Prinzessin Arschloch. David Lowe
ihn zum Schloss. Als Anna die Gunst der Stunde nutzt, um sich das Türschild genauer anzuschauen, fällt ihr auf, dass neben Alex‘ Namen ein weiterer auf dem Klingelschild steht. „Ach, du wohnst hier nicht alleine?“ Alex schaut verdutzt. „Natürlich nicht. Die Wohnung könnte ich mir nie im Leben alleine leisten.“ „Oh“, entgegnet Anna.
„Keine Sorge. Tom ist da entspannt. Ich habe ihn zwar noch nicht gefragt, aber das geht klar.“ Diese Aussage verunsichert Anna jetzt schon. Nicht nur, dass sie nicht weiß, ob dieser Tom damit einverstanden ist, auch der Gedanke, mit einem fremden Mann zusammenzuwohnen, lässt sie nicht gerade vor Freude jubeln. Aber nun ist es auch egal. Es lässt sich eh nicht mehr ändern.
Alex und Anna steigen die sechs Marmorstufen im Treppenhaus hinauf, um vor einer modernen Sicherheitstür stehenzubleiben. Mit einem gezielten Dreh nach rechts öffnet sich die Tür wie von Geisterhand. Anna folgt Alex in die riesige Wohnung. „Schön hast du es hier“, sagt Anna und schaut sich neugierig um.
„Guck dir ruhig alles an. Tom kommt eh erst heute Nacht wieder.“
Anna schlüpft aus ihren roten Turnschuhen und tapst auf dem warmen Echtholzparkett in das anliegende Zimmer. Die Möbel sind alle ziemlich modern und sehen deutlich teurer aus als die Standard-Ikea-Ausstattung, die sie von zu Hause kennt. Die Decken sind so hoch, dass Anna sich fragt, wie oft sie sich selbst stapeln müsste, um sie berühren zu können.
„Willst du was trinken?“, unterbricht Alex Annas Rechnung. „Ja, aber wenn ich das hier sehe, will ich nur Champagner“, witzelt Anna und lacht. „Aber ich trinke ja keinen Alkohol, wie du weißt. Ein Wasser wäre toll.“ „Ist schon unterwegs“, ruft Alex, und mit einem lauten „Tadaaa!“ betritt sie den Raum. In der Hand balanciert sie ein silbernes Tablett mit zwei funkelnden Champagnergläsern und einer Flasche Mineralwasser. „Du bist die Beste!“, freut sich Anna und ihr wird es ganz warm ums Herz. Nun wird Anna doch neugierig. „Sag mal, wie kannst du dir das alles eigentlich leisten?“ „Och du, ich gehe seit zwei Jahren anschaffen. Davon lebt man echt gut“, erwidert Alex trocken.
„Was?!“ Annas Gesicht versteinert sich. Eine kurze Pause und Alex fängt lauthals an zu lachen. „Mensch, das war ein Scherz, Pünktchen. Du glaubst auch immer noch jeden Scheiß.“ Pünktchen. So hat sie seit Jahren keiner mehr genannt. Erleichtert und wieder mit einer gesunden Gesichtsfarbe versehen, fängt nun auch Anna tierisch an zu lachen. Was ihren Humor angeht, hat Alex sich anscheinend nicht verändert.
„Ich habe mich vor zwei Jahren selbstständig gemacht und arbeite als Grafikerin. Es läuft halt echt gut im Moment. Deswegen bin ich auch zwei Monate in London, um mich da weiterzubilden und den nächsten Schritt zu machen.“
Anna kehrt für einen kurzen Moment in sich und schaut sich noch einmal um. „Toll, was du dir alles aufgebaut hast. Ich beneide dich wirklich.“
„Ach komm“, entgegnet Alex ganz bescheiden. „Ich bin sicher, du wirst auch noch dein wahres Glück finden. Aber genug erstmal von mir. Erzähl du mir mal lieber ganz genau, was passiert ist…“ Beide setzen sich ins dreißig Quadratmeter große, mit weißen Fliesen ausgestattete Wohnzimmer und machen es sich auf der grauen Polstercouch gemütlich.
Anna zögert einen kurzen Moment, stellt ihr Glas auf den schwarzen Wohnzimmertisch und überlegt, wo sie am besten anfangen soll. Die nächsten dreißig Minuten berichtet sie von den Ereignissen des heutigen Tages. Alex sagt kein Wort. Als hätte man ihr die Fähigkeit zu sprechen genommen, konzentriert sie sich nur auf Annas Lippen und lässt das Erlebte auf sich wirken. „Na ja, und den Rest kennst du ja“, beendet Anna sichtbar mitgenommen ihre Geschichte.
„Ganz ehrlich, es ist das Beste was dir je passieren konnte“, unterbricht Alex plötzliche ihre eigene Stille.
Anna schaut skeptisch. Wie hat Alex das denn jetzt gemeint?
„Schau mal, du bist jung, du bist hübsch und du bist jetzt frei. Sieh es als eine Chance, einen Neustart zu machen. Wir sollten hier nicht sitzen und Trübsal blasen, sondern dich heute Abend feiern gehen. Und ich weiß auch schon ganz genau wo“, fährt Alex aus tiefster Überzeugung fort. Sie legt nun ein unglaubliches Tempo vor.
