Prinzessin Arschloch. David Lowe
David Lowe, Kasper Klein
Prinzessin
Arschloch
© 2020 David Lowe, Kasper Klein
Verlag & Druck: tredition GmbH, Halenreie 40-44, 22359 Hamburg
ISBN | |
Paperback: | 978-3-347-08236-6 |
Hardcover: | 978-3-347-08237-3 |
e-Book: | 978-3-347-08238-0 |
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1
Gestatten: Anna Müller
Untermoscheln – Was zunächst klingt wie eine ansteckende Krankheit, ist eigentlich ein kleines Achthundert-Einwohner-Kaff am Arsch der Welt. Achthundert Einwohner, aber mindestens tausend Kühe und Schweine. Bei achthundert Einwohnern gibt es logischerweise achthundert Geschichten. In diesem Buch geht es um die Geschichte eines Mädchens mit dem exotischen Namen Anna Müller.
Es ist fünf Uhr morgens. Wie sechs Tage in der Woche klingelt um diese Uhrzeit Annas Wecker. Und genau wie an jedem Morgen versucht Anna, mit ihrer Vorstellungskraft die Uhr eine Stunde zurückzudrehen. Erfolglos!
Noch schlaftrunken starrt sie mit halb geschlossenen Augen an die weiße Zimmerdecke und nimmt immer mehr die Geräuschkulisse war, die sich wie ein Presslufthammer in ihr Bewusstsein meißelt. Langsam dreht sie ihren Kopf nach links, um in das verschwitzte, schlafende Gesicht ihres Freundes Nils zu sehen.
Doch das nervtötende Schnarchen vom Nachbarkissen, das andere Menschen wahnsinnig machen würde, zaubert Anna ein Lächeln ins Gesicht. Dies sind die Momente, in denen ihr wieder klar wird, dass dieser 1,85 Meter große, gut gebaute, attraktive Mann ganz allein ihrer ist (inklusive Schnarchen). Sie dagegen – mit 1,68 Metern eher klein geraten, braune Haare mit langweiligem Pony, von dem sie sich, seit sie vierzehn ist, einfach nicht trennen kann, und wahllos verteilten Sommersprossen (was sich der liebe Gott wohl dabei gedacht hat) – hat es noch nie ganz verstanden, womit sie dieses Glück verdient hat.
Umso mehr stellt sie erneut fest, dass es nur fair ist, für diesen Glücksfang sechs Tage die Woche arbeiten zu gehen. Und ehrlich gesagt hat er sich auch eine Pause verdient, nach seinem fast abgeschlossenen Fernstudium der Betriebswissenschaften. Dass er dieses Studium frühzeitig abgebrochen hat, findet Anna zwar persönlich schade, ändert aber nichts daran, dass sie ihm bei seiner Entscheidung den Rücken stärkt.
Mist! Vor lauter Träumereien hat Anna die Uhrzeit aus den Augen verloren. In einer Stunde muss sie auf der Arbeit sein. Allein die Bergund Talfahrt auf dem Rad kostet sie jedes Mal schweißtreibende fünfundvierzig Minuten. Denn während in so ziemlich allen Nachbardörfern ein Bus das gängigste Verkehrsmittel ist, hat Untermoscheln die öffentlichen Fahrdienste vor acht Uhr morgens eingestellt. Doch jetzt schnell!
Vorsichtig zieht Anna die blaue Baumwollbettdecke von ihrem Körper, um Nils noch mehr damit einzukuscheln. Sie erhebt sich geräuschlos aus dem braunen Altholzbett und tippelt auf Zehenspitzen die vier Meter Richtung Badezimmer. Gar nicht so einfach in einer Vierzig-Quadratmeter-Wohnung, in der der Bodenbelag aus vierzig Jahre alten Holzdielen besteht, die bereits beim Anschauen knarzen. In den letzten zwei Jahren hat sie die Stellen gefunden, welche man gefahrlos betreten kann. Es ist ein wenig wie in einem Indiana-Jones-Film.
An manchen Stellen muss sie ein wenig hüpfen, bei anderen darf sie nur leicht auftreten, um dann direkt weiter zu nächsten rettenden Diele zu gleiten. Jedoch wartet am Ende nicht ein verschollener Inkaschatz, sondern nur das mit türkischen Sechzigerjahre-Fliesen ausgestattete Badezimmer. Nun kommt eines ihrer größten Talente zum Einsatz, auf das sie sehr stolz ist. In den vergangenen Monaten hat Anna nämlich gelernt, das Multitasking der morgendlichen Aufbereitung zu perfektionieren. Wer sonst schafft es, mit nicht geputzten Zähnen und ungemachten Haaren den morgendlichen Toilettengang zu beginnen und ihn mit sauberen Zähnen und gemachten Haaren zu beenden? Ob das für den Hauptgewinn beim Supertalent reicht? Sie weiß es nicht. In Lichtgeschwindigkeit schlüpft sie leise in ihre blauen Jeans und zieht das weiße, ausgewaschene Poloshirt mit der Aufschrift „Tante Isabells Backstube“ über. Nur noch die zwei Meter vom Bad zur Wohnungstür trennen sie vom erfolgreichen Abschluss ihrer „Ich wecke meinen Nils nicht“-Mission. Gut gemacht, Dr. Jones, würde es dann heißen. Sich selbst auf die Schultern klopfend und mit einem breiten Lächeln führt sie gedanklich einen Freudentanz an der offenen Wohnungstür auf – um keine drei Sekunden später mit ihrer kleinen schwarzen Eastpak-Tasche wie der letzte Vollhorst die Vase von Nils bester Freundin Janine Richtung Erdboden zu befördern. Klirr! Ein schneller Blick auf Nils und vorbei ist es mit dem Inkaschatz.
