuckte ich zusammen. Was hatte er gerade gefragt? Meine Ehe, bereits Geschichte?
Seine Stimme riss mich aus meinen Gedanken. „Sie waren so kühl und distanziert in den letzten beiden Sitzungen hier, schienen nur noch wie genervt vom Gespräch mit
Ihrem Mann, als sei Ihnen das alles zu viel. Und jetzt diese Reaktion?“, wunderte er sich. Er füllte ein Glas mit Wasser, reichte es mir, nahm seine Brille ab, putzte sie, wartete ab. Er ließ mir Zeit, mich wieder zu fangen.
Ich brauchte mehrere Anläufe, ehe ich endlich sprechen konnte. „Ich habe Angst davor, dass er mich verlässt. Davor, dass es schon vorbei ist“, brach es aus mir heraus. „Ich will keine Trennung, ich schaffe das einfach nicht!“
Die Tränen liefen wieder unaufhörlich, es tat so weh. Herr Stegner reichte mir ein Taschentuch – Therapeuten haben immer eine Packung parat. Ich hatte ihn mit meinem Zusammenbruch wohl ziemlich überrascht. Er musste offenbar seine Ideen zu unserer Situation neu überdenken. Und vor allem musste er sein Bild von mir korrigieren. Aber wirklich erkannt, verstanden oder gar richtig interpretiert hatte er meinen unverkennbar alarmierenden Zustand nicht.
„Ich sehe Ihren Mann am kommenden Mittwoch zum Einzelgespräch, dann werden wir das Thema ja besprechen. Ich werde Ihre Ängste thematisieren und dann sehen, wie er reagiert“, verabschiedete er mich vage, nachdem ich mich wieder ein wenig im Griff hatte.
Auf der Fahrt nach Hause verließ mich alle Hoffnung. Ich wusste, ein einziger Windhauch würde genügen, um mein Kartenhaus endgültig zum Einsturz zu bringen. So lange hatte ich auf Zeit gespielt, die letzten Reserven aus mir herausgeholt. Jetzt spürte ich, dass der Zusammenbruch bevorstand. Wie nur sollte ich die nächsten Tage bewältigen?
***
An diesem eiskalten Mittwochabend also erzähle ich Eberhard von meinem Gespräch mit Stegner. Ich zeige mich ihm nun ganz ohne Maske, bin nicht länger die Kühle und Sachliche. Bin nur noch verzweifelt, am Ende, leer, ausgebrannt. „Zwischen uns läuft im Moment so vieles schief, Eberhard. Ich habe das Gefühl, dass uns alles entgleitet.“ Die Stimme bricht mir weg und in Gedanken flehe ich, er möge doch endlich mit mir reden. Heute, nach seiner Therapiestunde, würde er doch reden müssen! Ich warte auf ein paar rettende Worte von ihm. Doch es kommt anders.
„Es ist vorbei, Britt. Aus! Vorbei! Ich habe einfach keinen Bock mehr!“ Er schaut mich an, kalt, eiskalt.
Seine Antwort versetzt mir einen absoluten Tiefschlag, ich bin wie erstarrt. Damit hatte ich wirklich nicht gerechnet. „Was hast du gerade gesagt?“, höre ich mich von Weitem fragen. Mir läuft es kalt den Rücken herunter, das Atmen vergesse ich.
„Es ist Schluss, das war’s! Ich bin einfach nicht mehr glücklich mit dir, mit uns. Und ich fürchte, dass sich das auch nicht mehr ändert.“ Eberhards Stimme ist sachlich, fast schneidend. So einfach ist das also! Er verlässt mich tatsächlich. Wie kann er das tun, jetzt, in diesem Moment? Eberhard, meine ganz große Liebe, der Mann meines Lebens, mein Halt, mein Partner, mit dem ich alles geteilt, dem ich immer vertraut habe. Er vernichtet mich mit diesen wenigen Worten, beendet unsere Beziehung mit diesen wenigen Worten – nach neun Jahren?
Darum beschützen wir unser Herz so besonders und verschenken es so selten, denn es ist so ungeheuer zerbrechlich. Jetzt erst verstehe ich diesen Sinnspruch.
Mit Eberhard, davon war ich stets überzeugt gewesen, hatte mein Leben erst wirklich angefangen. Was haben wir uns alles gemeinsam aufgebaut! Wie hatte er damals, nach unserem Kennenlernen, um mich gekämpft! Wollte um jeden Preis ein gemeinsames Leben mit mir, unser Leben auf der Überholspur. Und war ich nicht immer für ihn dagewesen? Hatte ihn unterstützt in seinen schwierigen Jahren, nach der Trennung und Scheidung, in finanziellen Nöten, als die Unterhaltszahlungen für seine Ex und die Kinder sein Gehalt aufzehrten? Durch dick und dünn – oder wie war noch gleich das Versprechen gewesen bei unserer Heirat? Aber bei Eberhard also doch immer nur Liebe auf Zeit? Liebe nur in guten Zeiten? Wieder einmal? Also auch mit mir?
Ich fühle mich wie eine kostbare gläserne Vase, hübsch anzusehen, ein ganz besonderes Sammlerstück in der Vitrine meines Mannes. Doch diese Vase hat er mit der Zeit immer seltener hervorgeholt und betrachtet, immer seltener den Staub abgewischt. Nun lässt er sie fallen – und sieht dabei zu, wie sie zerspringt. Ich bin zersplittert in Hunderte kleiner Glasscherben und ich habe keine Kraft mehr, mich aufzusammeln. Geschweige denn, mich jemals wieder zusammenzusetzen.
Ich atme tief durch, kann nicht begreifen, dass Eberhard alles wegwirft, mich wegwirft und unser gemeinsames Leben. „Verstehe“, antworte ich mechanisch – doch nichts verstehe ich. Aber ich bettele nicht nach weiteren Erklärungen. Könnte kein einziges Wort mehr von ihm ertragen. Er erhebt sich und berührt mit einer fahrigen Bewegung seiner Hand meine Schulter, als wolle er mich beschwichtigen. Er wirkt erleichtert. Das Schlimmste hat er offensichtlich gerade hinter sich gebracht.
„Ich