Baskische Tragödie. Alexander Oetker
Alexander Oetker
Baskische Tragödie
Luc Verlains vierter Fall
Roman
Hoffmann und Campe
Prolog Miniatures
Strand von Hourtin Plage Vendredi 28 avril, 11:00
Fast hätte er sie bekommen. »Nächstes Mal vielleicht«, schienen ihre schwarzen Augen zu sagen, dann breitete die Möwe ihre Schwingen aus, hob ab und flog über den ersten Wellenberg. Er juchzte und sah ihr dabei zu, wie sie über dem Ozean immer höher stieg. Wie schön das war. Alle Schmerzen waren vergessen. Er liebte es. Vorhin hatte er gerufen: »Au ja, Maman. Einen Tag länger Wochenende!«
Maman hatte entschieden, dass es gut wäre, wenn er heute nicht die École Maternelle von Saint-Laurent-Médoc besuchen würde. Er war ein bisschen krank gewesen in der Nacht, ein Kratzen im Hals, erhöhte Temperatur. Er hatte geweint, sie hatte ihn in den Schlaf gestreichelt. Am Morgen ging es ihm eigentlich besser, aber er hatte sie dennoch mit bettelnden Augen angesehen, sie hatte gelächelt – sie lächelte ihn immer so schön an – und gesagt: »Gut, heute bleibst du zu Hause.«
»Fahren wir an den Strand?«, hatte er gerufen, nachdem er sein Müsli gegessen hatte.
Maman hatte überlegt und schließlich genickt. »Ja, das ist eine gute Idee. Ich muss morgen wieder arbeiten, dann fahren wir heute einfach an den Strand, durchatmen ist sicher gut gegen deine Erkältung.« Er hatte gejubelt. Maman arbeitete im Supermarkt an der Ortsausfahrt, sie hatte nicht viel Zeit für ihn. Aber heute würden sie einen ganzen Tag zusammen verbringen.
Er war nicht gerne krank. Es war doof, wenn sein Hals wehtat und er so fröstelte. Doch der Zusammenhang zwischen ein paar Wehwehchen und mehr Zeit mit seiner Maman gefiel ihm.
Er drehte sich nach ihr um. Sie saß weiter hinten vor der gewaltigen Düne aus Sand und las in einer bunten Zeitschrift. Ab und zu sah sie auf und winkte ihm zu, ein Strahlen im Gesicht. Sie war hier viel weniger ernst als zu Hause. Er winkte zurück.
Er war der Möwe ein ganzes Stück hinterhergerannt, und dann hatte er sich an die Wasserkante gesetzt. Nun buddelte er mit seinen Händen im kalten, nassen Sand und baute eine Matschburg, die sich sehen lassen konnte, mit Türmchen und Zinnen, sogar einen Tunnel baute er, doch der stürzte durch das heranspringende Wasser immer wieder ein. Jetzt noch Muscheln für die Verzierung, dachte er und stand auf, um nach ein paar schönen Exemplaren zu suchen. Weiß oder bernsteinfarben, so mussten sie sein. Er ging ein Stück nach Süden, auf der Suche nach den perfekten Muscheln.
Alle paar Meter fand er Venusmuscheln, Meermandeln und Herzmuscheln, daneben kleine Schnecken, und jede, die er besonders schön fand, steckte er in seine Hosentasche. Auf einmal stutzte er. Was lag denn dort vorne, zwischen Meer und Sand? Immer wieder wurde es von den Wellen überspült, etwas Schwarzes, Eckiges. Er ging vorsichtig näher, sah sich um, niemand war zu sehen, Maman saß weit entfernt. Neugierig beugte er sich darüber, ein schwarzes Paket, das dick mit Folie umwickelt und trotzdem an einer Ecke leicht aufgerissen war. Es stand eine Schrift darauf, die er nicht lesen konnte. Er ging erst in die zweite Klasse. Die Worte kamen ihm nicht bekannt vor.
Er griff vorsichtig danach und zog es auf den Strand. Aus der aufgerissenen Ecke rieselte etwas. Weiß, körnig, wie Puderzucker. Er erinnerte sich daran, wie lecker die Weihnachtsplätzchen gewesen waren, die er dick mit Puderzucker bestreuen durfte. Maman hatte das Sieb festgehalten, und er hatte geschüttet.
Er leckte den Finger an, streckte ihn aus und berührte den weißen Staub. Ein bisschen blieb an seinem Zeigefinger hängen. Er betrachtete den Staub, dann drehte er sich noch mal nach Maman um, die zu ihm hinsah und ihm wieder winkte. Er fühlte sich ertappt. Schnell steckte er den Finger in den Mund. Sie sollte nicht schimpfen, weil er etwas Süßes aß.
Doch das weiße Pulver schmeckte nicht süß. Angewidert verzog er das Gesicht. Es schmeckte nach fast nichts. Leicht bitter, irgendwie chemisch. Er schluckte es schnell runter. Dann stand er auf und ging zu Maman. Er würde ihr von dem Päckchen erzählen.
