Der Dozent. Stefan Meier

Der Dozent - Stefan Meier


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dazu auf, Fotos von ihren Notizen und Ausarbeitungen in die Gruppe zu senden, damit dies bei der Planung berücksichtigt werden konnte, doch weder hatte sie schon irgendetwas ausgearbeitet, geschweige denn Notizen angefertigt. Also wurde die Nachricht ignoriert und das Handy auf lautlos gestellt. Aus den Augen aus dem Sinn. Wenn sie irgendjemand beim nächsten Mal darauf ansprechen würde, dann würde sie behaupten, dass sie es wegen ihrer Schmerzen schlichtweg überlesen habe und dabei ihren Hundeblick aufsetzen, den sie über die Jahre perfektioniert hatte.

      Gegen 13 Uhr sprang sie unter die Dusche und nahm sich eine Stunde für ihr Beautyprogramm Zeit. Eine knappe halbe Stunde stand sie unter der Dusche und ließ sich vom angenehm warmen Wasser der Duschbrause verwöhnen. Die Nebenkosten würde sowieso ihr Papa bezahlen. Darauf folgten diverse Lotionen und eine Gesichtsmaske aus Aktivkohle. Sie ging, in ihren Bademantel gehüllt, wieder auf das Sofa und bemerkte, dass He’s a pirate mittlerweile zum vierten Mal an diesem Tag gespielt wurde und die Passanten erneut zum Applaus ansetzten.

      Der Nachmittag verstrich, ohne dass irgendetwas Nennenswertes passierte. Ein wenig Social Media hier, ein bisschen Fernsehen da, und ab und an einen Snack aus der Küche holen. Gegen fünf Uhr wurde eine Salamipizza in den Backofen geworfen. Mittlerweile setzte die Dämmerung ein und die Straßenmusikanten hatten bereits ihre Instrumente zusammengepackt und waren verschwunden. Wann genau sie zu spielen aufgehört hatten, konnte sie nicht sagen. Irgendwann wurde das Geklimper zu weißem Rauschen und sie konnte es einfach ausblenden.

      Nachdem sie ihre Pizza gegessen und den Teller in die Küche gebracht hatte, klingelte ihr Handy. Ihr Vater rief an. Obwohl sie keine Lust auf irgendwelche Gespräche oder gar Diskussionen hatte, nahm sie das Gespräch an. „Heeeey“, fing sie an und gab sich dabei äußerste Mühe, freundlich und begeistert zu klingen.

      „Na Schatz, wie geht es dir?“, hörte sie es aus dem anderen Ende der Leitung hallen.

      „Soweit eigentlich ganz gut. Typischer Unistress“, seufzte sie laut. „Heute stand bereits ein Gruppentreffen an. So viele Referate und Hausarbeiten schon, dabei hat das Semester gerade erst begonnen.“

      „Du bist so fleißig! Wir sind stolz auf dich! Ich soll dich lieb von Mama grüßen.“

      „Danke, Gruß zurück. Was gibt es?“

      „Ich habe einen Brief von der Versicherung bekommen. Ich brauche dringend eine Immatrikulationsbescheinigung von dir – also der Nachweis, dass du studierst. Kannst du mir den bitte schnellstmöglich per Post schicken?“

      Sie seufzte wieder. „Ja, wenn ich wieder ein wenig mehr Luft habe, dann gerne …“, sagte sie in einem künstlichen, bedrückten Ton.

      „Danke, meine Liebe, das ist aber wirklich dringend. Sonst muss ich mehr für die Kfz-Versicherung deines Autos zahlen.“

      „Ja, ich werde dran denken. Du, Papa, hör mal … Denk bitte nochmal über das Geld für die Verpflegung nach. Es ist fast Monatsende und ich habe noch kaum etwas. Vielleicht anfangs nur fünfzig Euro im Monat mehr, das würde mir sehr helfen, bitte …“

      Es wurde einen kurzen Moment still am anderen Ende. „Ich werde mit Mama darüber reden, aber schick bitte Montag direkt die Bescheinigung, damit ich das fertig machen kann, in Ordnung?“

      „Werde ich. Du, ich muss jetzt auch Schluss machen. Bis Montag soll ich noch einiges gelesen haben. Ich melde mich bald. Tschüssi.“

      „Tschü –“, doch sie hatte das Telefonat bereits beendet und sich erneut dem Fernseher zugewandt. Mittlerweile lief eine Tiersendung über den Tierpark Hagenbeck auf dem NDR. Draußen wurde es dunkler und sie beugte sich über das Sofa, um ihre Stehlampe anzuschalten, die den Raum in ein warmes Gelb tauchte. Es war still geworden und auch ein Großteil der einkaufswütigen Passanten war verschwunden. Einige Pärchen waren händchenhaltend zu sehen und Hundebesitzer drehten mit ihren Tieren noch eine Runde durch die Nachbarschaft. Wieder summte das Handy. Hey Liebes. Heute Einweihungsfeier bei Christian?! Die Nachricht stammte von ihrer besten Freundin Caro und war verziert mit vielen Herz-Emojis. Südergraben. Wo die lauten Bässe zu hören sind. Beginn um 21 Uhr. Ich treff dich da? Hab uns Wein gekauft!

