Der Dozent. Stefan Meier

Der Dozent - Stefan Meier


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erst nächste Woche losgeht. Danach habe ich ein kleines Nickerchen im Aufenthaltsraum gemacht …“ Typisch Jakob!

      „Hey Natalie, wie geht es dir? Lang’ nicht mehr gesehen“, sagte Felix warmherzig. Nein, ganz und gar kein Macho. Er war richtig nett.

      „Hey, schön dich zu sehen. Ich bin froh, dass das Semester losgeht und ich euch alle wiedersehe. Wie geht es dir?“

      „Ich freue mich richtig auf Segeln mit unserem Jakob hier“. Er legte die Hand auf seine Schulter und rüttelte ihn etwas. „Und auf den Rest bin ich gespannt. Wer macht diesen Kurs? Weiß das wer?“

      „Herr Schmidt!“, antwortete Lilly wie aus der Pistole geschossen. „Sagt euch der Name was?“

      „Wenn es der gleiche ist, dann … war ich mit ihm vorhin in der Mensa essen. Ich konnte meine Karte blöderweise nicht finden und er hat mich eingeladen.“

      „Uuuuh …“, tönte Felix dazwischen, „dann hoffen wir mal, dass du in dem Kurs eine mündliche Prüfung ablegen kannst.“ Da war er – der erste anzügliche Spruch von Felix in diesem Semester. Und dabei ging das Gespräch noch keine zwei Minuten.

      „Lass mich, du Idiot“, grinste Natalie und stieß Felix gegen die Schulter. „Er war echt nett. Wir haben uns ein wenig über das Studium und so unterhalten. Ich bin sehr gespannt.“

      Nun lachten auch Lilly und Jakob und sie fühlte sich ein wenig verlegen. Die unangenehme Stille wurde aber von einer nölenden Stimme zerrissen, die sich vom anderen Ende des Korridors näherte.

      „Erster Tag und schon so einen Hals! Was für eine Idiotin! Wie kann die Hochschule so eine bitte anstellen? Und dann werden in ihrem Seminar nur Referate gehalten, während sie sich zurücklehnt und am Ende des Monats ihr Gehalt absahnt. Na, das kann ich auch! Und nicht einmal die Gruppenmitglieder durfte man sich selber aussuchen. Es wurden Karten gezogen! Karten! Woher hat sie bitte diese Schnapsidee? Bestimmt aus so einem 08/15 Pädagogikmagazin. Und meine beiden Gruppenmitglieder sind Kunststudentinnen, das wird eine sichere 5,0 – und mein Leben ist damit vorbei.“

      Auch wenn die Person, zu der diese Stimme gehörte, noch nicht in Sichtweite war, wussten alle vier bereits, um wen es sich handelte – Heike. Jeder Kurs, den sie mit Heike gemeinsam belegten, war ein Wechselbad der Gefühle. Meistens war Heike damit beschäftigt, sich über Kleinigkeiten künstlich aufzuregen und allen mit ihrem Gezicke auf die Nerven zu gehen. Die Stimmung wurde dann belebter, wenn sie an einen Dozierenden geriet, der nicht nur einstecken, sondern auch gern mal austeilen konnte und somit für Gelächter im Kurs sorgte. Manchmal spielte sie aber auch die süße, naive Studentin und versuchte sich auf diese Weise durchzumogeln. Es war, als ob mehrere Persönlichkeiten in ihr schlummern würden, die sie situationsbedingt einfach mit einem Fingerschnippen wechseln konnte. Natalie würde nie Leute verurteilen, es war einfach nicht ihre Art, aber bei Heike fiel es ihr schwer.

      Heike war klein und hatte wasserstoffblonde Haare, an deren Ansätze ihre natürlichen dunkelblonden Haare wieder sichtbar wurden. Ihr Gesicht war rundlich, doch lief es an Nase und Kinn spitz zu. Auf der Nase hatte sie eine blaue Brille, die die Farbe ihrer Augen verstärkte. Sie trug einen grauen Poncho mit dunkleren Streifen in Kombination mit einer schwarzen Hose, hielt einen Laptop von Apple unter dem Arm und trug einen Fjällräven-Rucksack auf dem Rücken. Vom Charakter her erinnerte sie Natalie ein wenig an Dolores Umbridge aus der Harry Potter Reihe. Heike liebte es, ihren Mitmenschen das Leben schwer zu machen und gluckste immer freudig in einer künstlichen hohen Stimme, wenn sie meinte, dass sie ein Argument gewonnen hatte. In den amüsanteren Fällen konterte ihr Gegenüber allerdings mit einem Totschlagargument, auf dass sie nicht reagieren konnte. Dann wurde sie still und funkelte nur noch böse mit ihren Augen, aber zumindest würde sie – Gott sei Dank – in den meisten Fällen die Klappe halten.

      Natalie erinnerte sich an die Klausureinsicht im letzten Semester. Heike hatte sich trotz eines Durchschnitts von 2,6 über ihre 2,0 beschwert. Natürlich hatte sie die Schuld bei der „ungerechten“ und „fiesen“ Bewertung von Professor Fischer-Martinsen gesucht. Jakob hatte sich neben sie gestellt und gehustet: „Ich bin alt genug und mache mich selbst, und nicht meine Lehrer für meine Noten verantwortlich!“ Damit hatte er das Lachen aller, inklusive des Professors, auf seiner Seite gehabt.

