Der Dozent. Stefan Meier

Der Dozent - Stefan Meier


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meckern. Die Möbel waren bunt zusammengewürfelt, sie stammten entweder noch von zu Hause, von IKEA oder gebraucht über eBay Kleinanzeigen. Optisch passte nichts zusammen, aber Funktionalität ging über Ästhetik. Wen störte es schon, wenn die Schränke, Kommoden und Regale braun, beige und cremefarben waren, sofern sich darin genügend Stauraum befand. Außerdem lenkten die Poster und Fotocollagen davon ab. Ein Poster des Sydney Opera House zierte Natalies Wand, die Niagara Fälle und eine Elefantenfamilie hingen bei Lilly im Zimmer.

      Beide waren der festen Überzeugung, das beste Zimmer der WG zu haben, obwohl sie von der Fläche gleichgroß und gleichgeschnitten waren. Lilly hatte das Zimmer mit dem Fenster in Richtung Osten und die Morgensonne weckte sie im Frühling und Sommer recht angenehm.

      Natalie war kein Morgenmensch und verzichtete freiwillig auf das Zimmer. Bei ihr hatte sie mit dem Südwestfenster am späten Nachmittag die Sonne im Zimmer und daher standen am Fenster ein Lesestuhl samt Hocker und ein kleiner Beistelltisch daneben. Wenn Natalie nachmittags ihre Bücher las und die letzten Sonnenstrahlen des Tages genoss, dampfte oft ein Früchtetee auf ihrem Tisch.

      Die hatten sich am allerersten Tag im ersten Semester kennengelernt. Sie harmonierten wunderbar zusammen und wurden in kürzester Zeit die besten Freundinnen. Natalie war mit ihren 23 Jahren zwei Jahre älter als Lilly, aber das störte niemanden. Beide studierten an der Pädagogischen Hochschule und hatten das Ziel, einmal Lehrerin zu werden. Sie wählten die Germanistik als Studienfach, Natalie wählte außerdem Geografie. Bei Lilly war es anders. Sie hatte unheimlich viele Interessen und ärgerte sich, dass man sich nur für zwei Fächer entscheiden konnte. Daher belegte sie offiziell noch Mathematik und inoffiziell Biologie und Anglistik, sofern es ihr enger Terminkalender zuließ. Sie bestätigte damit das Klischee des typischen, japanischen Strebers. Naja, nur halb, denn ihr Vater war Deutscher und ihre Mutter Japanerin, die Ende der achtziger Jahre aus Berufsgründen nach Deutschland gekommen war.

      Lilly hatte dunkle Haare, braune Kopfaugen und trug lieber Kontaktlinsen als ihre Brille. Ihr rundes Gesicht erinnerte Natalie manchmal an einen Panda und sie musste sich immer ein Grinsen unterdrücken, wenn Lilly Salat aß oder Salzstangen knabberte, denn dann sah sie einem Pandababy verblüffend ähnlich, das auf Bambusstangen kaute. Wegen ihrer Größe von nur knapp über anderthalb Metern verglich Natalie ihre Freundin liebevoll mit einem Pandababy und keinem ausgewachsenen Panda.

      Natalie war kaum größer, vielleicht einen halben Kopf. Die hellbraunen Haare reichten ihr nicht ganz bis auf die Schulter, blaue Augen und eine schmale Nase zierten ihr Gesicht. Natalies Outfits bestanden größtenteils aus C&A. Einerseits konnte sie sich keine anderen Marken leisten, aber andererseits sah sie es nicht ein, mehr Geld für ein Markenprodukt zu zahlen, das genau gleich aussah. Bei dem Gedanken, dass einige Leute vierzig Euro oder mehr für ein weißes Hugo Boss T-Shirt ausgaben, wenn man für den gleichen Preis acht Stück kaufen konnte, musste sie immer wieder den Kopf schütteln.

      Lilly war heute Morgen durch die ersten Sonnenstrahlen des Tages wachgekitzelt worden und huschte durch die Wohnung. Der verführerische Geruch von Pfannkuchen weckte Natalie und ehe sie sich aufrecht hinsetzen konnte, stürmte Lilly bereits ins Zimmer und hielt ihr die nach Zimt und Zucker duftenden Pfannkuchen unter die Nase. Beide grinsten, setzten sich an den Schreibtisch und aßen. Nachdem beide gefrühstückt und sich geduscht hatten, zogen sie ihre Jacken an, schnallten sich ihre Rucksäcke auf und machten sich auf den Weg in die Innenstadt.

      „Viel besser als Bus zu fahren!“, sagte Lilly.

      „Auf jeden Fall“, erwiderte Natalie.

      „Ich habe eine riesige Liste gemacht, was ich brauche. Ein Dutzend Collegeblöcke, Notizzettel und Marker in unterschiedlichen Farben, mindestens fünf Kugelschreiber, einen neuen Terminplaner und zehn Ordner – man kann nie genügend Ordner haben!“

      Natalie lächelte und verzog ihre Miene. Zwar würde sie sich als fleißig und ordentlich bezeichnen, aber mit Lillys Fanatismus konnte sie beim besten Willen nicht mithalten. Ihr Zimmer glich einer Mischung aus Bibliothek und Museum. Alles hatte seinen Platz und die lange Wand war von mehreren Bücherregalen bedeckt, in denen Ordner und Bücher unterschiedlichster Genres und Sprachen minuziös angeordnet waren. Es hatte seine Vorteile. Als Mitbewohnerin musste sie sich nie neue Bücher kaufen. Sie ging einfach über den Flur in die Bibliothèque de Lilly und wurde schnell fündig.