Nicht gut gemacht, Dr. Jones. „Na, was ist es diesmal“, grummelt es Anna aus dem Bett entgegen.
„Die kleine grüne Vase von Janine“, flüstert Anna kleinlaut. „Tut mir total leid.“
„Okay“, entgegnet Nils wortkarg. „Hast es ja immerhin zwei Wochen ohne geschafft.“ Traurig über ihre Tollpatschigkeit (neben den Sommersprossen ein weiteres Laster) verspricht sie Nils, eine neue zu kaufen. „Ach ja, kümmerst du dich heute noch um die Bewerbung für den Ausbildungsplatz?“, fragt Anna zögerlich.
„Ein paar von den Jungs wollten nachher noch vorbeikommen“, gibt Nils zurück. „Aber wenn ich danach noch Zeit habe, kümmere ich mich darum.“
„Alles klar, Schatz.“ Mit diesen Worten und einem verliebten Lächeln verabschiedet sich Anna und macht sich daran, die Wohnung zu verlassen. Plötzlich fällt ihr auf, dass sie beinahe das Wichtigste vergessen hat. Schnell hopst sie die paar Meter auf den knarrenden Dielen Richtung Bett zurück, um sich noch von Mr. Brummbär zu verabschieden.
Mr. Brummbär ist ein verwaschener, etwa achtzig Zentimeter großer Stoffbär, den sie von ihrem Vater bekommen hat. Dieser ist vor sechs Jahren an Krebs gestorben, weswegen das Kuscheltier für Anna eine besondere Bedeutung hat. Das war die schwerste Zeit ihres Lebens, an die sie bis heute ungern zurückdenkt. Ihre Mutter hat sie nie kennengelernt, und so gab es immer nur ihren Vater und sie… und eben Mr. Brummbär, den Annas Papa ihr damals zur Geburt gekauft hat. Seit sie denken kann, verabschiedet sie sich, wenn sie das Haus verlässt, von Mr. Brummbär. Er bekommt jedes Mal einen Kuss auf die Nase und einen weiteren auf die Stirn und ein herzliches „Bis später, Mr. Brummbär“.
Nun aber wirklich los! Tür zu, das Treppenhaus herunter geflitzt, raus aus dem Haus und ab auf ihr rosa Fahrrad, das vor der Tür treu auf sie wartet. Bereits auf den ersten Metern beschleicht Anna das Gefühl, etwas weiteres Wichtiges vergessen zu haben. Doch nun ist es eh zu spät – die zehn Kilometer zur Bäckerei wollen in einer neuen Bestzeit zurückgelegt werden. Bereits auf den ersten Metern wird Annas Kondition auf die Probe gestellt. Völlig verschwitzt wird Anna wie jeden Morgen klar, warum Untermoscheln eben Untermoscheln heißt. „Der Mount Everest ist ein Scheiß dagegen“, versucht Anna sich ihre schlechte Kondition schönzureden.
Während Annas Beine immer langsamer und ihre Flüche immer lauter werden, hört sie neben sich ein freundliches und vollkommen entspanntes „Guten Morgen, liebe Anna.“ Völlig angenervt und rot wie eine Tomate dreht sie ihren Kopf nach links – die Richtung, aus der die Stimme kam. „Morgen, Frau… Lend… kühn“, versucht Anna erfolglos ihre Kurzatmigkeit zu verbergen. Kaum hat sie dies ausgesprochen, muss sie plötzlich an die Dokumentation vom letzten Dienstag denken, in der es um die Kurzatmigkeit von Möpsen ging – diese kleinen, niedlich sabbernden Hunde, die gefühlt nach drei Metern Laufen völlig erschöpft zu Boden gehen. Seltsam.
„Grüße an … Herrn Lendkühn“, japst Anna atemlos. Doch Frau Lendkühn ist bereits außer Hörweite hinter der nächsten Bergkuppe verschwunden. Echt deprimierend. Vor allem, wenn man bedenkt, dass die Frau bereits Anfang Siebzig ist und eine Beinprothese hat. Doch bevor Anna den Gedanken weiter verfolgen kann, kommt sie auch schon an ihre Lieblingsstelle: die Kuppe des Berges. Von hier aus kann man das ganze Tal überblicken. Man kann über Untermoscheln ja behaupten, was man will, aber die Aussicht ist atemberaubend. Alles,