      „Wenn Sie ein Zweitgutachten wünschen, dann schreiben Sie eine formale Begründung an das Prüfungsamt. Frist sind vier Wochen, vorher rühre ich keinen Finger“, hatte Professor Fischer-Martinsen ihr seelenruhig geantwortet und sie kalt stehen gelassen. Ihr Lippen hatten vor Wut begonnen zu beben und sie hatte böse Blicke in Richtung Jakob geworfen, der sich immer noch vor Lachen den Bauch gehalten hatte.

      „… auf das Referat bin ich mal gespannt. Wehe, die tun nicht, was ich sage …“

      Heike schritt an ihnen vorbei, ohne auch nur die geringste Kenntnis von ihnen zu nehmen. An ihrer Seite war Sandy. Eigentlich hieß sie Sandra und Sandy war lediglich ihr Spitzname. Zu Beginn des Studiums hatten Natalie und Lilly viel mit ihr zu tun gehabt. Sandy war ein ausgesprochen großzügiger und liebenswürdiger Mensch, wenn auch naiv und gutgläubig. Ihre Freizeit drehte sich um das Dressurreiten und ihren jungen Schäferhund Sternchen. Oft waren sie mit Sandy ins Grüne gefahren, hatten mit Sternchen gespielt und die Waldstücke in der Umgebung erkundet. Gemeinsam veranstalteten sie Brettspielabende, kochten gemeinsam und bereiteten sich gemeinsam auf ihre allererste Klausur vor. Als Sandy dann Heike kennenlernte, kam es langsam zum Bruch. Sie hatte zuerst wenig und später gar keine Zeit mehr für Lilly und sie gehabt.

      Heike schien eine sehr einnehmende Persönlichkeit zu sein und Natalie wurde das Gefühl nicht los, dass Sandy in dieser Freundschaft nur eine unterbezahlte Sekretärin war, und das tat ihr leid. Sie verdiente etwas Besseres, aber wenn man wochenlang nur Absagen erhielt, dann sah man es irgendwann auch nicht mehr ein, sich zu verabreden. Von Sandy musste schließlich auch ein Impuls kommen. Zumindest winkte sie ihnen noch zu und begrüßte sie lieb, bevor sie und Heike im Seminarraum verschwanden.

      Jakob streckte sich und blickte dann auf sein Handy. „Lasst uns auch mal rein und uns einen Platz suchen. Am besten weit weg von … na, ihr-wisst-schon-wem.“ Er hielt seine Hand schräg vor dem Mund und schielte in Richtung Heike. Die anderen drei nickten.

      Bevor sie in den Raum gingen, warf Natalie noch einen Blick nach rechts in den Korridor. Ein Mann mit rotem Rollkragenpullover schritt den Gang hinunter. Er zog einen kleinen Rollkoffer hinter sich her. Definitiv handelte es sich bei der Person um den jungen Mann mit den sympathischen Krähenfüßen, mit dem Natalie zu Mittag gegessen hatte. Und er bewegte sich direkt auf ihren Raum zu.

       8

      Natürlich hatten sie keine Sitzplätze weit weg von Heike bekommen. Die Tische in dem Raum waren in einer Hufeisenform mit zwei zusätzlichen Tischreihen in der Mitte angeordnet. Heike saß hinten rechts an der Ecke und da die anderen Studierenden scheinbar den selben Plan wie Natalie und ihre Clique verfolgten, und möglichst viel Distanz zwischen sich und dem Lästermaul lassen wollten, waren die einzigen freien Plätze direkt neben ihr. Jakob verzog schmerzlich die Miene, als er sich neben Heike setzte. Dann folgten Natalie, Lilly und Felix. Kaum hatte sich Lilly gesetzt, folgte wieder ihr Ritual: den Collegeblock in die Mitte legen, aufklappen, das Datum oben rechts notieren. Den Veranstaltungsnamen mittig in die erste Zeile schreiben, unterstreichen. Mit Rot. Denn Rot waren die Sprachwissenschaften, Blau die Naturwissenschaften und Grün die Gesellschaftswissenschaften. Für Pädagogik kam Violett zum Einsatz. In Momenten wie diesen überlegte Natalie, ob Lilly an OCD litt. Ja, definitiv! Die Bewegungsabläufe mit dem Collegeblock aus der Tasche holen, aufklappen, Datum notieren, und so weiter waren minuziöse, jahrelang trainierte Bewegungen, die reibungslos ineinander übergingen.

      Kaum war Lilly mit dem Unterstreichen fertig, fiel auch die Tür zu und ihr Dozent, Max Schmidt, betrat den Raum und begrüßte die illustre Runde mit einem herzlichen „Moin!“ Er zog den Rollkoffer hinter sich her und nahm am vordersten Tisch Platz. Die schnelle neunzig Grad Drehung des Koffers ließ die Räder blockieren und sie schliffen knirschend über den PVC-Boden. Er lächelte in die Runde, hievte den Koffer auf den Stuhl und nahm seinen Laptop hinaus. Es folgten Maus, HDMI-Kabel, Präsenter und


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