Baskische Tragödie. Alexander Oetker
Und wir: nichts wie hin«, sagte Luc, und Hugo und Etxeberria folgten ihm, Anouk blieb im Büro, um den Einsatz von hier aus zu befehligen und für Verstärkung zu sorgen. Sie warteten nicht auf den Fahrstuhl, sondern rannten die Treppe hinab, Luc nahm jeweils drei Stufen auf einmal.
»Mein Wagen steht vor dem Commissariat im Parkverbot, los, wir nehmen den, dann müssen wir nicht erst in die Tiefgarage.«
Luc sprang hinters Steuer des alten grünen Jaguar XJ6, ließ sofort den Motor an und brauste los, noch bevor Hugo im Fond die Tür schließen konnte. Der Baske klappte die Sichtblende mit der Aufschrift Police herunter und setzte die blaue Rundumleuchte aufs Dach.
Mit Tempo 90 raste er durch die Stadt, dann setzte er sich auf der Rocade, der Stadtautobahn rund um Bordeaux, auf die linke Spur und beschleunigte auf 150. Luc hatte das Radio ausgeschaltet. Nur über Funk kamen ab und zu Meldungen. Sie schwiegen und sahen alle angespannt nach vorne. Ein Kind. Das änderte für Polizisten alles.
Normalerweise brauchte man bis Hourtin eine Stunde, im Sommer auch gerne mal zwei, weil die Straße in die Strandorte einspurig war, sodass sich der Verkehr an den Wochenenden bis in die Innenstadt von Bordeaux staute. Doch bei dem hohen Tempo, mit dem Luc durch die endlosen Seekiefernwälder nördlich von Lacanau flog, brauchten sie nur etwas über eine halbe Stunde, bis der Commissaire an der Schranke vorbeifuhr, die den Zugang zum kleinen Zentrum des Surferstädtchens sperrte – die Police municipale aber hatte den Sicherheitskräften den Schlagbaum schon geöffnet. Er raste vorbei an den alten und bunt gestrichenen Holzhütten, die noch versperrt waren, aus denen heraus aber in der Hochsaison Eis, Waffeln und Crêpes verkauft wurden – und an den vielen Restaurants, die Austern, frischen Fisch und Steaks feilboten. Genau hinter der Düne hielt er an, sie sprangen hinaus und nahmen den Weg über den Sand, der mit hellen Holzbohlen ausgelegt war. Den roten Helikopter sahen sie sofort. Er stand auf dem Sand zwischen Düne und Meer. Sie rannten darauf zu. Ein Arzt und ein Sanitäter hoben gerade die Trage an und hievten sie in das Innere des Hubschraubers. Luc konnte die Decke sehen und den kleinen Körper darauf, der Sanitäter hielt einen Tropf in der Hand. Ein zweiter Sanitäter stützte die Mutter, die in seinem Arm lag, führte sie zu der kleinen Treppe, die in den Helikopter führte und half ihr hinein. Luc erreichte sie, kurz bevor sie die Türen schließen konnten.
»Polizei von Bordeaux, Luc Verlain. Wie geht es ihm?«
Der junge Arzt sah nur kurz auf, er arbeitete an dem Jungen. »Es ist sehr ernst. Wir müssen los.« Dann schloss der zweite Sanitäter die Tür. Luc, Hugo und der Baske zogen sich eilig zurück, hockten sich auf den Boden und senkten den Kopf, denn die Rotorblätter des Hubschraubers begannen sich zu drehen und verwandelten den Strand in eine Sturmwüste, der Sand wirbelte wild umher, und dann hob der Helikopter ab und flog eine scharfe Kurve in Richtung Landesinneres. Er würde den Jungen in die Uniklinik von Bordeaux bringen, vermutete Luc, nur dort gab es eine Kinderintensivstation.
Die drei Polizisten standen wieder auf, und Luc erblickte Lou, der auf ihn zugerannt kam. Hinter Lou flatterte Absperrband in der starken Brise, die vom Meer kam. Um was es gespannt war, konnte der Commissaire nicht erkennen.
»Luc«, rief Lou, sein alter Schulfreund, der seit Jahrzehnten der Chef der Gemeindepolizei von Lacanau war, aber in schlimmen Fällen auch die umliegenden Orte mitbetreute. »Da seid ihr ja. Es ist …«, er schluckte, »es ist so eine Scheiße. Kommt.«
Er führte sie hinunter zur Wasserkante. Auf dem Weg fragte Luc gegen den Wind: »Wie ist der Zustand des Jungen?«
»Sie wissen nicht, ob er es schafft. Sein Herz.«
»Was weißt du über ihn?«
»Er heißt Lucien Dugarry, er ist fünf und aus Saint-Laurent-Médoc. Geht dort auf die Grundschule. Seine Mutter ist alleinerziehend, Supermarktkassiererin, der Vater ist Krankenpfleger, er wird gerade informiert, er lebt in Paris.«
»Warum war Lucien nicht in der Schule?«
»Krank, sagt die Mutter. Sie hat nur noch geschluchzt. Luc, ich habe den Jungen gesehen. Er war so blass, es war, als wäre er schon …«
Luc griff Lou an den Schultern und drückte ihn. So standen sie für einen Moment, dann lösten sie sich wieder und gingen die paar Meter bis zu dem Absperrband, vor dem ein junger Polizist stand.
