Der Dozent. Stefan Meier

Der Dozent - Stefan Meier


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und Lilly zuckte zusammen. „Jaja, lasst mich.“

      Sie packten ihre Sachen zusammen und folgten dem Strom von Studierenden aus dem Audimax. Natalie hatte heute Morgen noch nichts gegessen und ihr knurrte der Magen.

      „Kommt ihr mit in die Mensa? Ich sterbe vor Hunger!“

      „Tut mir leid, ich habe jetzt Zahlentheorie. Direkt nebenan.“

      „Und ich habe jetzt auch eine Veranstaltung – glaube ich. Ich weiß zwar nicht, wo oder was, aber das finde ich auf dem Weg heraus“, grinste Jakob, zückte sein Handy und suchte seinen Stundenplan im Netz. „Haut rein und bis später!“ Dann war er verschwunden.

      „Lilly, wie lang bist du heute in der Uni? Zwanzig Uhr?“

      „Nein, achtzehn Uhr, Montag ist mein kurzer Tag.“

      „Okay, ich bin früher zu Hause und koche vor. Wir hatten uns auf Kartoffelsuppe geeinigt, oder? Viel Spaß, pass auf und verbrauche deinen Collegeblock nicht am ersten Tag.“

      „Ja, Mama“, Lilly rollte gespielt mit den Augen. Beide lachten herzlich und ihre Wege trennten sich.

      Natalie machte sich auf den Weg zur Mensa, die sich direkt neben dem Hörsaalzentrum befand. Sie stand vor der Auswahl, eine Kleinigkeit wie belegte Brötchen und Muffins an der Theke zu holen oder etwas Warmes zu essen. Da ihr schon ordentlich der Magen knurrte, entschied sie sich für die letztere Alternative und schlenderte zur Speisekarte. Als sie mit dem Studium begonnen hatte, hatte man mit den Begriffen auf der Speisekarte noch etwas anfangen können. Heutzutage blickte man darauf und sah Gerichte wie Gremolata, Bulgur, Karotten-Mango-Konfit und Tofunese. Sie hatte nur eine grobe Vorstellung, was sich dahinter verbarg und war mit ihrem Hunger nicht sonderlich experimentierfreudig. Zum Glück war das letzte Gericht auf der Karte Seelachsfilet mit Salzkartoffeln und sie musste nicht zweimal überlegen, was sie heute essen wollte.

      Die Essensausgabe in der Mensa ging glücklicherweise zügig voran. Es waren nur noch ein paar Leute vor ihr, dann war sie an der Reihe. Die Laune der Kantinenmitarbeiterinnen rangierte von sehr freundlich bis Wo-zur-Hölle-bin-ich-hier-nur-gelandet. Die Mitarbeiterin, die Natalie bediente, gehörte zum Glück zu der freundlichen Sorte.

      „Zumindest weiß ich hier, was ich bekomme“, hörte sie jemanden sagen.

      Natalie drehte sich um. Vor ihr stand ein junger Mann, mit kurzen, dunklen, zotteligen Haaren und lächelte sie an. Einige Krähenfüße waren um die Augen erkennbar, was ihn sympathisch machte. Er trug einen roten Rollkragenpullover, Jeans und weiße Sneaker.

      „Bei den anderen Sachen hatte ich absolut keinen Plan, was das sein soll. Gremola-was, bitte?“, sagte er in einem freundlichen Ton.

      „Ging mir exakt genauso …“, antworte sie. „Wenn hier bei der Ausgabe nicht dranstehen würde, was welches Gericht ist – ich hätte es nie im Leben zuordnen können.“

      „Genau! Wo sind die klassischen Gerichte wie das gute alte Schnitzel mit Pommes oder Hähnchenbrustfilet mit Reis oder eine Portion Erbsensuppe?“

      „Das frage ich mich auch.“

      „Nächster bitte“, hörte sie von der anderen Seite. Sie drehte sich um und bemerkte, dass sie nun an der Reihe war.

      „Na dann, guten Appetit.“

      „Vielen Dank, das werde ich haben“, sagte Natalie lächelnd und ging weiter zur Kasse.

      „Das macht dann bitte drei Euro und dreißig Cent. Haben Sie eine Karte?“

      „Ja, einen Moment.“ Sie öffnete ihr Portemonnaie und suchte nach ihrer blauen Studentenkarte. Die Karte gab es extra, um in der Mensa zu zahlen. Einfach am Eingang aufladen und dann bei der Kasse auf das Gerät halten – fertig. Nur fand sie ihre Karte nicht. Krankenkassenkarte, Führerschein, Personalausweis, Kreditkarte, Debitkarte – alles nur nicht diese verflixte Mensa-Karte! „Ich hab’s gleich …“ Wie unangenehm! Bargeld hatte sie auch keins mit und mit anderen Karten konnte man nicht zahlen.

