Prinzessin Arschloch. David Lowe
sie sich endlich entschließt, es zu wagen. Augen zu und durch! Schnell noch die Haustür geöffnet und dann nähert sie sich mit kleinen, zaghaften Schritten ihrem Zuhause.
Einem wandelnden Gespenst gleich schleicht sie durch das Treppenhaus und steht dann vor ihrer Wohnungstür. Bitte, bitte, lieber Gott – lass Nils alleine sein. Mit zittriger Hand sucht sie ihren Wohnungsschlüssel und findet diesen in ihrer Tasche. Immerhin ein Schlüssel, den sie heute nicht vergessen hat. Sie öffnet die Tür und betritt ihre Wohnung.
Als sie instinktiv nach rechts schaut, stellt sie erschrocken fest, dass Nils nicht alleine ist. Aber seine Kumpels, von denen Nils vorher gesprochen hat, sind es definitiv nicht. Diese liegen nämlich in der Regel nicht nackt in seinem Bett. Es ist Janine, Nils‘ „platonische“ Freundin. Mit aufgerissenen Augen starren sich Anna und Janine an. Keiner bewegt sich. Totale Stille. So etwas nennt man wohl einen Bilderbuch-Schockzustand.
Bevor Anna auch nur ein Wort sagen kann, wird die Stille von der Klospülung unterbrochen. Die Klotür öffnet sich und Nils betritt das Zimmer und erblickt Anna. Auch sein Gesichtsausdruck spricht Bände. Schockzustand. „Hä? Warum bist du denn schon hier? Bist du nicht sieben Stunden zu früh?“, eröffnet Nils das Gespräch unerwartet vorwurfsvoll.
Mittlerweile kreidebleich, ist Anna total überfordert. „Du hast recht. Tut mir leid“, stammelt sie unsicher vor sich hin. Sowohl Nils als auch Janine, die sich zwischenzeitlich mit Annas grüner Bettdecke die Brüste bedeckt hat, schauen Anna verwirrt an. Diese geht nun langsam zwei Schritte zurück Richtung Wohnungstür und verlässt schweigend die Wohnung. Total skurril. Wie? Kein Rumgeschreie? Kein zerbrochenes Porzellan? Nils und Janine können nicht fassen, was gerade passiert ist.
Anna übrigens auch nicht. Langsam steigt sie die Treppe hinab und hält vor der Haustür kurz inne. Sie starrt mit glasigen Augen ins Nichts. Sie hat immer noch nicht realisiert, was sie gerade gesehen hat. Ihr Körper zittert. Ein Kloß schnürt ihr die Kehle zu. Eine unerklärliche Angst steigt langsam in ihr auf. Panik! Sie muss hier weg. Einfach nur weg. Plötzlich kann es sie nicht mehr halten. Sie fängt an zu rennen. Die alte Hauptstraße von Untermoscheln entlang, vorbei an den vergilbten Vorhängen der Wohnhäuser, die ihr jetzt gar nicht mehr vertraut vorkommen, sondern aus einer anderen Zeit zu kommen scheinen. Sie läuft und scheint überhaupt nicht müde zu werden. Durch die kleine Gasse, an dem grünen Stahltor vorbei und raus Richtung aus der Stadt. Einfach nur weg von hier. Entlang des Feldwegs, wo die Buslinie Zwölf einmal alle drei Stunden fährt, kommt sie langsam an dem gelben Schild mit der Aufschrift „Sie verlassen Untermoscheln“ zum Stehen.
So weit ist sie noch nie gelaufen. Müde und erschöpft sinkt sie an dem grauen Pfahl des Schildes hinab. Ihr Hintern wird nass von dem noch immer mit Tau bedecktem Gras. Sie kann die Spannung nicht mehr halten. Die Tränen brechen aus ihr heraus. Schon das zweite Mal heute. Womit hat sie das verdient? Als sie heute Morgen aufgestanden ist, war doch noch alles in Ordnung. Und nun sitzt sie mit nasser Hose und völlig verheulten Augen unter dem Stadtschild von Untermoscheln. Was hat sie nur falsch gemacht? Sie dachte immer, sie wäre eine gute Freundin. Plötzlich spielt sich die eben erlebte Szene erneut vor ihrem geistigen Auge ab. Sie muss sich übergeben. Wieder zeigt sich der Vorteil ihrer Ponyfrisur: Niemand muss einem beim Kotzen die Haare halten. Jippie. Aber selbst das kann sie nicht trösten. Was soll sie denn jetzt machen? Sie kann doch jetzt unmöglich wieder nach Hause.
Sie bemerkt in ihrer Hosentasche das Vibrieren ihres Telefons. Immer und immer wieder. Vermutlich ist es Nils, aber in diesem Moment ist er der allerletzte Mensch, mit dem sie sprechen möchte. Aber sprechen muss sie mit jemanden. Nur mit wem? Enge Familie hat Anna nicht. Sie kann ja jetzt schlecht Frau Schiffer anrufen und diese mit ihren Liebesproblemen nerven. Auf einmal hört sie von der rechten Seite ein lautes und kräftiges „Muuuh!“. Die Kühe! Natürlich. Der Weg zur Schule mit ihren Freundinnen, fällt es ihr wie Schuppen von den Augen: Clara und Alex! Hastig zieht sie ihr altes schwarzes Smartphone aus der Tasche und wählt wie von Geisterhand Claras Nummer.