»Hier, davon muss er etwas probiert haben«, sagte Lou, »nur so können wir es uns erklären.«
Ein viereckiges Päckchen, in schwarze Folie gewickelt. An einer Ecke war ein kleines Loch, die Folie ganz leicht aufgerissen. Heraus rann ein weißes Pulver in einem dünnen, nicht enden wollenden Faden.
Luc erstarrte.
»Ist es …?«
»Das wollte ich von euch wissen«, sagte Lou. »Wisst ihr, ich hab nicht so viel mit Koks zu tun.«
Etxeberria nahm das Flatterband hoch und kniete sich in den Sand, die anderen sahen ihm stumm zu. Er steckte einen Finger in das weiße Pulver und betrachtete es einen langen Moment, dann roch er daran.
»Ich probier es nicht, das ist ja hier kein Krimi«, sagte er grimmig, »aber ich bin mir sicher, es ist Kokain. Und zwar verdammt reines, wenn mich nicht alles täuscht.«
»Verdammt«, sagte Luc. »Der arme Junge.«
Sie alle wurden bleich angesichts der Vorstellung, dass der kleine Lucien davon probiert haben musste. Denn sie alle wussten: Je reiner der Stoff, desto stärker die Wirkung.
Der Commissaire wandte sich zu Lou um. »Gab es das schon mal? In den letzten Tagen?«
Der Leiter der Police municipale fuhr auf: »Luc, wirklich, meinst du nicht, das hätten wir dir gemeldet?«
»Sicher«, sagte Luc gedankenverloren. »Woher kommt das Zeug?«
Er betrachtete die schwarze Folie, dann glitt sein Blick übers Meer. War da noch mehr in der rauen See versteckt? Noch mehr todbringende Ware?
»Lou, wir machen eine amtliche Verfügung draus, auch wenn es etwas panisch wirken sollte – und wir dann die gesamte europäische Presse am Hals haben. Ich möchte, dass ihr die Strände von hier bis runter zum Cap-Ferret sperrt, für die gesamte nächste Woche. Ich schicke euch Verstärkung aus Bordeaux – und aus Paris, wenn das nötig sein sollte. Das hier«, er wies auf das Päckchen, »darf nicht noch einmal passieren.«
Hôtel de Police, Bordeaux Lundi 8 mai, 9:00
»Ich war gestern in der Klinik.« Alle im Raum sahen auf, als Commissaire général Preud’homme diese Worte sprach. Es kam nicht oft vor, dass sich der Leiter der Polizei von Bordeaux so aktiv in laufende Ermittlungen einmischte. Doch als Luc sein bleiches Gesicht sah, wusste er, warum der alte Preud’homme das getan hatte – ein mit Kokain vergiftetes Kind, das war wirklich eine Tragödie. »Lucien liegt weiterhin im Koma.« Der Name Lucien war mittlerweile durch die vielen Presseberichte zum Synonym für die marée blanche geworden, die weiße Flut, wie die Journalisten die Kokainschwemme an den Stränden genannt hatten.
Preud’homme fuhr fort: »Die Familie sitzt seit Tagen bei ihm am Bett. Auch der Vater ist aus Paris gekommen. Die Eltern scheinen sich über diese Katastrophe wiedergefunden zu haben. Aber … die Ärzte glauben nicht, dass er diese schwere Vergiftung überstehen kann.«
Luc senkte den Kopf. Seit zwei Wochen machten sie allmorgendlich diese Lagerunden zu den Drogenfunden, das hier war die erste, an der Anouk nicht mehr teilnahm. Sie war nun im Mutterschutz. Luc war froh darüber, dass sie das nicht mehr direkt mit anhören musste, auch wenn sie ihn nachher natürlich dazu befragen würde.
»Wir müssen endlich rausfinden, was hier los ist«, sagte Preud’homme fest.
In den vergangenen eineinhalb Wochen waren noch achtundfünfzig weitere Pakete angespült worden, an der gesamten Küste der Gironde, von Soulac-sur-Mer bis hinunter nach Biscarrosse. Also neunundfünfzig Pakete insgesamt, alle in schwarze Folie gewickelt, gefüllt mit ein bis zwei Kilogramm Kokain. Gott sei Dank waren die ersten drei Pakete von Polizisten an bereits gesperrten Stränden gefunden worden, Lucs