Annas Mund öffnet sich, jedoch bringt sie kein Wort heraus. Also, dass sie jung ist, würde sie ja sofort unterschreiben. Aber hübsch? So hat sie noch nie jemand bezeichnet. Nicht einmal Nils, fällt ihr gerade auf. Und mit dem war sie schließlich einige Jahre zusammen. Ob in Berlin Ponyfrisuren und Sommersprossen gerade „in“ sind?
„Komm, ich bin doch nur noch bis morgen Nacht da. Wir sollten zumindest einmal richtig die Sau raus lassen!“, lässt Alex nicht locker. Noch gedanklich bei ihrer Ponyfrisur, weiß Anna nicht so recht, was sie von der Idee halten soll. Sie fühlt sich ein wenig überrumpelt. Doch bevor ihr das Wort „Nein“ über die Lippen kommen kann, zieht Alex sie in ihr Schlafzimmer vor ihren riesigen, braunen Altholz-Kleiderschrank. Alex macht wohl wirklich keine Scherze. Innerhalb von fünf Minuten steht Anna mit gefühlt hundert Kleidern auf beiden Armen gestapelt wie ein Packesel mitten in Alex‘ Zimmer.
„Los, probier alles an. Ich laufe eben noch kurz zum Supermarkt und besorge was zu trinken, und wenn du dann fertig bist, können auch wir direkt los“, ruft Alex bereits mit einem halben Bein aus der Wohnungstür.
„Und was ist mit dir?“, will der perplexe Packesel wissen.
„Ich brauche nur ein paar Minuten, um mich fertig zu machen. Ich weiß ja, was ich anziehen will. So, aber jetzt leg mal los, damit wir starten können, wenn ich wieder da bin.“ Wie ein Cowboy verschwindet Alex im Sonnenuntergang.
Anna hebt ihren Kopf, und schaut völlig ungläubig in den Spiegel des Kleiderschranks. Sie bewegt sich keinen Millimeter. Eigentlich ist ihr überhaupt nicht nach Feiern zumute. Die Minuten vergehen und Anna ringt mit ihren Gedanken. Wie das wohl sein wird, so ein Club in Berlin?
Bisher kennt sie ja nur das “Roxy“ bei sich in Untermoscheln. Und als Club kann man das Ganze nicht wirklich bezeichnen. Wenn, dann nur als den Club der verlorenen Seelen - die Menschen, die sich dort regelmäßig blicken lassen, zählen nicht gerade zu denen, die eine große Zukunft vor sich haben.
Anna selbst ist nur einmal da gewesen. Gut kann sie sich noch daran erinnern, wie sie sich zum Deppen gemacht hat, als sie vor lauter Rauch in die falsche Toilette gegangen ist. Als sie sich damals in ihrer Kabine eingeschlossen hat, brauchte sie aber ein paar Minuten, um zu realisieren, dass da irgendetwas schief gelaufen ist. Seit diesem Erlebnis schaut sie immer zweimal nach, bevor sie eine öffentliche Toilette betritt.
Aber was ist das? Anna hört einen Schlüssel aus der Diele, der wohl in die Haustür eingeführt wird. Ist das etwa dieser Tom? Doch nein. Mit einem „Bin wieder da!“ betritt Alex ihre Wohnung, um nach drei Schritten Richtung Schlafzimmer festzustellen, dass sie entweder in ein Paralleluniversum eingetreten ist, in dem die Zeit stillsteht, oder Anna sich in den vergangenen zwanzig Minuten keinen Millimeter bewegt hat.
Als beide eine Stunde später nun endlich bereit sind, umgezogen die Wohnung zu verlassen, ist es nun schon zweiundzwanzig Uhr. „Zum Downtown Club sind es nur zehn Minuten zu Fuß. Da brauchen wir kein Taxi“, plaudert Alex wild auf Anna ein.
Nachdem es tagsüber ziemlich heiß war, kühlt es jetzt so langsam ab. Ein frischer Sommerwind bläst Anna ins Gesicht und sie schließt kurz ihre Augen. „Komm schon, Pünktchen, nicht einschlafen“, zerrt Alex Anna weiter die Straße entlang. Es ist Freitagabend und allein auf den ersten hundert Metern kommen ihr mehr Menschen entgegen, als sie üblicherweise in Untermoscheln an einem ganzen Tag begegnet.
Sie zupft an ihrem beziehungsweise Alex‘ Rock, der ständig nach oben rutschen will. Für ihre Begriffe ist dieser Rock eh viel zu kurz. Das weiße Oberteil, auf welches sie sich mit Alex einigen konnte, lässt nicht viel Spielraum für die Fantasie. Dabei ist es noch das harmloseste Oberteil gewesen. So richtig wohl fühlt sie sich in ihren Leihklamotten nicht.
Einzig bei den Schuhen konnte Anna ihren Willen durchsetzen. Lächelnd schaut Anna auf ihre roten Chucks und freut sich, wenigstens eine Konstante im Leben behalten zu haben.
Die roten Highheels waren ihr nicht geheuer.