Kann sie das wirklich bringen? Nach so langer Zeit und einfach aus dem Nichts sich wieder melden? Diese und viele andere Fragen gehen ihr durch den Kopf. Doch während die Zweifel immer größer werden, ertönt bereits eine freundliche Stimme aus dem Telefon. Aber es ist nicht Claras Stimme. Eher eine zirka vierzigjährige Dame, die Anna darauf aufmerksam macht, dass die gewählte Nummer nicht vergeben ist.
Enttäuscht, aber auch irgendwie erleichtert, stellt Anna fest, dass sich Clara nach den Jahren der Funkstille wohl eine neue Nummer zugelegt haben muss. „Warum bin ich nur so ein Schisser?“, ärgert sich Anna lautstark und tritt mit ihren roten, leicht abgenutzten Turnschuhen gegen das Stadtschild, unter dem sie noch vor wenigen Minuten zusammengesackt ist.
Allerdings lassen Verzweiflung und Wut manchmal Menschen über sich hinauswachsen. Entschlossen nimmt sie erneut das Handy in die Hand und wählt auch diesmal wie aus der Pistole geschossen Alex‘ Nummer. Ganze fünf Sekunden hält die soeben neu entdeckte Entschlossenheit, bevor Anna wieder daran zweifelt, ob sie sich einfach so aus dem Nichts bei Alex melden kann.
„Anna?“, klingt es plötzlich und völlig überraschend aus dem anderen Ende der Leitung. „Hallo Alex, ja, ich bin es. Ich…“ Doch bevor Anna auch nur den Satz zu Ende sprechen kann, unterbricht sie Alex euphorisch. „Anna, wie geil ist das denn? Dass ich dich noch mal höre… Das hätte ich nie gedacht! Wie geht es dir?“ beendet Alex fast schon kreischend ihren Monolog mit einer Frage.
„Du, um ehrlich zu sein, nicht so gut. Ich habe Nils gerade mit einer anderen erwischt und wusste einfach nicht, wen ich anrufen soll“, antwortet Anna mit leiser und beschämter Stimme.
„Was? Das ist ja das Letzte! Du Arme! Und dann rufst du mich als erstes an?“
Anna zögert kurz einen kleinen Moment und geht gedanklich durch, wie schlau es jetzt ist, Alex zu beichten, dass sie eigentlich Clara zuerst angerufen hat. Doch sie möchte die vielleicht neu aufgewärmte Beziehung zwischen ihr und Alex nicht gleich mit einer Lüge beginnen. „Um ehrlich zu sein, hatte ich zuerst Clara angerufen. Aber nicht, weil ich nicht mit dir zuerst sprechen wollte.“ Bevor Anna ihren Satz zu Ende bringen kann, reagiert Alex schon gelassen: „Hey, ganz egal, ob erste oder zweite. Hauptsache, ich bin in deinen Top Ten.“
In genau diesem Moment erkennt Anna wieder, warum Alex schon immer eine so tolle Freundin gewesen ist. Niemals schlecht gelaunt, nie beleidigt und einfach unkompliziert.
„Sag mal, was willst du denn jetzt machen? Hast du dir das schon überlegt?“, fragt Alex nun neugierig.
„Nein, ich habe keine Ahnung. Ich weiß gerade eigentlich überhaupt nichts mehr.“ Annas Stimme wird immer leiser. „Das ist einfach der zweitschlimmste Tag meines Lebens. Erst werde ich gekündigt und dann erwische ich auch noch Nils mit dieser blöden Janine.“
„Mit Janine?! Seiner alten Schulfreundin?“, regt Alex sich nun tierisch auf. „Die habe ich ehrlich gesagt noch nie gemocht. Ich hoffe, du hast ihr wenigstens richtig die Meinung gesagt und die Hölle heiß gemacht.“
Annas Blick spricht Bände. Nur gut, dass Alex sie nicht durchs Telefon sehen kann. Gedanklich geht Anna noch einmal durch, wie sie in ihrer Wohnung steht und sich, wenn man es genau nimmt, auch noch bei den beiden entschuldigt, dass sie zu früh nach Hause gekommen ist. Wie oberpeinlich.
„Nun, ich habe ihre Vase kaputt gemacht!“, stellt Anna mit einem kleinen Geistesblitz fest.
„Sag mal, wenn du doch gerade eh keinen Job hast und sowieso ein wenig Abstand brauchst, warum kommst du nicht einfach für eine Weile zu mir? Ich bin für längere Zeit im Ausland, aber meine Wohnung ist frei – und ein paar Tage bin ich ja auch noch da“, zeigt sich Alex begeistert von ihrem Einfall.
Diese Idee überrascht Anna sehr und bringt sie ernsthaft ins Grübeln. Es ist ja nicht so, als ob sie viele Optionen hätte. „Hmm, ich weiß nicht. Meinst du das wirklich ernst?“, fragt Anna nun mit leicht skeptischer Stimme.
„Ja klar. Ein Tapetenwechsel wird dir richtig gut tun“, freut sich Alex auf der anderen Seite des Telefons.
„Wohnst du denn immer noch in der Frankenstraße 13, wie früher?“, will es Anna jetzt genauer