Baskische Tragödie. Alexander Oetker
Militär die gesamte Küste, bis hinunter nach Biarritz. Deshalb war niemandem mehr etwas passiert. Der kleine Lucien blieb das einzige Opfer.
Doch das Telefon im Hôtel de Police stand nicht still. Die Bürgermeister der Strandorte klingelten Sturm, sie wollten Erkenntnisse, und sie wollten Gewissheit, dass sie ihre Strände bald wieder öffnen könnten – die Hochsaison nahte und damit die wichtigste Einnahmequelle für die Dörfer am Ozean. Doch Luc konnte nur abwinken – noch war es undenkbar, die Sperrungen aufzuheben, denn noch immer wurden beinahe täglich neue Pakete angespült.
»Commissaire Etxeberria, hat sich das Labor schon gemeldet?«
»Ja, übers Wochenende kam der Bericht«, sagte der Baske grimmig und griff nach dem Packen Papier, der vor ihm lag. »Man hat alle Pakete untersucht, und die Kollegen in Paris sind baff. Die Reinheit des Produkts lag bei allen Proben exakt bei 83 Prozent. Das ist eine unglaubliche Qualität, Junkies würden sich danach verzehren, aber natürlich erreicht Kokain im Straßenverkauf niemals diese Reinheit. Es wird immer gestreckt, alles andere wäre viel zu teuer.«
»Und viel zu stark«, ergänzte Luc, der in seiner Zeit in Paris naturgemäß viel mit Drogenkriminalität zu tun gehabt hatte.
»Stimmt, Commissaire Verlain, das schreiben die Kollegen hier. Ungeübte Konsumenten würden den Kontakt mit derart reinem Stoff wahrscheinlich nicht überstehen. Weil die Wirkung aufs Herz viel zu stark wäre. Das, was wir an den Stränden gefunden haben, ist das Basisprodukt. Es ist die Grundlage des Straßenhandels – und unsere bisher aufgefundenen gut 100 Kilogramm könnten, von den Hintermännern gestreckt, sogar den großen Pariser Markt für einige Monate decken.«
»Und der kleine Lucien musste ausgerechnet dieses Teufelszeug finden«, sagte Hugo wütend. »Es bringt mich um den Verstand, dass wir keine Ahnung haben, woher es kommt.«
»Ursprünglich kommt es mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit aus Südamerika. Nur dort wird Stoff in dieser Qualität hergestellt. In Kolumbien, Peru oder Bolivien. Und dann geht’s mit dem Schiff über den Atlantik, in Richtung Europa – oder erst nach Afrika, um von dort dann weiterverteilt zu werden«, referierte der Baske.
»Es gibt nur eine realistische Möglichkeit«, sagte Luc, »es muss von einem solchen Schmugglerboot gefallen sein. Es gab doch diesen Sturm, Agathe oder wie er hieß, anderthalb Wochen vorher, an unserer Küste. Ihr erinnert euch, deshalb gab es in Merignac einen Stromausfall, der Flughafen war für einen ganzen Tag geschlossen. Wenn bei dem Sturm ein Container vom Boot gefallen wäre, hätte es in der Tat einige Tage gedauert, bis die Pakete angespült worden wären. Die Zeit käme hin.«
»Aber diesen Container hätten wir gefunden, der wäre angeschwemmt worden«, sagte Etxeberria.
»Dann war es eine Palette, was weiß ich«, erwiderte Luc.
»Ich bin bei Ihnen, Commissaire, das Boot ist die einzig mögliche Erklärung.«
»Wir sind dran«, sagte Hugo. »Wir überprüfen alle Schiffsbewegungen in allen südwestfranzösischen Häfen im gesamten April, aber bislang gab es da nichts Ungewöhnliches. Die Schmuggler werden ihr Boot ja nicht Cocaïne nennen, deshalb weiß die Brigade nautique auch nicht so genau, wonach sie suchen soll.«
»Ich erinnere mich an 2004«, sagte Etxeberria. »Damals gab es eine ähnliche Sache, kiloweise wurden Pakete mit Kokain angeschwemmt, damals im Baskenland. Den oder die Verursacher haben wir nie gefunden.«
»Wir müssen mit den Basken zusammenarbeiten. Das Schiff kann aus Süden gekommen sein. Das ist sogar sehr wahrscheinlich«, sagte Luc.
Etxeberrias Miene verfinsterte sich. Luc sah ihn an. »Sie müssen nicht selbst mit den alten Kollegen sprechen. Sagen Sie mir nur, wen ich kontaktieren muss, damit ich schnelle Amtshilfe bekomme.«
»Wen Sie wollen. Nur nicht Commissaire Schneider.« Der Baske wandte den Blick ab.
