War das ein Leben. Petra Pansch
Das darf heute sein, es ist doch ein Festtag und so selten, dass alle hier versammelt sind. Zur Feier des Tages hat Emil sogar eine Flasche roten Wein gestiftet. Mutter Hilde bekommt darin ein Eigelb und Zucker verrührt, es soll ihr neue Kräfte geben.
Später gibt es kleine Geschenke. Frida überreicht ihrer Mutter den selbst gehäkelten Umhang, den die sich glücklich umhängt. Frida bekommt eine zartgrüne Haarschleife und neue warme Socken. Sie freut sich, aber ihre Augen leuchten noch mehr, als sie ein kleines Kästchen öffnet, darin Nähutensilien. Nächstes Jahr wird sie die gut brauchen können, wenn sie zur Lehre nach Danzig gehen wird. Froh denkt sie an die kommende Zeit.
Nach der Bescherung geht es in der guten Stube ans Geschichten erzählen. Frida gruselt sich mächtig, als Hiltrud die Sage von den verwunschenen Seelen in der Stettiner Heide erzählt, die holen sich nämlich in der Christennacht Menschen, die sich streiten. Mit einem „Wolkenbrief“ ziehen sie die in ihre Mitte und sie müssen von diesem Zeitpunkt an bis in alle Ewigkeit jammern. Sie hofft inständig, dass keiner der Familie heute streitet. Es gibt auch so schon genügend, was alles erledigt werden muss, da wird jeder gebraucht.
Ihre Mutter schlummert vor sich hin, sie hat das Ende der Geschichte gar nicht mitbekommen. Aber sie kennt die sicher schon, denn Jahr für Jahr läuft das Weihnachtsfest ähnlich ab. Nur Frida darf sich darüber heute zum ersten Mal gruseln, sie hört diese Geschichte zum ersten Mal. Endlich wird gesungen. Das gefällt dem Mädchen und sie stimmt mit ihrem Sopran ein. Später erklingen Volkslieder, denn der Abend ist lang und das Repertoire an Weihnachtsliedern reicht nicht.
Das Mädchen wird müde und ihre Schwestern bringen sie und die Mutter zu Bett. Sie hört noch Stimmen und Lachen, bis sie in ihren Weihnachtstraum fällt. Sie begegnet darin der „goldenen Möwe“, aus einer pommerschen Sage entsprungen. Frida sieht sich mit ihrer Mutter an der verschneiten Ostseeküste entlanglaufen. Es ist bitterkalt, aber die Sonne scheint hell und gleisend. Plötzlich kommt diese Möwe majestätisch daher gesegelt. Frida weiß, dass sie sich jetzt etwas wünschen darf. Sie glaubt fest daran und wünscht sich Gesundheit für ihre Mutter und als zweites solle ihr Vater aus dem Himmel zu ihnen zurück auf die Erde kommen. Just in diesem Moment muss sie ihren Blick, ohne auch nur einmal zu blinzeln und ohne wegzuschauen, auf diese Möwe richten. Frida strengt sich so an, aber das Licht, in das die Möwe getaucht ist, das ist nicht auszuhalten. Ihre Augenlider schließen sich. Das Mädchen schreit auf, sie ist schweißgebadet und versucht diesen Traum zu verscheuchen, doch es will ihr nicht gelingen, die Mutter ist weiter geschwächt und hustet.
Die Weihnachtstage vergehen und das alte Jahr verabschiedet sich mit viel Kälte und Schnee. 1927, das neue, öffnet sein Füllhorn und schüttet weiter Schneeflocken auf die Welt, die schon viel zu viel davon hat. Besonders die alten Leute befürchten wieder einmal schlimmes Hochwasser, das für lange Zeiten im Frühjahr nicht nur die Auen überschwemmt, sondern auch die Felder. Sie haben die Wetterereignisse längst vergangener Jahre fest in ihren Köpfen und wissen die Zeichen der Natur zu deuten. Hoffentlich haben sie diesmal Unrecht.
