Prinzessin Arschloch. David Lowe

Prinzessin Arschloch - David  Lowe


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einen Seite, die weiten gelben Kornfelder, die leicht im Wind hin und her schwanken auf der anderen, und die gefühlt unendlichen Kuhweiden.

      „Hallo, ihr Lieben“ winkt Anna fröhlich den Kühen zu. Das ist ein weiteres ihrer Morgenrituale. Anna kann es sich bis heute nicht erklären, aber seitdem sie ein kleines Kind war, hat sie schon immer etwas für Kühe übriggehabt. Dieser Teil der Strecke ruft bei Anna stets glückliche Erinnerungen hervor. Über mehrere Jahre winkte sie den Kühen jeden Tag mit ihren Freundinnen Clara und Alex zu, mit denen sie lachend und kichernd auf dem Weg zur Schule hier vorbeigeradelt kam. Clara und Alex. Von beiden hat sie schon lange nichts mehr gehört. Nils hat ihre Freundschaften aus unerklärlichen Gründen nie für gut befunden. Er sagt immer, dass er Anna ganz für sich alleine haben will. Anna hat sich anfangs schwergetan, das zu akzeptieren, jedoch hat es auch einen gewissen Charme. Wie Bonnie und Clyde. Nur eben ohne wilde Verfolgungsjagden mit der Polizei und einen grausamen Tod in einem von Schüssen durchsiebten Auto.

      Traurig ist sie über die verlorenen Freundschaften trotzdem hin und wieder. Denn ein schlechter Einfluss, wie Nils es behauptet, waren Alex und Clara nun wirklich nicht. Clara, Klassensprecherin, Messdienerin und treuestes Mitglied des Untermoschelner Kirchenchores. Und Alex war seit jeher die unscheinbare graue Maus, die nicht wirklich für Partyexzesse bekannt war. Das Wildeste aus Alex‘ Strafregister war der Versuch, mit dreizehn Jahren ihre ersten Zigaretten zu kaufen. Dafür ist sie extra zwei Dörfer weiter in das Kaff Beuel gefahren, um nicht erkannt zu werden. Alex hat sich nach eigener Aussage zwar fast in die Hose gemacht, war aber in ihrer Mission erfolgreich. Stolz kam sie mit den Zigaretten wedelnd zu ihrem Versteck am Bach geradelt. Keine zwei Minuten später versuchte sie vergeblich, mit zitternder Hand ihre erste Zigarette anzuzünden. Die Zigarette wollte einfach nicht angehen, aber dafür roch es plötzlich irgendwie ziemlich nach Erdbeere. Alex, die dusselige Kuh, hatte in ihrer Aufregung das Rot der Marlboro-Zigaretten mit dem Rosa der Erdbeerkaugummi-Zigaretten verwechselt. Das erklärte dann auch, warum ihr der Kioskverkäufer die Zigaretten so bereitwillig ausgehändigt hatte. Die drei entschieden sich nach diesem Erlebnis, gemeinsam mit dem Rauchen aufzuhören.

      Noch in Erinnerungen schwelgend, verpasst Anna beinahe das gewünschte Ziel. Das war knapp! Fast wäre sie vom Schwung des Abbremsens über den Lenker geworfen worden, während ihr treues rosa Fahrrad mit quietschenden Reifen vor Isabells Backstube zum Stehen kommt. „Sie haben Ihr Ziel erreicht!“

      Schnell lehnt sie noch das Fahrrad an die mit grauem, altem Putz verarbeitete Wand der Bäckerei. Völlig stolz und total verschwitzt stellt sie fest, dass sie es doch noch pünktlich geschafft hat. Jetzt nur noch das Schloss an dem roten, vergilbten Sechzigerjahre-Kaugummiautomaten mit dem Alf-Aufkleber anbringen. So kommt keiner mehr an die alten, steinharten Bonbons. Das ist aber vielleicht auch gar nicht so schlimm, denn Anna ist sich ziemlich sicher, dass das immer noch die gleichen Bonbons sind wie zu der Zeit, als Anna hier vor vier Jahren angefangen hat. Dabei hatten die damals schon nicht mehr ihre ursprüngliche Farbe.

      Endlich an der Tür angekommen, stürzt Anna in die Bäckerei, um Frau Schiffer freudestrahlend zu begrüßen. „Guten Morgen, Frau Schiffer!“

      Frau Schiffer ist eine fünfundsechzigjährige, stets gut gelaunte, leicht untersetzte Dame. Unter der Bäckereischürze trägt sie stets eine bis zur Perfektion gebügelte weiße Rüschenbluse mit Schulterpolstern. Auf dem für ihren Körper recht schlanken Hals sitzt der Kopf mit den weißen, zu einem Zopf gebundenen Haaren und einem liebevollen Gesicht, das… sie ernst und traurig ansieht? Moment mal. Was ist hier los?

      „Hallo Anna, bitte schließe mal die Tür hinter dir, ich würde gerne mit dir sprechen“, fordert Frau Schiffer den verschwitzten Neuankömmling auf. Auweia. Selten fängt eine gute Nachricht so an.

      Frau Schiffer nimmt an dem schwarzen Tisch, der eigentlich für Gäste gedacht ist, Platz und bittet Anna mit einer Handbewegung, es ihr gleichzutun. Anna wird ganz mulmig. „Du weißt ja, es läuft aktuell nicht so rosig.“

      Nicht so rosig ist gut, denkt Anna, gestern waren fünf Kunden da und einer davon wollte einen Döner bestellen.

