Der Dozent. Stefan Meier

Der Dozent - Stefan Meier


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hatte.

      Mit einem Ruck wurde sie nach oben geschleudert. Sie stieß sich erneut heftig den Kopf und fiel danach unsanft auf den Boden. Ihr Kinn schlug zuerst auf, sie biss sich schmerzhaft auf ihre Zunge. Sie versuchte zu schreien, aber die Kraft ihrer Stimme klang sehr gedämpft. Der Geschmack von Blut breitete sich im Mundraum aus, Juliane begann zu würgen. Vibrationen begannen sie hin und her zu schütteln und sie fühlte sich wie ein kleines Boot bei starkem Seegang. Hilflos der rauen Naturgewalt ausgeliefert.

      Sie versuchte sich trotz der verbundenen Augen zu orientieren. Sie nahm den Geruch von abgestandener Luft und altem Öl wahr und das dumpfe Surren eines Motors und das Kratzen von Reifen auf Schotter und Sand. Sie war in einem Kofferraum gefangen.

      Das Auto bog von der Landstraße auf einen langen, unebenen Schotterweg ab. Das Terrain wurde ungleichmäßiger und sie wurde immer heftiger hin und her geworfen. Um sich dagegen einigermaßen zu schützen, versuchte Juliane sich in Embryonalstellung zu begeben, so gut es eben mit gefesselten Armen hinter den Rücken ging. Ihr Schweiß hatte bereits ihre Klamotten durchweicht, ihr wurde schlagartig sehr kalt. Sie begann zu zittern. Was passiert hier? Wo bin ich? Wo fahren wir hin? Wer fährt den Wagen? All diese Fragen spukten in ihrem Kopf umher. Keine konnte sie mit Sicherheit beantworten und jede Sekunde kamen etliche neue hinzu. Reflexartig schossen ihre Beine nach vorne, wurden aber von den Wänden des Kofferraums abgefangen und als Strafe schnitt der Kabelbinder noch tiefer ins Fleisch. Sie versuchte das Blut aus dem Mund zu spucken, verschluckte sich dabei und begann zu husten und zu würgen. Da war sie wieder, die gnadenlose Panik. Erneut setzte die Schnappatmung ein. Sie hatte das Gefühl, schon ewig in diesem Kofferraum zu liegen, aber in Wirklichkeit waren erst zwei Minuten vergangen, seitdem das Auto auf den Schotterweg eingebogen war.

      Sie schloss ihre Augen und betete, dass dieser Alptraum schnell zu Ende gehen und sie in ihrem Bett aufwachen würde. Ein kleiner Ruck ging durch den Kofferraum und der Wagen wurde langsamer, rollte ein Stück und blieb schließlich stehen. Schnell drückte sie ihren Kopf fest gegen die Wand und rieb den Kopf mit Gewalt hoch und runter. Die ersten Male passierte nichts, doch beim vierten Anlauf lockerte sich die Augenbinde und Juliane konnte sie über ihren Kopf abstreifen. Ihr Herz raste immer schneller. Was passiert mit mir? Was ist das hier? Sie hörte eine Autotür mit Wucht zuknallen und zuckte zusammen. Die Klappe des Kofferraums wurde mit Gewalt aufgerissen und Juliane versuchte, sich mit Kraft hochzustemmen und zu schreien. Über die Schwelle des Kofferraums hinweg sah sie – nichts. Es war dunkel, mitten in der Nacht. Sie waren irgendwo auf das Land gefahren, fernab von jeglicher Zivilisation. Gras und Einöde soweit das Auge reichte. Ein Stückchen weiter links waren einzelne Bäume zu erkennen – vielleicht der Rand eines Waldes? Der Himmel war mit Wolken bedeckt, Mond und Sterne waren nicht sichtbar. Sie drehte ihren Kopf und sah einen dunkel gekleideten Mann mit Maske und Kapuze vor ihr aufragen. Mit der einen Hand hielt er noch den Griff des Kofferraums. Er trug schwarze Lederhandschuhe. Ihr Atmen stockte. Sie brachte kein Wort, keinen einzigen Ton heraus. Sein Kopf drehte sich in ihre Richtung. Schweißperlen liefen ihr kalt den Rücken herunter. Auch wenn die Maske sein Gesicht verdeckte, spürte sie, dass seine Augen sie in diesem Moment durchbohrten. Mit der anderen Hand griff der Mann in seine Jackentasche und holte einen hellblauen, mit Chloroform getränkten Lappen hervor. Juliane wusste, was passieren würde, und wollte sich an ihm vorbei aus dem Wagen winden, doch der Mann nahm die Hand vom Griff und drückte sie erbarmungslos zurück auf den Boden des Kofferraum. Sie versuchte Luft zu holen, doch bevor sie ihre nächste Aktion überdenken konnte, presste er ihr den Lappen auf Mund und Nase. Sie wehrte sich mit allen Kräften, versuchte ihn zu beißen, ihm weh zu tun, erwischte aber nur den Stoff und etwas Süßliches breitete sich in ihrem Mund aus. Sie zappelte heftig, wild, wie von Sinnen – die Welt begann jedoch bereits an den Rändern zu verschwimmen, ihre Bewegungen wurden langsamer, letztendlich wurde ihr schwarz vor Augen und sie sackte kraftlos auf den Boden des Kofferraums.