Frida freut sich, dass die Schule wieder angefangen hat. Das lenkt sie etwas von Mutters Leid ab. Außerdem möchte sie auf dem letzten Zeugnis nur gute Zensuren haben. Sie lernt abends, wenn sie die Hausarbeit getan hat, noch für die Schule. Ihre Mutter liegt nur noch im Bett und essen will sie auch nichts mehr. Alle machen sich große Sorgen. Schwiegersohn Emil entscheidet resolut, ein Arzt muss kommen, auch wenn sich Hilde dagegen wehrt. So geschieht es, Doktor Haubricht kommt am späten Nachmittag mit seinem Auto vorgefahren. Die gesamte Nachbarschaft bestaunt dieses rollende kolbenbetriebene Automobil. Er steigt aus diesem Gefährt und greift sich seine große braune Ledertasche. Er will Mutter Hilde gründlich untersuchen und schickt die Familie aus dem Zimmer. Die Türe wird fest verschlossen und es dauert eine ganze Zeit. Frida dreht wieder ihre Schleifenbänder an ihren Zöpfen und rutscht unruhig auf dem Küchenstuhl hin und her. Sie liest im Schulbuch, aber sie weiß nicht, was sie liest, denn ihre Gedanken sind bei ihrer Mutter. Theo und Emil stehen rauchend vor der Tür. Ihre beiden Schwestern versuchen hinter der Tür das Tun und das Gespräch des Dr. Haubricht zu entschlüsseln. Es vergeht eine Ewigkeit, bis der Arzt aus dem Zimmer kommt, das Hörrohr noch in der Hand. Er runzelt die Stirn und wäscht sich seine Hände am eiserenen Waschbecken. Er trocknet sie am Handtuch ab, das Erna ihm reicht und spricht leise mit den Erwachsenen. Dann gibt er Emil einen Zettel, verabschiedet sich mit den Worten, dass er übermorgen vorbeischaut und nachschaut, ob die Medizin anschlägt. Theo bietet sich an, das Rezept in der Apotheke einzulösen, denn er ist doch besser zu Fuß als der etwas hinkende Emil. Dann verlässt er eilig die Wohnung. Emil geht zum Küchenschrank, greift zur Flasche Verdauungsschnaps und nach einem Glas und schenkt sich ein. Frida schaut ungläubig auf das Geschehen, sie versteht überhaupt nichts. Erna und Hiltrud nehmen sie beide in die Arme, das ist eine ganz seltene Sache, denn Frida will das eigentlich nicht mehr, sie ist doch schon ein großes Mädchen. Diesmal hält sie still, sie fühlt, jetzt passiert etwas Schlimmes. Und wirklich, ihre beiden Schwestern erklären ihr mit Tränen in den Augen, wie krank ihre geliebte Mutter ist. Frida hört nur das schlimme Wort „Schwindsucht“, dann schluchzt sie laut los. Sie will zu ihrer Mutter, doch die Großen halten sie zurück. Mutter soll nicht wissen, wie schlimm es um sie steht. Hiltrud wird die nächste Zeit wieder zu Hause wohnen und sich um Mutter und Frida kümmern. Das haben sie vorhin mit dem Arzt beredet. Frida wischt sich die Augen aus und fährt mit Wasser und Kamm durch ihr zerzaustes Haar, dann darf sie zur Mutter. Die gute Stube soll die nächste Zeit die Krankenstube werden. Das Bett aus dem Schlafzimmer wird später von den Schwiegersöhnen dort aufgestellt. Alles dreht sich jetzt um die Mutter, Hiltrud kümmert sich liebevoll um sie. Der Wecker klingelt alle paar Stunden, um die Medizin regelmäßig und pünktlich zu verabreichen. Doch es wird nicht besser, Mutter hustet schlimmer und der kleine Spucknapf muss immer öfter geleert werden. Sie ist zu schwach und bekommt kaum noch etwas runter, obwohl Hiltrud und Frida ihr die nahrhafte Suppe löffelweise geben und es mit viel Liebe und Mühe immer wieder versuchen. Der Arzt kommt noch ein paar Mal, aber die Medikamente schlagen nicht mehr an und er bereitet die Familie auf das Schlimmste vor. Er möchte Hilde ins Krankenhaus bringen, doch sie ahnt, dass sie bald sterben wird und will zu Hause bleiben. Sie sagt niemandem, dass sie weiß, wie es um sie steht. So vergehen zwei Wochen mit Hoffen und Bangen, aber die Zeit bringt keine Besserung. Frida ist oft mit ihrem Bernstein in der Marienkirche und legt das Gold des Meeres heimlich neben den Altar und hofft, dass Gott Kraft sendet. Kraft, die sie ihrer Mutter weitergeben kann, damit sie gesund wird. Aber es geschieht nichts. Traurig legt sie den Bernstein der Mutter in die Hand, die sie mit großen schwarzumränderten Augen anschaut. Mit leiser Stimme sagt sie, dass sie ihre Kleine sehr liebhat und sie nie vergessen wird. Sie bittet Frida, ihr aus dem Nachtischkasten im Schlafzimmer die Zigarrenkiste des Vaters und das kleine mit Samt ausgeschlagene Schmuckkästchen zu bringen.
Dann spricht sie mit ihren Töchtern und erklärt ihren Lieblingen, dass sie spürt, sich bald auf den Weg begeben zu müssen: „Keine Angst meine Kinder, euer Vater wartet dort auf mich, wir sind dann endlich wieder zusammen und bis in alle Ewigkeit vereint.“ Sie bittet ihre Töchter immer füreinander da zu sein. Besonders an Erna und Hiltrud richtet sie die Bitte, auf Frida aufzupassen. „In der Zigarrenkiste ist genügend gespartes Geld, um für Frida die Lehre zu finanzieren, das wünsche ich mir so sehr“, spricht sie. Dann verlangt sie nach dem Schmuckkästchen. Drei Ringe liegen darin; einer mit einem blauen Saphir für Frida, einer in jadegrün für Erna und für Hiltrud einer in Koralle. Jedes Mädchen erhält den ihren, dann küsst die Mutter jede auf die Stirn und bedeutet ihnen, dass sie jetzt schlafen möchte. Das ist das letzte Mal, dass sie ihre Mutter lebend sehen. Als sie nach einer halben Stunde mit Suppe und Medizin ins Zimmer kommen, ist ihre Mutter schon mit dem Vater vereint.
Frida findet in dieser Nacht keinen Schlaf. Am nächsten Morgen erfährt das traurige Mädchen, wie es nun weitergehen soll. Vorerst wird sie bei Hiltrud und Emil wohnen. Sicher, bis die Schule zu Ende ist und sie ihre Lehre beginnt, denkt sie traurig und zuversichtlich zu gleich.
Mutters Sarg wird abgeholt und nicht viel später wird auch schon die Wohnung geräumt. Sachen, die überflüssig sind, werden verkauft, die Arztrechnung und die Medizin müssen bezahlt werden.
Dann ein kalter Mittwochvormittag, der Dauerfrost hat es den Totengräbern schwer gemacht, mit ihren Spaten ein Grab für Mutter Hilde zu graben. Auch die Erde, der letzte Gruß