Der Dozent. Stefan Meier
sein.
„Tut mir leid, ich habe ganz vergessen zu fragen. Wie ist dein Name?“
„Ich heiße Natalie Wagner.“
„Max Schmidt, freut mich sehr.“ Er reichte ihr die Hand. „Ich finde es immer höflicher, Leute direkt mit ihrem Namen anzusprechen.“
„Ich auch, aber ich wollte einen Dozenten nicht nach seinem Namen fragen“, gestand sie.
„In der Mittagspause von zwölf bis zwei Uhr bin ich auch nur ein ganz normaler Mensch. Ab zwei Uhr kann ich ruhig wieder Herr Schmidt sein.“ Er lächelte und Natalie konnte wieder die Ansätze von Krähenfüßen um seine Augen erkennen, die ihm Sympathie verliehen.
Sie aßen den Seelachs mit Salzkartoffeln und unterhielten sich über das Studentenleben, über gute Restaurants in der Umgebung, und weil Herr Schmidt seinen ersten Sommer in Norddeutschland verbrachte, wollte er Reisetipps von Natalie haben. Sie empfahl ihm den Gerndarmenpfad an der dänischen Grenze. Ein circa siebzig Kilometer langer Pfad, der früher von den Dänen genutzt worden war, um die Schifffahrt zwischen Dänemark und Deutschland zu überwachen. Der Pfad führte abwechselnd an der Küste, kleinen Wäldern und idyllischen Dörfern vorbei und verlief etwa von der Bundesgrenze an der Flensburger Förde bis hinter die dänische Stadt Sønderborg. An einigen Stellen war es ein wenig holprig und eng mit dem Fahrrad, aber für Natalie war es ein Geheimtipp und immer ein kleines Abenteuer, neue Abschnitte des Pfades zu erkunden. Andere Tipps umfassten das Schloss und den Strand bei Glückburg, die Nordseeinsel Föhr und den riesigen Hochseilgarten in der Nähe von Eckernförde.
„Da habe ich einiges auf meiner Liste, vielen Dank!“
„Immer gerne. Der Gerndarmenpfad ist wirklich schön. Ich bin ihn noch nicht komplett gefahren, aber bereits die ersten zehn Kilometer kann ich wärmstens empfehlen.“
„Ist notiert!“ Er tippte sich mit dem Zeigefinger zwei Mal leicht auf die Schläfe. „So, ich muss leider los. Gleich gebe ich einen Kurs und ich habe noch ein bisschen vorzubereiten. Es hat mich auf jeden Fall gefreut und vielen Dank für die Empfehlungen!“ Er nahm sein Tablett und schob mit dem Fuß seinen Stuhl an den Tisch.
„Danke, mich auch! Wann soll ich Ihnen das Geld vorbeibringen? Wo ist ihr Büro?“
„Erstens, es ist immer noch Mittagspause, also bitte nicht siezen“, grinste er und sie lächelte verlegen. „Und zweitens habe ich dich eingeladen. Das zählt für meine gute Tat für den Tag, aber bevor der Tag vorbei ist, musst du irgendjemandem auch etwas Gutes tun.“ Er drehte sich um, stellte sein Tablett auf die Ablage und verließ die Mensa.
Eine tolle Einstellung … Sie blickte ihm nach. Es war nun kurz vor eins und in einer Stunde würde sie wieder zu einer neuen Veranstaltung müssen. Sie räumte ebenfalls den Tisch ab und verließ die Mensa.
Der Regen hatte endlich nachgelassen und vereinzelt mühten sich die ersten zaghaften Sonnenstrahlen des Tages durch die dichte Wolkendecke. Sie schulterte ihre Umhängetasche und ging den Weg herunter zur Bibliothek. Vor dem Gebäude bog sie nach links ab, an der Sporthalle vorbei und machte sich auf den Weg zum Teich dahinter, ihrem Lieblingsplatz auf dem Campus.
Durch seine Entfernung zu den restlichen Gebäuden der Hochschule war es hier ruhig. Ab und an gingen Menschen mit ihren Hunden spazieren oder Radfahrer fuhren über die kleine Metallbrücke, die über den Teich führte. Sobald das Vorderrad eines Fahrrads auf die Brücke aufsetzte, konnte man ein leises dumpfes Geräusch hören. Ebenso beim Hinterrad, wenn das Fahrrad die Brücke wieder verließ. Klong, klong … klong, klong. Im Sommer herrschte sehr viel Leben auf dem Teich. Die Laubfrösche laichten und das Quaken war unvorstellbar laut. Stockenten, Schwäne und Gänse schwammen mit ihrem Nachwuchs auf dem Wasser und fauchten einander an, wenn sie in das Territorium des anderen eindrangen. Zwar waren die Stockenten den anderen körperlich unterlegen, was aber nicht bedeutete, dass sie es nicht dennoch versuchen würden. Allerdings war es gerade einmal Ende März und weder waren Frösche zu hören noch ließen sich Jungtiere erspähen. Sie musste wohl oder übel noch ein paar Wochen warten.