      „Ja“, entgegnet Anna zögerlich. Nach einer kurz en Pause fährt Frau Schiffer traurig blickend fort: „Na ja, und… mir fällt es echt total schwer. Aber ich muss dich leider entlassen. Ich hoffe, du kannst das verstehen.“

      Anna schnürt sich plötzlich die Kehle zu und sie hat das Gefühl, als ob ihr der Boden unter den Füßen weggezogen wird. Noch völlig geschockt und ohne groß nachzudenken sprudelt es aus Anna heraus: „Ehrlich gesagt nicht. Jakob ist ein lieber Kollege, aber er kann bis heute keine Brötchen schmieren, kriegt den Kunden gegenüber höchstens einen geraden Satz heraus und ich bin mir ziemlich sicher, dass er die Kasse auch nicht beherrscht.“

      Verwundert legt Frau Schiffer den Kopf zur Seite und schaut Anna stirnrunzelnd an. „Anna, dir ist schon bewusst, dass Jakob mein Sohn ist, oder? Und wenn ich ehrlich bin, hast du dir in den letzten Wochen und Monaten auch das ein oder andere erlaubt. Unter anderem hast du letzte Woche zweimal vergessen abzuschließen. Ich bin froh, dass wir nicht bestohlen wurden.“

      Was soll man denn hier bitte stehlen, denkt Anna plötzlich. Die drei Brötchen vom Vortag oder die 5,50 Euro aus der Kasse? „Ja, ich gebe zu, letzte Woche habe ich mal was vergessen, aber das war echt eine Ausnahme. Also, dass ich grundsätzlich vergesslich bin, das stimmt einfach nicht.“ Frau Schiffer schaut bedrückt zu Boden. „Anna. Liebes. Mach es mir doch nicht schwerer, als es eh schon ist. Du kannst ab heute frei machen und bekommst dein Restgehalt natürlich ausgezahlt. Lass mir einfach die Schürze und deinen Kassenschlüssel da.“

      Anna realisiert, dass es sinnlos ist, dagegen anzukämpfen und greift traurig in ihre Tasche, um den Schlüssel herauszuholen. Doch wo eigentlich ein kleiner, metallener Schlüssel mit lustigem Giraffenanhänger sein sollte, ist nur ein leerer Platz -und die Erkenntnis, was sie heute Morgen tatsächlich noch vergessen hat. Scheiß-Timing!

       2

      Ein Scheißtag

      Der Weg zur Arbeit hat sich ja richtig gelohnt, denkt Anna, während sie sich auf ihr rosa Rad schwingt. Auf geht es zurück nach Hause. Sie überlegt noch kurz, ob sie Nils anrufen soll, um ihm zu sagen, was gerade eben passiert ist, entscheidet sich aber dagegen. Wieder stellt Anna einen neuen Rekord auf ihrem Rad auf – doch diesmal eher in die andere Richtung. Langsam und schleppend tritt sie in die Pedale. Sie ist wütend. Richtig wütend. Doch nicht etwa auf Frau Schiffer, die Anna seit vielen Jahren schätzt, sondern auf sich selbst. Diese Scheißverpeiltheit hat sie einfach mal ihren Job gekostet. Und dann auch noch ihre Reaktion auf die Kündigung! Wie doof muss man denn sein, um den Sohn der Chefin zu kritisieren? Diese freche Art ist Anna gar nicht ähnlich, aber wohl einfach der Unbeholfenheit geschuldet. Erneut fährt sie bei mittlerweile leichtem Regen an den Kühen vorbei. Auch diesmal winkt sie hinüber. Doch was vor nicht einmal einer Stunde voller Leichtigkeit und Freude war, erinnert nun eher an die Schlussszene des Films Titanic… nur etwas weniger dramatisch. Sie ist todtraurig. Die ganze Zeit hat sie versucht, die Tränen zurückzuhalten und stark zu sein, doch nun platzt es aus ihr heraus. Keine Ahnung, warum es ausgerechnet hier und jetzt passiert, aber nun ist es auch egal. Anna weiß nicht, wann sie das letzte Mal so aufgelöst war. Langsam erwachen ihre Beine aus der Narkose. Sie nimmt nun mehr und mehr Geschwindigkeit auf. In Trauer verfallen möchte Anna nun einfach nur noch zu ihrem Nils und in den Arm genommen und getröstet werden – ist er doch der einzige echte Freund, den sie noch hat. Ihr Clyde. Ihr Fels in der Brandung. Hoffentlich ist er noch allein zu Hause, damit sie ihm beichten kann, was passiert ist. Das ist nun wirklich kein Ereignis, bei dem sie Publikum braucht. Nun fließen die Tränen wie bei einem aufgedrehten Wasserhahn. Wie peinlich. Zum ersten Mal in ihrem Leben freut sich Anna darüber, dass es regnet. So sieht niemand, dass das kleine Mädchen auf ihrem rosa Rad heult. Klein, genauso fühlt sie sich gerade.

      In dieser Stimmung erreicht sie endlich ihr Zuhause. Mittlerweile klitschnass und einem begossenen Pudel ähnelnd, stellt sie ihr rosa Fahrrad an der grauen Hauswand ab. Sie atmet noch einmal tief durch und blickt zögerlich auf die Haustür. Tausend Gedanken schießen ihr durch den Kopf. Wie soll sie Nils nur erklären, dass sie jetzt kein Einkommen mehr hat? Immerhin gehört Nils ja die Wohnung. Diese hat er zu


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