Melodie des Herbstes. Anna Maria Luft

Melodie des Herbstes - Anna Maria Luft


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zucke mit den Schultern und schweige. Das geht sie nichts an, finde ich.

      „Mein Bus fährt gleich. Reden wir ein andermal“, meint Gloria noch im Gehen.

      „Gerne“, rufe ich ihr nach.

      Edgar schüttelt den Kopf. Zum Glück sieht das Gloria nicht. Vermutlich mag er die Sechzehnjährige nicht. Er hat sich schon öfter negativ über sie geäußert.

      Gloria rennt die Stufen hinab. Sie stolpert, wobei ihr das Täschchen aus der Hand fällt. Sie hebt es auf, läuft weiter und verlässt das Haus.

      Edgar seufzt: „Die jungen Leute sind heutzutage frech“, worauf ich erwidere:

      „Gloria doch nicht. Ich gebe zu, dass sie etwas keck ist, vor allem selbstbewusst. Die meisten Jugendlichen heute, auch schon Kinder, wissen, was sie wollen.“

      „Sie sind egoistischer als wir es waren und wenig sozial“, vertritt Edgar seine Meinung.

      „Nicht alle sind so. Das Leben verlangt ihnen mehr ab als uns damals. Deshalb müssen sie so sein.“

      Ärgerlich verzieht Edgar das Gesicht. „Helene, warum entschuldigst du alles bei den jungen Leuten? Wir Alten haben doch mehr zu kämpfen als die Jugend, die nur durchs Leben flattert.“

      Ich fahre mit der Hand über meine Augen und denke, dass Edgar für junge Leute nicht so viel übrig hat wie für alte Menschen. Oder mag er nur Gloria nicht? Ich finde sie für ihr Alter sehr vernünftig und denke dabei an das Gespräch, das wir einmal vor der Haustür geführt haben.

      Auf einmal öffnet Edgar seine Tasche und kramt darin herum. Er klagt, er habe seinen Geldbeutel oben in seiner Wohnung liegen gelassen. Er benötige ihn zum Einkäufen. Deshalb will er noch einmal umkehren.

      Bei dieser Gelegenheit verabschiede ich mich von ihm. Ich wünsche ihm einen schönen Nachmittag, er mir Spaß beim Museumsbesuch. Ich merke jedoch, dass er über mein schnelles Weggehen enttäuscht ist. Womöglich hätte er sich gewünscht, dass ich auf ihn warte, bis er wieder zurückkommt.

      Unten im Parterre steht Matthias Kirnau vor seiner geöffneten Wohnungstür. Sein Bart sieht heute ungepflegt aus, stelle ich auf den ersten Blick fest. Ich mag diesen Nachbarn deshalb nicht, weil er die meisten Leute im Haus kritisiert. Er belauscht gerne seine Mitbewohner und redet dann bei anderen über sie. Mit Sicherheit hat er vorhin auch unser Gespräch verfolgt. Grinsend bemerkt er: „Ja, ja, unser lieber Edgar. Er ist ein Spinner. Ich ärgere mich, wenn er sich so großkotzig gibt. Außerdem ist er ein Rabulist.“

      „Wie kommen Sie darauf, dass er großkotzig ist? Er ist ein bescheidener Mensch. Und was bitte ist ein Rabulist? Ist das etwa ein Bösewicht?“

      „Ein penetranter Wortverdreher ist er. Jedes Wort verdreht er mir, wenn wir miteinander reden.“

      Ärgerlich erwidere ich: „Wenn man normal mit ihm redet, tut er das nicht.“

      Herr Kirnau blickt mich böse an. Sein Ton ist schrill, als er sagt: „Denken Sie, ich rede nicht normal mit ihm? Natürlich, Sie sind eine Frau und er mag Sie.“

      „Was hat das jetzt damit zu tun?“

      „Sehr viel.“ Herr Kirnau seufzt erst, dann redet er weiter: „Ich weiß, warum Sie nichts Negatives über ihn sagen wollen. Weil er Ihr Freund ist, und über Freunde sagt man nur Positives, stimmt’s?“

      Ich lächle und erwidere: „Stimmt schon, aber mir fällt nichts Negatives an ihm auf.“

      „Kunststück!“, grinst er.

      Sogleich lenke ich ihn ab: „Wie geht es Ihrer Frau? Ist sie noch im Krankenhaus?“

      „Ja, aber nur noch zwei Tage.“

      Jemand im Haus hat behauptet, dass sie Parkinson habe und das Gleichgewicht verlöre. Außerdem würde sie zittern. Ich denke: Vielleicht hat sie nur Kreislaufstörungen Manche Menschen glauben, von einem ändern mehr zu wissen als derjenige selbst. Solche Mitbewohner gibt es einige in diesem vierstöckigen Haus mit dreizehn Parteien. Ich finde Frau Kirnau sympathisch, ihren Mann jedoch nicht.

