Wanderfieber. Christian Zimmermann
in voller Lederhosenmontur. Das Sextett nennt sich «Brandlberger Buam» und die sympathischen Jungs stehen mit ihren Instrumenten bereit. Die örtliche Frauengemeinschaft feiert ihr 50-jähriges Bestehen und so werden die Männer die Prozession standesgemäss musikalisch bis in die Kirche begleiten. Die Buam schreiten mit ihren Tubas, Posaunen und Trompeten vorne weg, der Priester, die Ministranten und die Frauengemeinschaft pilgern hinter den Musikanten bis ins Gotteshaus. Neben der Kirchentür bleiben die sechs Männer stehen und musizieren bis die Gläubigen in der Kirche verschwunden sind. Sie selbst verzichten auf den Gottesdienst, aber bevor ich die schicken Jungs in den Frühschoppen entlassen kann, müssen sie unbedingt mit mir und Mrs. Molly für ein Gruppenfoto posieren. Einer der Blasmusikanten drückt mir kurzerhand seine goldene Tuba in die Hand und so werde ich zumindest für die Länge der Fotosession Mitglied der «Brandlberger Buam».
Im Nachbardorf Pfelling treffe ich einen alten Mann. In seinen besten Kittel gekleidet, verlässt er gerade das winzige Wahllokal. Heute dürfen die Wahlberechtigten ihren Wahlzettel fürs Europäische Parlament abgeben. Der bärtige Greis stellt sich als Herr Riesenhuber vor. «Gehen Sie auch wählen?» Ich erkläre ihm, dass ich als Schweizer bei dieser Wahl nicht mitmachen dürfe. «Jaja, die lieben Schweizer …», nuschelt er vielsagend. Er hört ziemlich schlecht, deshalb muss ich sehr laut sprechen und alles mehrere Male wiederholen. Nur noch drei braune Zahnstummel sitzen in seinem Mund, was ihn aber nicht davon abbringt, mir in kurzer Zeit seine halbe Lebensgeschichte zu erzählen. «Ich bin sehr lange Zeit zur See gefahren und ging anschliessend einige Jahre nach Hamburg, um als Lotse zu arbeiten. Als ich pensioniert wurde, emigrierte ich für zwölf Jahre nach Brasilien und bewirtschaftete eine Farm. Als mir meine damalige Frau weglief, kam ich in die alte Heimat zurück. Ich kaufte dann hier in Pfelling ein Haus und später noch ein zweites.» Gerne würde er mich ja zum Mittagessen einladen, aber da er allein lebe, müsse er selbst schauen, dass er was zum Beissen kriege. Bei diesem Satz muss ich mir ein Grinsen verkneifen, denn ich vermute, dass ein herzhaftes Zubeissen mit den Überresten seines Gebisses schon eine geraume Zeit nicht mehr möglich ist.
Heute ist auf dem Donauradweg mächtig was los. Ich muss den gesamten Tag brav und korrekt auf der rechten Seite spazieren, um den anderen Verkehrsteilnehmern genügend Platz zu lassen. In windschlüpfrige Funktionstextilien gekleidet, Beine rasiert und tief über ihre Triathlon-Lenker gebeugt, zischen mir die Möchtegern-Profis nur so um die Ohren. Dann sind da selbstverständlich die Heerscharen von Sonntagsausflüglern, die an einem derart herrlichen Frühlingstag auch auf die Piste wollen. Regelmässig werde ich auf meine spezielle Reiseart angesprochen. Eine lustige Dame kann sich schier nicht erholen. «Ja mei und Kruzifix nomol, da werd i ja narrisch, das gibts doch nit!» Keck fragt sie, ob sie Probeschieben dürfe. «Jo leck mi, dass is ja schwer wie Blei – i werd ja narrisch, so kummsch ja nie nach Moskau», ruft sie kopfschüttelnd.
Dieser Teil der Donau wird intensiv mit Schiffen befahren. Immer wieder schnaufen Ausflugsboote, Hotelschiffe oder riesige Lastkähne an mir vorbei. Der Weg führt in langen Schleifen dem Fluss entlang. In einigen Kilometern Entfernung begleitet mich parallel zum Wasser die Hügelkette des Bayerischen Walds. Die Höhenmeter, die ich bewältigen muss, kann ich an einer Hand abzählen. Und der Belag, auf der Mollys Rollen rollen, ist einwandfrei. Ich komme sehr gut voran. Nach 40 km bin ich in Deggendorf. Den Campingplatz am Stadteingang finde ich nicht. Auch der nette Polizist weiss nicht Bescheid und vermutet, dass der Platz möglicherweise unter Wasser stehe. So kurve ich nur kurz durch die Altstadt und beschliesse, den Ort zu verlassen, um ein geeignetes Nachtlager zu suchen. Zuerst muss ich mich mit Wasser versorgen und beim letzten Haus werde ich fündig. Eine Frau ist im Garten beschäftigt und füllt mir bereitwillig meine Flaschen. Ihr Mann kommt auch nach draussen. Er sei Russe, lebe aber bereits über 20 Jahre in Deutschland. Als ich ihm von meinem Reiseziel erzähle, schüttelt er entsetzt den Kopf. «Ich muss dich warnen – der russische Verkehr und vor allem die Fahrweise meiner Landsleute ist, um es diplomatisch auszudrücken, sehr speziell. Pass gut auf dich auf!» Das Paar wünscht mir viel Erfolg und ich mache mich auf, einen Übernachtungsplatz zu finden.
