War das ein Leben. Petra Pansch

War das ein Leben - Petra Pansch


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spricht ein paar liebe Sätze und ist auch froh, wenn er wieder in die warme Stube kann. Dann fällt Erde auf den Sarg. Ein Holzkreuz mit Namen wird noch gezimmert. Frida meint hinten am Horizont eine Möwe zu sehen, sie sieht im Sonnenstrahl wie die aus, die sie an Weihnachten nachts im Traum sah, sie hört deren Kreischen und es rinnen ihr Tränen übers kalte Gesicht. Nach der Beerdigung gehen die Trauernden noch in die Wohnung von Emil und Hiltrud, zu Muckefuck, Kuchen und Schnaps.

      Für immer und ewig. Schnee fällt wieder und deckt ein weißes Tuch auf das frisch zugeschaufelte Grab und die gefrorene Erde. Der Wind bläst ein paar dürre Zweige auf dem Weg zur Friedhofskapelle vor sich her und die Dunkelheit umfängt alles mit Ruhe. Da erscheint eine große etwas gebeugte Gestalt, suchend schaut sie sich um, bis sie das frische Grab ausfindig macht und zögerlich, aber doch entschlossen dorthin geht. Es ist Lehrer Tetzlaw, der Hilde Pautz die letzte Ehre erweist. Er murmelt leise ein Gebet, bittet um gute Aufnahme der Verstorbenen im Jenseits und gleichzeitig für seine Lieblingsschülerin Frida um Gnade und Glück. Er ahnt, dass die nächsten Wochen viel neues für das Mädchen bringen werden. Ein Christrosenzweiglein legt er auf die kalte Erde und ein paar Tränen rinnen. An diesem stillen Ort ist es sogar ihm erlaubt, Gefühle zu zeigen. Außer Gott, den Seelen der Verstorbenen und natürlich den Friedhofsgeistern sieht es ja kein Mensch und er hat diese liebeswerte Frau mehr als nur gemocht. Er richtet sich auf und grüßt sie zum letzten Mal. Dann gibt ihm sein einziger und treuer Begleiter an diesem Abend, der Rohrstock, Halt, um den vereisten Weg zurück ins Schulhaus zu gehen.

      Indessen liegt Frida im neuen Zuhause im Bett. Hiltrud hat ihre Schwester liebevoll zur Nachtruhe vorbereitet. Sie versucht, der Kleinen die Angst vor dem Neuen zu nehmen, betet mit ihr zur Nacht und deckt sie liebevoll zu. Dann schließt sie leise die Tür hinter sich und geht in die Küche zurück. Die kleine Kammer ist in Dunkel getaucht, nur der Mond spendet etwas Licht und zeichnet an der Decke weißlich-güldene Muster. Sie hat sich das dicke Federbett bis unter die Nase gezogen, gerade so, dass sie noch atmen kann und ist einfach nur müde und unendlich traurig. Was wohl der nächste Tag bringt. Ohne sich diese Frage zu beantworten, sinkt sie in den Schlaf. Ihre Träume tragen sie in frohe Zeiten und ihre Lippen formen sich zu einem Lächeln, so schön ist dieser Traum. Am nächsten Morgen muss das zerzauste Mädchen sich erstmal erinnern, wo sie ist. Alles kommt ihr wieder in den Sinn, sie steht zögerlich auf und macht sich zurecht. Das Nachthemd faltet sie so, wie es ihr die Mutter gelehrt hat und mit dem grobzinkigen Kamm versucht sie, ihr verwuscheltes Haar zu ordnen. Sie flicht sich einen Zopf und bindet die neue, dunkelgrüne Schleife hinein. In der Küche trifft sie auf Emil, der schon ausgehfertig ist. Er greift nach seinem Butterbrot für die Pause, steckt es in seine braune Tasche und macht sich auf den Weg zu seiner Arbeit als Pförtner. Dort verdient er etwas zu seiner Kriegsrente hinzu, denn bei dieser sitzenden Beschäftigung stört sein zerschossenes Bein zum Glück nicht. Er streicht Frida übers Haar und hinkt hinaus. Jetzt im Winter spürt der Mann seine Verletzung besonders schlimm und das Gehen fällt ihm schwer. Doch das Leben ist nicht leicht und jetzt sitzt Frida zusätzlich mit am Tisch, das macht alles noch schwieriger.

      Die beiden Schwestern sind allein, nein, doch nicht. Wellensittich Hansi macht sich pfeifend bemerkbar. Er ist aus dem offenen Käfig heraus stolziert und startet zum Sturzflug, um sich auf Fridas Kopf niederzulassen und ganz zärtlich in die lockende, grüne Schleife zu picken. Vielleicht glaubt er, dass es ein leckeres „Fresserchen“ ist. Da müssen die beiden sogar lachen. Hiltrud reicht Frida eine Tasse heiße Milch mit Honig und eine Scheibe Brot, dick mit Butter und Sirup bestrichen. Zur Schule lässt sie ihre Schwester nicht. Sie will ihr zuerst ein wenig die Traurigkeit und die Angst vor dem Neuen nehmen und erklärt ihr auch behutsam, dass ihr Leben sich ändern wird. Emil ist jetzt ihr Vormund und entscheidet an Eltern statt. Hiltrud kann ihrer Schwester nur beratend zur Seite stehen, die Entscheidung trägt allein ihr Ehemann. Frida begreift die Tragweite dieser Situation noch nicht; sie meint ihr Leben würde so weiter gehen, wie es ihre Mutter in glücklichen Tagen aufgezeichnet hatte. Sie sieht sich noch in diesem Jahr als Lehrmädchen in Danzig und ist zuversichtlich, dass sie eine Schneiderin werden wird.