      Und damit war die Abendplanung gerettet! Party, Alkohol und Caro – der perfekte Samstagabend! Sie antworte auf die Nachricht, erzählte von ihrer Aktion mit der Gruppenarbeit und beide lachten ausgiebig darüber. Sie und Caro waren vom selben Schlag. Warum arbeiten, wenn andere dies übernehmen konnten? In einem Insektenstaat wären sie die Königinnen gewesen, umgeben von einer Schar Arbeiterbienen. Auf ihre Gruppenmitglieder würde sie auf der Party nicht stoßen. Sie verkehrte in anderen Kreisen und war sich hundertprozentig sicher, dass ihre Gruppe lieber am Samstagabend für Referate und Prüfungen büffelte, als das Leben in vollen Zügen zu genießen. Sie sah noch ein wenig fern und gegen halb neun ging sie ins Bad, um ihr Make-up aufzutragen und ihre Haare zu glätten. Ein Kleid wäre zu viel gewesen, deshalb zog sie sich lässig an, achtete aber darauf, trotzdem möglichst sexy auszusehen. Mittlerweile war knapp eine Stunde vergangen, aber wenn eine Party um neun beginnt, dann kam die Elite immer etwas später. Sie ließ sich im Bad und bei der Auswahl ihrer Garderobe alle Zeit der Welt. Nachdem sie ihr ausgiebiges Ritual vollendet hatte, griff sie nach ihrer Handtasche, zog ihre Jacke an und schloss die Haustür hinter sich. Im Treppenhaus war es kühl, denn die Fenster standen noch offen. Sie fluchte über ihre Nachbarn und sprang die Treppenstufen schnell herunter. Von ihrer Wohnung aus war der Südergraben nicht weit, kurz die Fußgängerzone nach links entlang zur St. Nikolaikirche. Dann hinter der Kirche den Schleichweg zum Amtsgericht hoch und nach rechts in den Südergraben einbiegen. Höchstens zehn Minuten Fußweg, wenn überhaupt. Draußen waren nur noch junge Leute unterwegs, die in die andere Richtung zur Disco wollten. Einige von ihnen, hauptsächlich junge Männer, waren sichtlich angetrunken und in den Rucksäcken konnte man die eine oder andere Flasche Oldesloer Korn oder billigen Vodka klappern und klimpern hören.

      Sie war bei der Nikolaikirche angekommen und stieg an der rechten Seite die Treppen hoch. Norddeutsches Flachland traf auf diese Stadt wirklich nicht zu. Radfahrer würden dies sofort bestätigen, auch wenn sie selbst nicht dazu gehörte. Sie hatte schließlich ihren VW und fand Fahrradfahren einfach zu anstrengend. Bei diesem feuchten Wetter war das Kopfsteinpflaster sehr rutschig und ein- oder zweimal hätte sie beinahe ihre Balance verloren. Im Winter bei Schneematsch und Temperaturen unter null wäre es noch viel schlimmer.

      Auf dem Schleichweg gab es keine Laternen und die große Kirche schirmte sehr viel Licht von der Fußgängerzone ab, sodass es schwer war, etwas zu erkennen. Sie kannte den Weg aber gut und war ihn schon oft im Dunklen gelaufen. Der Wind rauschte durch die Blätter und brachte die Äste der alten Eichen hinter der Kirche zum Knarren und Ächzen. Einige Tauben stoben fluchtartig auf und flogen über die Kirche. Juliane hörte ein leises Knacken hinter sich und versuchte sich schnell umzudrehen. Aus dem Augenwinkel sah sie eine schwarzgekleidete Person mit Maske und Kapuze auf sie zu schnellen. Sie spürte, wie ihr ein feuchter Lappen auf Nase und Mund gedrückt wurde. Sie strampelte und wedelte mit ihren Armen, aber es half nichts. Dann wurde alles um sie herum dunkel …

       2

      Als Juliane zu sich kam, schreckte sie auf, stieß sich ihren Kopf und sackte wieder in sich zusammen. Es war um sie herum dunkel, aber sie spürte aber einen feinen Stoff um ihre Schläfen. Ihre Augen waren verbunden! Das Herz begann sofort zu rasen, der Herzschlag, ein lautes Dröhnen, war bis in die Ohren zu spüren. Schnappatmung setzte ein und Panik brach aus. Hektisch versuchte sie ihre Arme und Beine zu bewegen, aber sie musste sich schnell eingestehen, dass die Füße zusammengebunden und die Bewegungsräume eingeschränkt waren. Die schnellen, unkontrollierten Bewegungen ließen die Kabelbinder ins Fleisch schneiden und es fing an zu brennen. Sie konnte alle Finger bewegen, nur die beiden Daumen waren hinter ihrem Rücken, ebenfalls mit einem Kabelbinder, zusammengeschnürt.

      So lag sie da, hilflos auf dem Bauch im Dunklen. Ihr Atem hatte sich ein wenig beruhigt, die hektischen Bewegungen nachgelassen. So langsam dämmerte Juliane, in welch gefährlicher Situation sie sich befand. Sie brach in Tränen aus. Ein langes und wehleidiges Wimmern. Die ersten Tränen rollten über ihre Wangen. Dieses Häufchen Elend hatte nichts mehr mit der Person


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