Die abbruchreife Halle einer ehemaligen Speditionsfirma wäre die meisterhafte Kulisse, um einen spannenden Gangster-Film zu drehen. Das Innere ist völlig zugemüllt und an der Aussenfassade haben sich mehr oder weniger talentierte Graffitikünstler verewigt. Ich stelle die faltbare Behausung draussen hinter einem Kieshügel auf. Die Autobahn rauscht in 200 Metern Entfernung an mir vorbei. Als romantisch kann ich dieses Camp nicht bezeichnen, aber es erfüllt seinen Zweck. Beim Aufbauen bemerke ich eine gebrochene Zeltstange. Das gibt es doch nicht! Ein paar Fluchwörter rutschen mir über die Lippen und das «Kruzifix nomol» ist eines der Harmloseren. Nur drei Wochen hat das Zelt auf dem Buckel und ich hatte nicht ein einziges Mal mit Wind zu kämpfen. Wie kann eine fast neue Stange ohne Fremdeinwirkung brechen? Jammern hilft natürlich nichts und ich versuche, das unerwartete Malheur mit «Duct Tape», diesem Panzerband, zu fixieren, was aber nicht funktioniert. Die Spannung an der gebrochenen Stelle ist viel zu gross und das Teil knickt beim Biegen einfach ein. Glücklicherweise habe ich ein Reparaturröhrchen dabei. Ich schiebe das Rohr über die defekte Stelle und verklebe das Teil mit dem Gewebeband. Und es hält. Zufrieden stehe ich vor dem reparierten Zelt. Es ist noch immer sonnig und deshalb lege ich Kleider und den Schlafsack zum Auslüften an die Sonne.
Una cerveza
Tag 23: Montag, 27. Mai 2019, 38 km (697 km)
Gut signalisiert führt der Donauradweg während mehreren Kilometern über eine Umleitung. Der Damm entlang des Flusses wird erneuert und gleicht deshalb einer unschönen Grossbaustelle. Es geht im Zickzack durch landwirtschaftliches Gebiet und irgendwie verliere ich völlig die Orientierung. Zumindest sagt mir der Sonnenstand, dass die Richtung ungefähr stimmen muss und mich die Wegweiser nicht belügen. Ich komme sehr gut vorwärts. Im Dörfchen Winzer verwöhne ich mich mit einem Besuch der Bäckerei. Die zimtige Apfeltasche beinhaltet viele wichtige Zusatzkalorien, die ich nur temporär in meinem Bauch mitschleppen muss. Auf einer gemütlichen Holzbank unter der prächtigen Dorflinde verspeise ich genüsslich das zuckersüsse Gebäck.
Zur Mittagszeit spaziere ich durch Hofkirchen. Und was erspähen meine Adleraugen? Ein Schild, das für ein Gasthaus mit Biergarten wirbt. Da kann und will ich nicht widerstehen. Der rustikale Innenhof lädt zum Verweilen ein. Ein Tisch ist bereits besetzt. Die vier Radler kommen mir bekannt vor. Die überholten mich vor kurzer Zeit und grüssten nicht einmal. Die lustigen Vögel sitzen vor vier Humpen Bier. Das Quartett Spanier stammt von den Kanarischen Inseln, also mutieren sie für mich zu Kanarienvögeln! Bunt genug gekleidet sind sie übrigens auch. Ich bin mittlerweile ziemlich geübt im Erzählen meiner Geschichte und ich bemühe mein bestes Spanisch. Der Wortführer der Gruppe, Oliver Franco, flippt aus: «Impresionante… 3400 km hasta Moscú caminando y con un carro, no es possible!» Da mein Spanisch völlig eingerostet ist, erkläre ich dem fassungslosen Oliver auf Englisch, dass es sehr wohl möglich sei, mit einem Einkaufswagen bis nach Moskau zu spazieren. Sofort will er ein Foto mit mir und Mrs. Molly machen, welches er postwendend auf Facebook veröffentlicht. Ein Kommentar zum Bild laute so: «Pues si que le queda lejos el supermercado». Die Übersetzung dazu: «Nun ja, der Supermarkt ist weit weg …» Dem kann ich mich nur anschliessen! Nach der ersten Aufregung bestelle auch ich ein Bierchen, dazu einen Wurst-Käsesalat mit zwei Semmeln. Als die Iberer ihre Rechnung begleichen, übernehmen sie kurzerhand auch mein Getränk! Muchas gracias!
Es ist ausgesprochen schwül zum Wandern. Ich bin durchgeschwitzt. Am Nachmittag überholt mich ein bekanntes Gesicht auf einem Fahrrad. Mit Alfred hatte ich vor zirka einer Woche in der Gegend um Ingolstadt ein paar Worte gewechselt. Er sei wegen Krankheit mit dem Zug nach Hause gereist und habe sich in München auskuriert. Jetzt sei er wieder fit und zurück auf seiner Reise nach Budapest. Wir marschieren eine gute Strecke zusammen und unterhalten uns. Er habe eine gradlinige Karriere als Ingenieur hingelegt und sei auch regelmässig befördert worden. Er entwickelte während 25 Jahren ABS-Bremssysteme für Lastwagen. Während der Finanzkrise 2008 ging es seiner Firma plötzlich sehr schlecht und man entliess ihn, ohne mit der Wimper zu zucken. Da war er 52 Jahre alt. Nach erfolgloser Jobsuche beschloss er spontan sich aus der Arbeitswelt zurückzuziehen. Er habe immer sparsam gelebt und auch etwas auf die hohe Kante gelegt. Nun bezeichne er sich als Lebenskünstler und im Nachhinein sei er über seine Kündigung vor zehn Jahren sehr froh.