       3

      Der Raum war karg eingerichtet. Außer einer Gefriertruhe, einem rostigen Wasserhahn samt Plastikwanne, einem Ledersessel in der Mitte des Raums und alten Werkzeugen sowie Seilen an der Wand war der Raum komplett leer. Er wirkte durch seine Größe noch viel leerer. Etwa acht Meter in der Länge und vier Meter in der Breite. Wenn überhaupt. Die Wände und der Boden waren aus Beton, eine Tür an der kurzen Seite neben der Gefriertruhe war der einzige Ein- und Ausgang. Das Dach bestand aus Wellblech, welches von schmalen, aber robusten Doppel-T-Trägern getragen wurde. Ein Fenster gab es nicht. Die einzigen Lichtquellen waren zwei Glühbirnen, die nackt von der Decke hingen. Eine flackerte zudem leicht. Feine, aufgewirbelte Schmutzpartikel schwebten durch die Luft und brachen die Lichtstrahlen, sodass der Raum heller erschien.

      Das Licht offenbarte zwei Schattengestalten, die sich ebenfalls im Raum befanden. Der eine Schatten saß starr auf dem Sessel in der Mitte und blickte hoch zu dem wesentlich größeren Schatten, der wiederum mit gesenktem Haupt den kleineren Schatten anzuschauen schien. Eine unheimliche Stille lag in der Luft, nur durchbrochen von dem sanften Brummen der Gefriertruhe und dem leisen Pling der flackernden Glühbirne. In dieser Atmosphäre hätte man bekanntlich die Stecknadel fallen hören. Die Zeit verging, aber wie viele Sekunden, Minuten oder gar Stunden vergangen waren, seitdem Juliane aus dem Kofferraum geschleppt wurde, wusste niemand. Die eine nicht, weil sie nicht konnte, der andere nicht, weil er nicht wollte.

      Er saß im Sessel und wartete darauf, dass sie endlich aufwachen würde. Damit die Dinge ihren Lauf nehmen konnten. Sein Blick schweifte im Raum umher. Eine wunderbare Umgebung. Ruhig, abgelegen, robust – einfach perfekt für sein Vorhaben. Alles, was er brauchte, war bereits vor Ort. Einfacher ging es nicht. Er tippte abwechselnd mit Zeige-, Mittel- und Ringfinger auf die Armlehne des Ledersessels. Nicht aus Ungeduld, denn die Nacht war noch lang genug, sondern zum reinen Zeitvertrieb. Die Maske störte ein wenig beim Atmen, aber daran hatte er sich bereits gewöhnt. Ebenso an die wuchtigen Lederhandschuhe und sein komplett schwarzes Outfit. Eine zweite Identität sozusagen. Wie Peter Parker und Spider-Man oder Superman und Clark Kent. Er und sein schwarzes Outfit. Nur einen Namen hatte er dafür nicht, denn das wäre absurd. Sein Blick fiel auf den Boden und er bemerkte ein kleines Rinnsal, das in Richtung des Sessels floss. Es hatte also begonnen … Just in diesem Moment sah er, dass der zweite Schatten leicht zuckte. Sie wurde also wach. Endlich.

      Juliane stand in aufrechter Pose etwa zwei Meter vom Sessel entfernt, als sie langsam wieder zu Bewusstsein kam. Der Kopf hing schlaff herab und ihr Blick war noch unscharf. Sie nahm verschwommen die Kanten des Raumes, die beiden Glühbirnen, den Sessel und die restlichen Objekte wahr. Sie realisierte, dass auf dem Sessel jemand saß, doch im Moment waren das zu viele Informationen, um sie richtig zu verarbeiten. Benommen kreisten ihre Blicke umher. Vom Sessel zur ersten Glühbirne, von der ersten Glühbirne zur Gefriertruhe, von der Gefriertruhe zur Tür, von der Tür zum Sessel und … dem Mann! Auf einmal drehten sich die Bilder in ihrem Kopf rasant und sie durchlebte erneut die Ereignisse der letzten Stunden. Fußgängerzone, Kirche, Schleichweg, Überfall, Kofferraum … hier … Der Herzschlag dröhnte in ihren Ohren …

      Aber irgendetwas wirkte surreal, verzerrt. Wieso ist der Mann so klein? Wieso bin ich so weit vom Boden entfernt? Dann neigte sie ihren Kopf weiter nach unten und bemerkte, dass sie auf einer Art Holzpodest stand und sich darunter eine Pfütze angesammelt hatte. Wo kommt das Wasser her? Ihre Daumen waren noch immer hinter dem Rücken zusammengebunden. Sie bemerkte zudem etwas Hartes, das an Hände, Gesäß und ihren ganzen Rücken drückte. Ein Pfahl oder ein Rohr musste es sein, als sie mit ihren Fingern entlangfuhr. Sie ruckelte mit den Schultern und Beinen und nach einem weiteren Kopfdrehen musste sie sich eingestehen, dass sie auch an diesen Stellen angebunden war. Außerdem spürte sie eine Last auf ihren schmalen Schultern. Keine metaphorische Last, sondern eine reelle, die sie zwar nicht in Richtung des Bodens drückte, aber auf Dauer ein unangenehmes Gewicht hatte. Wieder drehte sie ihren Kopf und merkte, dass auf ihren Schultern ein weiteres Seil lag. Rundherum um ihren Hals, angebunden am Träger an der Decke – eine Schlinge! Der Schreck fuhr ihr eiskalt durch die Glieder. Dann verspürte sie eine heiße Wut in sich aufsteigen.

      „Warum tust du mir sowas an?“, schrie sie ihn zornig aus ganzer Seele an. „Was habe ich dir getan? Warum tust du sowas?“ Der Mann im Sessel gab keine Regung von sich – noch nicht. Könnte es sein, dasser …?

      Sie


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