Von Schritt zu Schritt wurde ihm komischer. Er spürte, wie sein kleines Herz immer doller schlug, wie es in seiner Brust zu rasen begann. Ihm wurde ganz heiß, er wollte die Jacke ausziehen, bekam aber den Reißverschluss nicht auf, weil seine Hand zitterte. Er wollte losrennen, doch seine Beine gehorchten nicht.
»Maman«, rief er, aber seine Stimme gehorchte auch nicht mehr richtig, sie war kratzig und gleichzeitig ganz hoch. Maman war aufgestanden, offenbar spürte sie, dass etwas nicht stimmte. Er wollte nur noch in ihre Arme, wollte, dass sie einfach alles wegstreichelte.
Kurz bevor er sie erreicht hatte, sie hatte die Arme schon ausgebreitet, wurde ihm auf einmal so heiß und schwindlig und irgendwie übel, dass er nicht mehr weiterkonnte. Er setzte sich in den Sand, und dann spürte er nur noch, wie er wegsank, er konnte sich einfach nicht mehr halten. Alles war dunkel.
Hôtel de Police, Bordeaux Vendredi 28 avril, 11:40
»Wohin wollen wir denn heute essen gehen?«, fragte Luc in die Runde. Er war zu früh aufgestanden, weil er noch seinen Vater in der Klinik besucht hatte, bevor er ins Büro gefahren war. Deshalb hatte er schon großen Hunger. Anouk und Hugo sahen sich an, als überlegten sie. Etxeberria aber war der Erste, der antwortete: »Na, wie wäre es denn mit dem kleinen baskischen Bistro unten in der Altstadt? Chez Max?« Alle mussten grinsen, weil der Baske dieses Restaurant immer vorschlug – natürlich hielt er die traditionelle Küche dieser wohl patriotischsten aller französischen (und spanischen) Regionen für die beste –, und manchmal ließen sie sich auch von ihm überreden. Luc musste zugeben, dass es bei Chez Max wirklich hervorragend schmeckte, das Risotto mit Ossau-Iraty-Käse war ein Gedicht, genau wie das Steak mit grüner Paprika.
Anouk und Hugo nickten im Einklang. »Abgemacht. Wann wollen wir los? In einer halben Stunde?« Der Fußweg vom Commissariat würde sicher zwanzig Minuten dauern.
»Machen wir so.« Luc lächelte Anouk an. Gerne hätte er das Déjeuner nur mit ihr verbracht. Doch sie gingen während der Arbeit nicht zu zweit in die Pause, das hatten sie gemeinsam entschieden, um die Atmosphäre im Team nicht zu belasten. Natürlich wussten alle im Büro, dass sie ein Paar waren, genauso wie sie von Anouks Schwangerschaft wussten. Sie hatte es ihnen sagen müssen, damit sie Rücksicht auf sie nahmen. Sie würde ohnehin nur noch zwei Wochen Bürodienst machen dürfen, dann hätte sie bis nach der Entbindung Zwangspause.
Die letzten Wochen waren außergewöhnlich ruhig gewesen. Nach dem Fall der beiden toten Austernzüchter im Bassin von Arcachon und der aufsehenerregenden Festnahme, die die Region eine Weile nicht hatte zur Ruhe kommen lassen – zu schrecklich war die ganze Geschichte –, war nicht mehr viel los gewesen in der nördlichen Aquitaine. Sie hatten dem Dezernat für Raub geholfen bei einer Reihe von Banküberfällen, aber die Täter hatten sich in den Osten Frankreichs abgesetzt und wurden nun dort gesucht.
Deshalb hatte die Abteilung Zeit für ausgedehnte Mittagspausen. Und deshalb blickten alle auf, als in diesem Moment das Telefon auf Hugos Schreibtisch klingelte und er sofort abnahm.
»Brigade criminelle in Bordeaux, Brigadier Pannetier?«
Sein Gesicht, auf dem bis eben der fröhliche Ausdruck lag, der ihm so eigen war – besonders, wenn die Mittagspause bevorstand –, wurde ernst, außergewöhnlich ernst. Er, der hartgesottene Polizist, der früher bei der Festnahmeeinheit CRS gearbeitet hatte, wurde sogar etwas blass um die Nase. Luc spannte sich hinter seinem Schreibtisch an, dann stand er auf und ging um den Tisch herum. Er verspürte eine große Unruhe.
»Ich geb’s weiter. Wir kommen sofort.«
»Was ist?«, rief Anouk, noch bevor Hugo wieder aufgelegt hatte. Sein Blick sprach Bände.
»Ein Junge hat am Strand von Hourtin eine unbekannte Substanz zu sich genommen. Er ist umgekippt. Er schwebt in Lebensgefahr. Die Ambulanz ist auf dem Weg.«
»Wie alt?«, fragte Luc leise.
»Fünf