War das ein Leben. Petra Pansch
kein Kind mehr ist. In den Zeugnissen stehen nur gute Zensuren und sie macht sich Gedanken, wie es nach der Volksschule mit ihr weitergehen wird. Darüber spricht sie mit Lehrer Tetzlaw. Sie hat einen Plan; sie möchte ihrer jüngsten Tochter deren Wunschtraum erfüllen, denn Frida möchte Schneiderin werden und später vielleicht selbst einmal Kleider für ein Modehaus entwerfen. Der Lehrer hört aufmerksam zu, er unterbricht Frau Pautz nicht, dafür achtet er sie viel zu sehr und es könnte auch sein, dass der Junggeselle sie sogar ein wenig schwärmerisch verehrt. Diese schwarzgekleidete Frau, ist eine interessante, resolute und auf ihre Art wunderschöne Frau. Er bestärkt sie, ihr Vorhaben weiter zu verfolgen und bietet sich sogar an, nach geeigneten Lehrstellen Ausschau zu halten.
Mutter und Tochter spazieren gerne nachmittags durch Naugard. Sie gehen dann zuerst in die Kirche und Frida schickt einen lieben Gruß an ihren Vater im Himmel. Sie glaubt, dass das in der Kirche schneller geht und ihr Gebet besser bei ihm ankommt. Danach flanieren beide durch diesen schönen Sommertag, vorbei an der alten Stadtbefestigung und am 1911 neu erbauten Rathaus, das seine neobarocken Jugendstilfassaden stolz in den Sommerhimmel reckt. Vorbei geht es auch an den beiden Ulmen, deren Wurzeln mit Moos bewachsen sind. Über zehn Meter sind diese Bäume hoch und um die 600 Jahre alt. Was diese betagten Bäume wohl schon alles gesehen haben? Heute zwei fröhlich lachende weibliche Geschöpfe, die angeregt über die Zukunft plaudern und in Richtung der modernen Geschäftsstraßen gehen.
Hier hat sich viel getan. Der wirtschaftliche Aufschwung ist angekommen und Pommern wird für den Fremdenverkehr wiederentdeckt. Es entstehen Hotels, Badeanstalten, neue Geschäfte und Restaurants. So fließt Geld in die Städte, die davon profitieren und noch größer und schöner werden.
Hilde und Frida drücken sich ihre Nasen an den großen Schaufensterscheiben der Modegeschäfte platt. Wobei dies mehr Frida macht, denn eine Dame wie Hilde, die schaut nur wohlgesittet. Schick gekleidete Damen kommen aus den Geschäften, die Bediensteten tragen ihnen Hutschachteln und viele andere Pakete hinterher. Das ist die Stadt Naugard in diesen Sommertagen, unbeschwert und leicht für alle. Und er wird noch schöner, dieser Sommer 1926. Mutter Hilde greift sogar in die sorgsam gehütete Zigarrenkiste, um etwas vom zurückgelegten Geld herauszuholen. Lange wägt sie vorher ab, aber das forsche „Ja“ überstimmt letztendlich das vorsichtige „Nein“ und so plant sie einen Familienausflug an die Ostsee. Es sind nur 55 Kilometer bis zum Strand und warum eigentlich nicht? Vielleicht dürfen Erna und Hiltrud auch mit ans Meer und ihre Ehemänner schließen sich an. Aber sie dürfen nicht, Theo und Emil halten nichts von dieser neumodischen Badekultur. Ostseewasser, nackte Haut und Sonnenschein, das ist denen nicht geheuer. Frida aber freut sich auf diesen Tag am Meer mit ihrer Mutter. Hoffentlich hält die Sonne, was sie in diesem Juli bisher so großzügig verschenkt, auch dann. Ein wenig wird die Vorfreude getrübt, ins Wasser darf Frida nicht, denn Mutter findet es für ihre Heranwachsende nicht schicklich. Frida handelt mit viel Überredungskunst und Umarmungen wenigstens ein kurzes Fußplantschen aus.
Sehr früh am Sonntagmorgen wird alles zusammengepackt; der Korb ist gut gefüllt mit Vesperbroten und Getränken. Sie gehen zum Bahnhof und sitzen wenig später im Zug. Pfeifend und dampfend fährt er ab, über Greifenberg und Treptow. Vorbei geht es an Feldern, Wäldern und an den Strandseen der Pommerschen Seenplatte bis an die Ostseeküste bei Colberg. Frida schaut und staunt, auch über den Fahrkartenkontrolleur, der sie in seiner feschen Uniform irgendwie an ihren Vater erinnert, besonders der dunkle Schnurrbart. Sich seiner Autorität bewusst, prüft er die Fahrkarten, locht sie und meint dann lächelnd: „Noch eine Viertelstunde und wir haben den Zielbahnhof erreicht.“ Der Wind ist ganz anders als in ihrem Städtchen, er bläst ihnen den würzigen Lufthauch der See als Willkommensgruß ins Gesicht. Die beiden Frauen müssen sich ihre Strohhütte fest auf die Köpfe drücken. Sie trauen hier ihren Hutnadeln nicht und die hellblauen Bänder an Fridas Hut flattern so, als wollten sie ganz schnell zum goldenen Sand.
Die schnatternden Möwen zeigen ihnen den Weg. Frida wäre am liebsten von einem Bein auf das andere gesprungen, so wohl fühlt sie sich heute. Aber das macht eine „kleine Dame“ doch nicht, also trippelt sie im Gleichschritt mit ihrer Mutter. Das Schilfröhricht wiegt alle seine braunen Köpfe im Takt mit, als Frida leise ein Liedchen summt und sogar der braune Henkelkorb an Mutters Arm scheint mitzumachen. Und dann sehen sie das Meer, es funkelt blausilbrig. Am Ende ihres Blickes scheint es ohne Übergang mit dem Himmelsblau zu verschmelzen.