Etxeberria war vor wenigen Jahren als Leiter der Polizei in Bayonne abgesetzt worden, seiner Heimatstadt. Ihm wurde vorgeworfen, Gelder von Kriminellen angenommen zu haben. Ein Vorwurf, der nie bewiesen werden konnte – und dennoch war sein Ruf ruiniert, und er wurde aus der Heimat nach Bordeaux versetzt. Es war eben dieser Commissaire Schneider gewesen, der für Etxeberrias Entlassung verantwortlich war – und der dann selbst die Leitung der Polizei in Bayonne übernahm.
»Diesmal werden wir sie kriegen«, sagte Luc. »Ich werde gleich mit Météo-France in Paris sprechen.«
Preud’homme, Hugo und der Baske sahen ihn fragend an.
»Wir haben die genauen Auffindzeiten aller Pakete an den Stränden unserer Küste. Damit sollte sich doch mit dem Ebbe- und Flutkoeffizienten, den Strömungen und den Wellenbewegungen ungefähr berechnen lassen, wo ein Boot zum Zeitpunkt des Sturmes gewesen ist. Und das gleichen wir dann ab mit den gemeldeten Vorbeifahrten und Routen der Schiffe. Was anderes fällt mir zurzeit auch nicht ein.«
»Das ist ein guter Ansatzpunkt, Commissaire«, sagte Etxeberria.
»Wenn wir die Typen nur finden«, sagte Hugo.
»Wenn nur Lucien aus dem Koma erwacht«, fügte Luc mit dunkler Stimme hinzu.
Place Canteloup, Bordeaux Samedi 27 mai, 11:00
Sein Leben war perfekt. In genau diesem Moment.
Sie war gerade aufgestanden und aus dem Schlafzimmer gegangen. Sie trug nur ihren Slip, schlicht, weiß. Ihre unglaublichen Beine, schlank und muskulös. Obenrum war sie nackt, ihre Schultern hatten sich bewegt bei jedem Schritt, er hatte ihren Rücken gesehen und die kleine Kuhle oben an ihrem Hals, die er so gerne küsste, wenn sie vor ihm lag. An der Tür hatte sie sich umgedreht, um ihm zuzulächeln, und er hatte ihren schon runden Bauch betrachtet, die Wölbung, die die nächsten Monate immer größer werden würde. Noch knappe vier Monate lang. Sie war nie schöner gewesen als heute Morgen.
»Espresso?«, rief sie aus der Küche. »Oder nur Wasser, und dann gehen wir gleich runter, ins Café?«
»Lass uns runtergehen«, rief er zurück.
Durch das Schlafzimmerfenster, das Anouk geöffnet hatte, zog die noch kühle Frühlingsluft in das aufgeheizte Zimmer, und trotzdem spürte Luc schon, dass der Winter nun wirklich vorbei war. Die Sonne zeigte sich hinter dem Sprossenfenster. Von draußen war das geschäftige Samstagvormittagstreiben auf der Place Canteloup zu hören.
Sie waren lange aus gewesen, hatten Freunde von Anouk getroffen, die mittlerweile auch seine Freunde geworden waren. Ein junges Paar, sie war Malerin, er Weinhändler, sie wohnten nicht weit von hier hinter der Kathedrale.
Etliche Stunden hatten sie im Blisss zusammengesessen, draußen in Mérignac, einem ganz angesagten Restaurant mit Molekularküche, die Luc immer ein wenig zuwider war. Aber gut, sie waren eingeladen worden, und es war wirklich gut gewesen. Dann, nach einem kleinen Abendspaziergang, hatten sich die beiden Freunde verabschiedet. Anouk und Luc aber waren weitergezogen, wie sie es gerne taten. Einfach wild drauflos durch die Stadt, über die dunklen Straßen mit den altertümlichen roten Laternen, über das Pflaster der kleinen Gassen und großen Plätze. Früher waren sie oft eingekehrt, hier auf ein kleines Glas Rotwein, dort auf einen Coupe de Champagne, um schließlich in ihrer Stammbar zu versacken, in der Bar à Vin, ganz in der Nähe des Quinconces. Doch jetzt liefen sie einfach durch die alte Stadt, sahen den Leuten in den Bars zu, Luc streichelte Anouks Bauch, wann immer sie stehen blieben, und sie malten sich ihr Leben zu dritt aus.
Am Ende des Spaziergangs waren sie doch noch in ihre alte Stammbar gegangen. Anouk hatte einen Tee getrunken und Luc ein kleines Glas Château Talbot und ein Eau de Vie. Dann waren sie beide in ein Taxi gesprungen, für einen Fußmarsch hatten sie keine Ruhe mehr, sie waren zu erregt, zu angestachelt, und dann hatten sie sich zu Hause noch in der Küche geliebt, atemlos, hektisch, schnell, um dann im Schlafzimmer weiterzumachen, ruhiger, sinnlicher, tiefer, um dann in einer einzigen Umarmung in einen Dämmerschlaf zu sinken.
Heute stand nichts an. Sie wollten nachher gut mittagessen und dann in den Park. Luc hatte eine Ausgabe