      Die Haustür öffnet sich, und Frau Schröter stürzt keuchend herein. Als sie uns sieht, japst sie aufgeregt: „Stellt euch vor: Drüben in der Amselstraße brennt ein Haus. Frau Lingmann, meine Freundin, hat vergessen, den Herd auszuschalten. Das Fett in der Pfanne ist zu heiß geworden und hat angefangen zu brennen. Die Vorhänge und alles hat gebrannt. Ich habe es soeben von ihrer Nachbarin erfahren. Frau Lingmann hat sich ins Bett gelegt, obwohl sie den Herd eingeschaltet hat. Beinahe wäre sie mit verbrannt. Man hat sie gerettet.“

      Ich atme auf. „Welch ein Glück. Die arme Frau!“

      „Sie sollte doch besser in ein Heim gehen“, äußert Frau Schröter. „Ich habe ihr schon zugeredet. Sie glaubt, sie lebt um 1800 herum. Wenn es mit ihr so weitergeht, brennen demnächst alle Häuser in der Nachbarschaft.“

      Herr Kirnau wirft ihr einen drohenden Blick zu. „Wie absurd. Warum sollten hier alle Häuser brennen? - Sonderbar, dass ich den Brand in der Amselstraße nicht mitgekriegt habe.“

      „Ich auch nicht“, gebe ich zu. „Ich kann verstehen, dass Frau Lingmann nicht ins Heim gehen will.“

      „Ich nicht“, meint Frau Schröter. „Sie ist zwar meine Freundin, aber ich finde, dass sie einen Knall hat. Sie glaubt, mit Friedrich Schiller befreundet zu sein. Den Großteil seiner Gedichte kennt sie auswendig.“

      Frau Schröter fahrt sich über ihre feuchte Stirn, und Herr Kirnau meint: „Dann sollte sie doch in ein Heim gehen. Dort wird man ihr die Flausen austreiben.“

      Die beiden sprechen weiter, aber ich verlasse das Haus. Draußen höre ich Stimmengewirr und rieche den Brand. In der Seitenstraße sehe ich den Dachstuhl des Zweifamilienhauses brennen. Ich fasse mich an die Brust und sage laut: „Um Himmels Willen!“ Aufgeregt rufen die Feuerwehrmänner einander etwas zu. Ein kleines Mädchen schreit ängstlich nach seiner Mutter, die sie nicht gleich finden kann. Doch dann taucht sie auf.

      Auf einer Liege im Freien befindet sich eine mit einem Laken zugedeckte Frau. Ich frage sie, wie es ihr geht? „Schlecht“, äußert sie. „Ich habe zu viel Rauch eingeatmet.“

      „Ich sorge dafür, dass Sie ins Krankenhaus kommen“, will ich versprechen, aber sie hebt den Kopf und sagt: „Der Krankenwagen kommt gleich.“ Dann lässt sie sich auf die Liege zurückfallen.

      Während ich weitergehe, fällt mir wieder die Tragödie aus meiner Kindheit ein. Meine Wurzeln sind oberfränkisch. Mein Heimatort liegt nur ein paar Kilometer von Bamberg entfernt. Er nennt sich Talbach.

      Ich war zwölf Jahre alt, als die Kunstmühle unseres Ortes brannte. Wir Kinder hatten bei diesem riesigen Feuer gezittert. Beinahe wäre auch noch das Rathaus mit unseren Klassenzimmern abgebrannt. Über den Unterrichtsausfall hätten wir uns allerdings sehr gefreut.

      Vieles habe ich noch so in Erinnerung, als wäre es erst vor einer Woche gewesen. Der ganze Ort war in Aufregung geraten. Es hatte einige Schaulustige gegeben, aber auch Helfer, die die Wohnräume und die Mühle ausgeräumt hatten. Auch meine Eltern hatten mitgeholfen. Vor allem hatten die Feuerwehrleute alles getan, um das Gebäude zu retten.

      Carola, meine damalige Freundin, und ich, haben auf einer Bank am Eingang der Mühle gesessen. Wir haben einiges beobachtet, vor allem, wie meine Mutter auf den alten Mühlenbesitzer zugegangen ist, ihn in die Arme genommen und ihn getröstet hat. Immer noch ist mir der genaue Wortlaut zwischen ihr und Heiner Mönch in Erinnerung geblieben. Sie hat gesagt: „Heiner, nicht traurig sein. Es wird alles wieder gut.“ „Nichts kann gut werden, es ist vorbei. Siehst du das nicht?“, hatte er geklagt.

      Eine Woche später war er bereits tot. Ihm ist womöglich der Brand und die Krankheit seiner Enkelin zu Herzen gegangen.

      Carola und ich hatten heimlich zwei Männer beobachtet, die Spirituosen gestohlen und sich damit betrunken hatten. Zwei andere hatten sich auf den Mehlsäcken niedergelassen und untätig bei der Arbeit der anderen zugesehen.


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