      Hiltrud hat noch vieles zu erledigen. Sie nimmt ihren Geldbeutel, steckt ihn in ihre große Handtasche, zieht sich den Wintermantel über und verknotet zusätzlich ein dickes wollenes Tuch über ihrer Brust. Es ist bitter kalt. Sie bedeutet Frida, es sich in der guten Stube gemütlich zu machen, der Kachelofen hält noch die Wärme vom vergangenen Abend. Sie soll zu Hause bleiben, denn sie hätte vergangene Nacht gehustet. Das hörte sie zwischen ihren unruhigen Träumen. Hiltrud hat Angst, dass jetzt wieder schlimmes passieren könnte. Darum ihr kategorisches „Nein“ zu Fridas Wunsch, sie begleiten zu dürfen.

      Frida holt ihr Kästchen mit den Schneiderutensilien, ein paar Stoffreste, Paper und lockt Hansi in die gute Stube. Sie ist nicht gerne allein, es ist alles noch ungewohnt. Auf der Kommode bestaunt sie zwei Fotos, die in geschwungenen Rahmen darauf stehen. Auf dem einen Foto erkennt sie Emil, da war er wohl noch jünger. Neben ihm eine Frau, die einen schönen Blumenstrauß in der Hand hält. Auf dem anderen ist Emil in Uniform zu sehen, sicher im schlimmen Krieg vor ein paar Jahren fotografiert. Sie will ihre Schwester, wenn sie wieder zurück ist, fragen, wie sich das alles verhält. Der Wellensittich hat sich derweil im großen Blumentopf der Zimmerpalme niedergelassen und gräbt fleißig mit seinen scharfen Krallen.

      Hübsche Kleider in ihrem Lieblingsblau zeichnet die kleine Künstlerin, dann sucht sie aus den Stoffresten etwas passendes und Knöpfe und Borten. Ihre kleine Zungenspitze wandert von links nach rechts und wieder zurück. Das macht sie immer, es ist eine ihrer liebenswerten Angewohnheiten. Die Zeit verfliegt und mit einem Mal spürt sie die Hand ihrer Schwester auf der Schulter. Hiltrud hat alles erledigt. Ihr Geldbeutel ist nach dem Begleichen aller Rechnungen so leer wir ihr Magen, nur knurren, das tut er nicht.

      Sie muss sich beeilen, es ist gleich Mittag und ein Essen soll auch noch bereitet werden, ihr Emil kommt gleich nach Hause. Zum Glück ist die Kartoffelsuppe schnell aufgewärmt und um sie noch etwas zu verlängern, schüttet sie etwas heißes Wasser hinzu und verrührt einen Brühwürfel. Eine Mohrrübe und Speckschwarten schnippelt sie auch noch hinein, das bringt Geschmack.

      Während die Suppe kocht, fragt Frida ihre Schwester nach den gerahmten Fotos in der Stube. Ja, sie hatte richtig gedacht, der Soldat ist Emil, noch mit heilen Beinen, bevor er in den Krieg ziehen musste. Bei dem anderen Foto fällt es Hiltrud schwerer zu antworten, deshalb lenkt sie vom Thema ab. Lächelnd erzählt sie, dass am Abend Mutters Singer-Nähmaschine gebracht wird. Hiltrud hat sie nicht zum Verkauf angeboten, nein, sie hängt genauso wie Frida an dieser „alten Dame mit dem schnurrenden Klang“. Sie soll neben Fridas Bett in der Ecke am Fenster einen Platz finden und dem Mädchen helfen, ihren Traum zu verwirklichen.

      Die beiden stellen noch die Blechkanne mit heißem Muckefuck auf den Tisch. Pünktlich wird gegessen, darauf lässt Emil nichts kommen. Alles muss seinen geordneten Gang in Deutschland haben, das fängt bereits in der Familie an, so meint er. Deshalb bestimmt er auch, dass Frida wieder zur Schule soll. Sie sieht wieder „wohl“ aus, stellt er fest, nachdem er sich sein obligatorisches Mittagspfeifchen angezündet hat. Frida ist das ganz recht, sie freut sich darauf. Das Mädchen möchte allein sein und über all das neue nachzudenken. Deshalb fragt sie um Erlaubnis, nach draußen gehen zu dürfen. Ja, sie darf und Hiltrud trägt ihr noch auf, einen Vierpfünder, ein großes lockeres Bauernbrot, einzukaufen. Schnell zieht sie den dicken Mantel an, die gestrickte Mütze über ihre Locken, greift zu den Handschuhen und der Einkaufstasche. Sie braucht einen Spaziergang und ihre Füße gehen den Weg von ganz allein in die alte Richtung, zurück zu ihrer ehemaligen Wohnsiedlung. Das war einmal, denkt sie traurig und geht schnellen Schrittes daran vorbei. Im Stadtzentrum ist es heute viel ruhiger als in der Weihnachtszeit, als sie zuletzt hier war. Auch die Dekoration ist verschwunden, es ist alles wieder ganz normal, nur ihre Gedanken fahren Karussell. Heute kann sie sich nicht einmal an den wunderschönen Kleidern mit den passenden Hüten und anderen Accessoires erfreuen. Die Nase wird nicht am Schaufenster kalt und plattgedrückt, sie zieht nur ihre Stirn kraus, die Denkfalten und viele Fragen verbirgt ihre Mütze.

      Nicht nur ihre neue Welt ist jetzt so anders. Auch ihr eigener Körper spielt verrückt, er hat sich verändert. In den Achselhöhlen spürt sie erste, zarte Härchen. Mit dem Spiegel hat sie heimlich nachgeschaut und wirklich, sie erblickt blonden Flaum. Dazu kommt noch, dass sich unterm Unterhemd


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