Frida ist sprachlos, denn sie sieht das alles zum ersten Mal. Mutter breitet eine Decke aus und sie machen an einer besonders schönen Stelle Rast. Hier liegen blitzende, blankgewaschene Kieselsteine und ruhig ist es auch, denn die öffentliche Badeanstalt ist ein ganzes Stück weiter entfernt. Dorthin strebt das mutige Publikum, das sich ins Wasser wagt. Badehäuschen stehen zum Umkleiden bereit, die dann ins Wasser gezogen werden oder bereits ihren Standort im kühlen Nass haben. Von dort aus „sticht“ in erster Linie das weibliche Publikum vorsichtig in See. Die Männer in ihren Trikots sind da schon mutiger und natürlich auch viele Kinder. Das Geschrei und das Lachen sind weit zu hören. Frida zieht ihre Schnürstiefel und die weißen Strümpfe aus und zeichnet mit ihren Zehen kleine Figuren in den warmen Sand. Einigen vorwitzigen Wellen gelingt es sogar, ihre Füße spritzend nass zu machen. Sie erschrickt, denn das Ostseewasser ist ziemlich kühl. Die Mutter reicht ihr lächelnd ein Handtuch, das sie vorausschauend in den Korb gepackt hatte. Das Butterbrot schmeckt doppelt gut, denn Salz Luft macht hungrig und der Pfefferminztee löscht den Durst. Mutter Hilde erinnert sich an ihre Kindheit und an eine Stelle hinter den Dünen, wo sie vor vielen Jahren einen goldfarbenen Bernstein fand. Frida ist begeistert von der Aussicht, eine Schatzsucherin zu sein. Vielleicht findet sie auch ein Stück Bernstein und vielleicht ist darin sogar in kleines Fossil aus längst vergangener Zeit eingeschlossen. Lehrer Tetzlaw hatte in einer Schulstunde einmal davon erzählt. Frida hat ziemlich Not, ihre Zehen vom Sand zu befreien, bevor sie wieder in ihre Strümpfe und Schuhe schlüpfen kann. Es gelingt schließlich und sie schlendern in besagte Richtung. Die Augen auf den Sand und das glitzernde Wasser gerichtet, mit einem kleinen Stöckchen verdächtiges Terrain untersucht, so agiert Frida, um den Schatz aufzuspüren. Aber es passiert nichts, nur blinder Alarm und der Wind bläst dazu kräftig. Was da blinkt und glitzert, ist kein Bernstein, sondern blanke Kiesel oder Muscheln. Wo hat sich bloß das Gold des Meeres versteckt? Doch endlich sieht sie im Spülsaum der unruhigen See, versteckt zwischen Tang und Holz, ein winziges honigfarbenes Stück. Vorsichtig greift sie danach und die kleine Forscherin hat Glück. Ihre Mutter freut sich mit ihr und kürt sie zur Bernsteinkönigin. Glücklich und unbeschwert sind die beiden und sie wünschen sich, dass das für immer und alle Ewigkeit so bleiben soll. Doch ihre Ewigkeit besteht leider nur aus Sekunden, Minuten, Stunden und einem Zug mit Dampflok, der pünktlich wieder nach Naugard fahren wird. „Also bitte Frida, nicht trödeln, wir müssen zum Bahnhof“, so holen Mutters Worte die Träumerin in die Wirklichkeit zurück. Müde und glücklich sitzen beide dann auf den Holzbänken im Zug. Ab und an werden Fridas Lider so schwer und ihre Augen so klein, dass der Schlaf sie überredet, einfach etwas zu träumen. Mutter Hilde hält sie lächelnd im Arm und beobachtet ihre Kleine, sie scheint diesen schönen Sommertag noch mal zu erleben. Mit der Faust hält dabei ihren Bernsteinschatz fest. Er wird ihr und der Mutter sicher Glück bescheren.
Aber das ist so eine Sache mit dem Bernstein, als auch mit dem Glück und das besonders dann, wenn Mutter Hilde aus Liebe unehrlich ist und Frida verschweigt, dass dieser vermeintliche Bernsteinfund nur eine kleine Glasscherbe ist, deren scharfe Kanten von der Zeit und den ewigen Wellen blankgeschliffen sind.
Nach diesem Sommer beginnt für Frida das letzte Jahr in der Volksschule. Ihre Schulzeit wird danach zu Ende sein. Lehrer Tetzlaw hat eine Damenschneiderin in Danzig ausfindig gemacht, die ab nächsten Sommer ein Lehrmädchen einstellt. Frida kann dort, wenn alles gut geht, vier oder fünf Jahre alles rund um Nadel und Faden erlernen. Ihre Mutter muss dann allerdings Lehrgeld bezahlen und zu Kost und Unterbringung beitragen. Deshalb will Hilde weiter sparen, um Frida diese Ausbildung zu ermöglichen. Damit wäre dann ein guter Grundstein für Fridas Leben gelegt und vielleicht wird später auch ihr Traum, als Modistin zu arbeiten, Wirklichkeit.
Der Herbst legt seine bunten, warmen Farben an und verwöhnt die Menschen in Pommern mit freundlichem Wetter. In den Wäldern gibt es viele Pilze, Beeren und Kräuter zu sammeln. Mutter und Tochter nutzen diese Tage, um sich für den Winter Vorräte anzulegen. Schon frühmorgens