      „Haben Sie sonst Bargeld?“, fragte die Frau an der Kasse höflich.

      „Nein, leider nicht und ich finde meine Karte gerade nicht … tut mir leid.“

      „Warten Sie, ich mache das schon. Aber dann rechnen Sie meine Portion auch gleich mit ab.“

      Sie drehte sich um. Es war der junge Mann von eben. Er reichte der Kassiererin seine Karte. Natalies Blick fiel drauf. Sie war grün. Er war also Mitarbeiter und kein Student.

      „Bitte sehr.“ Die Kassiererin reichte ihm seine Karte zurück. „Nächster bitte.“

      Natalie und der junge Mann nahmen ihre Tabletts mit den Seelachsfilets und verließen die Kassenbereich.

      „Vielen, vielen Dank. Das ist wirklich nett von Ihnen. Ich konnte meine Karte einfach nicht finden …“, stammelte sie und war sehr erleichtert, dass einerseits die Szene vorbei war und sie andererseits gleich endlich etwas essen konnte.

      „Gar kein Problem, so etwas passiert. Ich bin froh, dass ich helfen konnte“, sagte er mit einem freundlichen Ton und schaute sich um. „Ich sehe meine Kollegen gerade nicht. Darf ich mich zu Ihnen setzen?“

      „Sie haben mir mein Essen bezahlt, natürlich, bitte setzen Sie sich!“, antwortete sie lachend, dachte an seine grüne Mitarbeiterkarte und wechselte automatisch zum Siezen.

      „Lassen Sie gut sein.“ Sie gingen beide zum nächsten, freien Tisch, stellten die Tabletts ab und setzen sich. „Bitte siezen sie mich nicht, sonst fühle ich mich alt. Duze mich ruhig.“

      „Oh, okay. Arbeitest du hier?“ fragte sie unsicher.

      „Ja, ich bin Dozent …“

       6

      „Wie sind Sie–, entschuldige, wie bist du an diese Stelle gekommen, wenn ich fragen darf?“, hakte Natalie nach.

      „Ich habe vor einem Jahr meinen Master an einer Universität in Rheinland-Pfalz gemacht. In meiner Familie gibt es nur Akademiker und weil ich den Forschungsdrang meines Vaters, eines Oberarztes in der Strahlentherapie, geerbt habe, möchte ich nun den Doktor draufsetzen“, antwortete der sympathische, junge Mann mit ruhiger Stimme und lehnte sich zurück. „Ich habe mich auf mehrere Stellen beworben. Professor Fischer-Martinsen hat mich anschließend auf ein Bewerbungsgespräch eingeladen und seit letzten Semester bin ich hier.“ „Der Professor Fischer-Martinsen aus der Germanistik? Dann sind Sie…, tut mir leid, dann bist du kein Mediziner, sondern –“

      „… Sprachwissenschaftler, genau. Mediziner gibt es in der Familie genug und Blut kann ich sowieso nicht sehen“, schmunzelte er.

      „Interessant, dann hast du deinen Abschluss auch in Germanistik gemacht?“

      „… und Anglistik, ja. Ich interessiere mich sehr für die Sprachentwicklung über die Jahrhunderte hinweg. Die Herkunft von Wörtern, Redewendungen und solche Sachen. Aber genug von mir. Was ist deine Geschichte?“

      „Oh, wo soll ich beginnen? Ich studiere Geografie und Germanistik auf Lehramt und bin gerade im vierten Semester. Bachelor, natürlich, also habe ich nicht mal die Hälfte des Studiums hinter mir. Aber es macht Spaß! Vor allem, wenn wir für die Praktika in die Schule müssen. Mit Kindern zu arbeiten ist super! Einige sind richtige Nervensägen, aber die meisten find ich richtig klasse“, lachte sie und streichelte sich verlegen über den Handrücken.

      „Was machst du am liebsten in den Praktika?“

      „Ich habe gerne selbst Unterricht gegeben, anstatt von hinten zuzuschauen. Meine Mentorin überließ mir viel Verantwortung. In der zweiten Klasse haben wir die Namen verschiedener Kleidungsstücke besprochen und die Kinder mussten erzählen, wie jedes Stück hieß und zu welchem Anlass man es tragen konnte. Ein Kleid zum Tanzen, eine Daunenjacke im kalten Winter, Stiefel zum Wandern und so weiter … Dann fragte meine Mentorin zu welchem traurigen Anlass man sich komplett Schwarz anziehen würde, weil sie am Tag darauf zu einer Beerdigung


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