Sie stellte die Tasche auf der Metallbrücke ab, lehnte sich auf das Geländer und blickte ins Wasser. Der Grund des Teichs und einige Wasserpflanzen waren zu erkennen. Ab und an schwamm ein kleiner Fisch vorbei, aber mehr passierte nicht. Die Bäume, die um den Teich wuchsen, versperrten den Blick auf die Gebäude der Hochschule, dadurch fühlte man sich hier wie in einer kleinen grünen Oase. Nur die Geräusche der nahen Bundesstraße erinnerten daran, dass man sich in einer Stadt befand, obwohl der Campus unheimlich viele Grünflächen bot. Sie drehte sich um, lehnte sich nun mit dem Rücken gegen das Geländer, kramte in ihrer Tasche herum und suchte ihren Stundenplan. Zwischen dem Collegeblock, dem Federmäppchen und der Packung Taschentücher fand sie ihre blaue Mensakarte. Toll … na endlich! Sie entfaltete ihren Stundenplan. Nächste Veranstaltung:
Sprachentwicklung
Montag
14 – 16 Uhr
Hauptgebäude Raum 236
Dozent: Schmidt
Schmidt! Ein witziger Zufall?
7
Kurz vor zwei verließ Natalie die Brücke und machte sich auf den Weg zum Hauptgebäude. Das Gebäude erinnerte an einen großen L-Block aus dem Spiel Tetris. Es war sechs Stockwerke hoch und hatte einen gelblichen Anstrich. Viele Institute, wie die Germanistik und die Geografie, hatten dort ihre Dienstbüros. Zudem befanden sich etliche Seminarräume, die Büros der Hausverwaltung, die Druckerei und Aufenthaltsräume für Studenten im Gebäude. Ihre Veranstaltung fand im zweiten Stock statt und da sich bereits eine Menschentraube vor den beiden Fahrstühlen bildete, nahm sie den Weg zum Treppenhaus und flitzte die zwei Stockwerke nach oben.
Vor dem Raum warteten bereits Lilly, Jakob und Felix auf sie. Felix war der beste Freund von Jakob. Zwar war er ein wenig kleiner, doch schien er deutlich kräftiger und agiler zu sein. Im Sommer trug er das typische Outfit eines Beachboys: Badeshorts, Flipflops, weißes Muskelshirt, Sonnenbrille und immer ein kleines Kettchen um den Hals. Heute war er ganz casual gekleidet und trug Jeans und einen blauen Pullover. Er war mit seinem kantigen Gesicht, kurzen, hellen Haaren und bernsteinfarbenen Augen ein Frauenschwarm und hatte immer entweder einen kecken oder einen anzüglichen Spruch auf den Lippen. Man mochte ihn nun in die typische Machoschublade stecken, aber das stimmte bei ihm nicht ganz. Fünf Jahre war er mit seiner Freundin Sarah zusammen und auch wenn beide, bedingt durch das Studium, mehrere Hundert Kilometer voneinander entfernt lebten und sich nur am Wochenende sahen, war er ihr niemals fremdgegangen. Nicht einmal auf Partys hat er mit fremden Frauen getanzt. Leider war sie ihm nicht sehr treu. Vor einem halben Jahr fand er heraus, dass sie in seiner Abwesenheit mit einem anderen Typen schlief. Um sie zu überraschen, war er ein Wochenende spontan in die Heimat gefahren und hatte sie in flagranti erwischt. Seitdem wirkte er manchmal ein wenig abgestumpft und kühl. Aber sein ausgeprägter Sinn für Gerechtigkeit war seine Charakterstärke. Natalie erinnerte sich, wie er einmal aus dem Bus gesprungen war, als er sah, wie ein kleiner Junge von drei größeren Jungen geärgert und geschubst worden war. Er hatte sie verbal zusammengefaltet und dem Jungen seine Handynummer gegeben. Für alle Fälle. Zwar hatte er zwanzig Minuten auf den nächsten Bus warten müssen, aber dafür hatte er dem Jungen auf Dauer geholfen. Das hoffte Felix jedenfalls, einen Anruf hatte er jedenfalls nie bekommen.
Sie war erstaunt über sein Verhalten gewesen, denn so viel Zivilcourage war heutzutage leider selten. Sie hatte ihn am nächsten Tag darauf angesprochen und erfahren, dass es ihm einmal wie dem kleinen Jungen ergangen war. Klein, schwach und von anderen Mitschülern gehänselt. Während der Pubertät hatte sich alles geändert, denn plötzlich war er in die Höhe geschossen und überragte alle seine Mitschüler. Zur gleichen Zeit hatte er mit intensivem Training begonnen und wurde zu der Person, die er heute war. „Nur meine Werte habe ich nie vergessen“, hatte er ihr versichert. Felix hatte zur selben Zeit wie Natalie und Lilly mit dem Studium begonnen, die drei hatten sich aber erst über Jakob kennengelernt.
„Hey ihr! Und? Hast du deinen Raum gefunden?“, fragte