      „Dieselben Sachen brauche ich auch, nur deutlich weniger von allem …“ Beide mussten lachen.

      Sie gingen durch den Stadtpark und sahen, dass viele junge Eltern mit ihren Kindern den ersten schönen Samstag des Jahres nutzten und auf dem Spielplatz unterwegs waren. Der Stadtpark war hoch gelegen und weil noch keine Blätter an den Bäumen waren, bot er einen schönen Blick auf die Flensburger Förde und die Werft. Das Wasser war spiegelglatt und es waren nur kleine Wellen zu sehen, wenn Möwen oder Stockenten auf der Oberfläche landeten. Ein kleines Stück weiter gab es einen Ausblick auf die Innenstadt. Der Museumsberg auf der anderen Seite der Förde war gut zu erkennen und ragte über die Innenstadt hinaus. Es wäre eine schöne Ansicht gewesen, wäre da nicht das Karstadt-Gebäude. Die Fassade musste einmal in einem strahlenden Weiß geglänzt haben, aber das war bestimmt schon Jahre her. Mittlerweile ähnelte die Farbe dem Himmel im Spätherbst und Winter. Grau, einfach nur grau …

      Sie stiegen die Treppen hinab in Richtung Hafenspitze und sahen eine Gruppe rüstiger Senioren, die mit ihren Fahrrädern fuhren und bei ihrem Tempo den einen oder anderen jungen Radfahrer überholten. Zu ihrer Rechten konnte man den Fischmarkt sehen und vor allem riechen, aber es war ein angenehmer Geruch, fand Natalie. Bei der Hafenspitze tummelten sich viele Leute, dicht an dicht saßen sie auf den Bänken und Treppenstufen. Die beiden Imbissbuden hatten das Wetter ausgenutzt und verdienten sich mit dem Verkauf von Fischbrötchen, Würstchen, Hamburgern, Softdrinks und Bier ein goldenes Näschen. Zwei Kleinkinder fütterten die Enten, die in der Hafenspitze schwammen, und ein alter Mann in Gummistiefeln ließ seine Angelrute ins Wasser schnellen.

      „Endlich ist mal wieder Leben hier. Im Winter ist es hier immer wie ausgestorben“, sagte Lilly.

      „Ja, aber was soll man im Winter hier auch unternehmen?“, entgegnete Natalie.

      „Wir haben den Weihnachtsmarkt, den Punschwald und äh –", sie zuckte mit den Schultern und grinste. „Du hast ja recht.“

      Nach kurzem Schweigen fragte Natalie: „Sag mal, hast du deinen Stundenplan schon zusammengestellt?“ Eine doofe Frage. Sobald Ort und Zeit für die einzelnen Kurse im Netz veröffentlich wurden, versuchte Lilly akribisch möglichst viele zu belegen. Die Priorität lag bei ihren beiden offiziellen Fächern, aber das hielt sie nicht davon ab, noch fünf oder sechs zusätzliche Kurse zu belegen. Rein aus Interesse.

      „Ja, habe ich, aber die Übung zur Arithmetik und Elemente der Zahlentheorie überschneidet sich mit der Ökologie-Vorlesung. Genauso ist es mit dem Forschungskolloquium zur Sprachdidaktik und der Vorlesung zu amerikanischer Literatur …“, seufzte sie.

      „Du wirst es irgendwie hinbekommen. Gönn dir aber auch mal eine Pause, sonst gehst du noch kaputt!“

      „Du hast ja recht …“

      Mittlerweile hatten sie den ZOB überquert und waren in der Fußgängerzone angelangt. Wegen der vielen Menschen kamen sie nicht oft hierher, im Gewusel fühlten sich beide immer ein wenig fehl am Platze. Aber wenn man so selten hier war, dann konnte man immer neue Geschäfte entdecken, die eröffnet hatten – Woolworth, eine neue Filiale der Sparkasse und ein paar Klamottenläden, deren Name sie schon mal gehört hatte, aber sich nicht dafür interessierte. Im Schaufenster waren Jacken für knapp dreihundert Euro ausgestellt und darum gingen beide schnell weiter.

      Ein weiterer Grund, warum Natalie die Innenstadt mied, waren die ganzen Spendenorganisationen, die ihre Pavillons aufschlugen und versuchten, Passanten zum Spenden zu bewegen. Dabei waren die Organisationen nichts Schlimmes, im Gegenteil … Brot für die Welt … WWF … sie alle versuchten, die Welt zu einem besseren Ort zu machen. Das respektierte sie sehr, aber diese Spendeneintreiber stellten sich immer in den Weg und versuchten mit Händeschütteln eine Konversation zu starten.


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