Schwabinger G'schichten. RAMSES III. (Wolfgang Kramer)
Er meinte, das war einfach, weil ich das einzige verbleibende Auto auszuparken hatte. Er sei dann mit einem Taxi hinter mir her gefahren, und ich hätte fast die ganze Leopoldstrasse für meine Schlangenlinien gebraucht.
Na servus…!
Zweimal hat er mich erwischt – der Reiner! Der zweite Riesenrausch mit ihm nahm ebenfalls im "Kinki" seinen Anfang.
Als Feierabend ausgerufen wurde, lud er mich wiederum ein, um weiter zu ziehen.
Natürlich dachte ich, er hätte eins der angesagten Frühlokale im Auge, aber nein, er wollte in ein Cabaret! Und zwar ins "Madame" in der Ottostraße. Wie man weiß, sind Animierschuppen dieser Art sehr teuer, aber das war Reiner "wurscht", er wollte "Weiber" um sich haben.
Es war nicht weit weg vom "Kinki", also marschierten wir zu Fuß dorthin.
Inzwischen war es circa 4:30 Uhr, und als wir im "Madame" ankamen, waren die Damen bereits ausgeflogen, und es waren nur noch einige Kellner da.
Trotzdem wollte Reiner bleiben, und er orderte Whisky – für alle!
Wir soffen also einige Flaschen, und in diesem Fall habe ich überhaupt keine Erinnerung mehr, wie ich heim gekommen bin.
Meine letzte Erinnerung war, dass ich auf den Stufen vor der Eingangstür des Ladens saß und mich wunderte, dass auf der Strasse so viel Betrieb war. Es war inzwischen etwa 8 Uhr früh, was ich aber nicht realisierte.
Das waren meine zwei übelsten Abstürze mit Reiner. In der Zukunft vermied ich es tunlichst, ihm zu so früher Stunde in die Arme zu laufen!
Auch Reiners Ableben war sensationell! Eines Tages machte die Neuigkeit die Runde, er hätte einen Herzinfarkt erlitten, aber es gab keine genaueren Infos, nur so viel, dass er auf der Intensiv-station im Schwabinger Krankenhaus läge.
Es war ein Sonntag mittag. Offensichtlich hatte Reiner keine Lust mehr zu leben. Also riss er sich die Infusionsschläuche aus den Armen und machte sich im langen weißen Krankenhaushemd davon.
Auf der gegenüberliegenden Straßenseite vom "Schwabinger Krankenhaus", in dem er versorgt wurde, gibt es ein italienisches Restaurant, in das er schnurstracks marschierte. Als er zur Tür rein kam, schrie er noch ein letztes Mal, mit hochgeworfenen Armen: "Ficken!!!", und dann fiel er tot um!
Einige Tage später traf ich Bekannte, die mir das schildern konnten, sie waren bei dieser Begebenheit gerade zum Mittagessen in dem Restaurant.
Das war ein Abgang, den nur der Reiner hinlegen konnte – einzigartig! So wie er gelebt hatte, so ging er!
Aber, Rückblende zu meiner Entwicklung Ende der 60er Jahre – die machte auch Fortschritte!
Ich komme – wie man so sagt – aus gutem Hause, wurde als "Sohn" geboren, so erzogen und auch dementsprechend gekleidet. Mein Outfit war zwar immer beste Qualität, edel und teuer, aber farblich sehr "gedeckt", also möglichst unauffällig. Die Tatsache, dass ich gute Klamotten bekam, hatte aber nichts mit Großzügigkeit meiner Eltern zu tun, sondern hatte den sehr rationellen Grund, dass sie zwar zum einen gut aussahen, gleichzeitig aber auch länger hielten als billige Ware. Ich musste Anzüge oder Kombinationen tragen, Jeans waren bei meinen Eltern verpönt. Ich durfte sie nicht mal auf Teenager-Parties anziehen. Mann, wie peinlich mir das war. Alle waren in Jeans da, und ich durfte keine anziehen!
Unser Hausarzt hatte zwei Kinder in meinem Alter, den Lutz und die Angelika. Und die hatten einen Partykeller. Ihre Eltern waren zweifelsohne bedeutend aufgeschlossener als meine.
Sie luden mich zu einer Party ein, und ich durfte natürlich wieder keine Jeans anziehen.
Meine Eltern hatten die Befürchtung, man würde sie "ausrichten", also schlecht über sie reden, wenn der Junior in Jeans zur Party der Kids vom Hausarzt geht. So ein Schmarrn, aber so spießig und traditionsbewusst waren sie eben.
Bis ich die Idee bekam, meine Jeans, bevor ich los zog, von meinem Zimmerfenster aus über den Balkon runter hinter die Garage zu werfen. Dort zog ich mich dann jeweils um. So war ich zukünftig vor Verruf gerettet!
Meine erste Shopping-Tour in "Freiheit", nachdem ich mich endgültig von zu Hause gelöst hatte, verlief dann auch bedeutend anders als frühere!
Zwar trug ich noch eine hellgraue Flanellhose, aber ich probierte einen roten Pulli dazu. Ein schönes, warmes Rot, aber dennoch - ROT! Als ich mich im Spiegel sah, konnte ich nur denken: ja, und warum nicht???
Dieser rote Pulli veränderte mein farbliches Denken bezüglich meiner Klamotten und auch gleich mein ganzes Leben mit dazu, grundlegend. Und von da an zog ich mich endlich so an, wie ich es wollte – bedeutend farbenfroher, modischer und allmählich auch "ausgeflippt", eben "Schwabing-like", und meine ganze persönliche Einstellung änderte sich damit auch.
Ich passte mich modisch immer mehr an Schwabing an. Es kam die Zeit der Plateau-Schuhe und der überweiten Hosenschläge. Die 70er fingen an! Logisch machte ich auch da mit.
Schwabing wurde zu einem Ghetto, aber im positiven Sinn. Man musste aus Schwabing gar nicht raus – es gab ja alles, was sollten wir also in der Innenstadt. Und hier lebte man unkonventionell, man konnte anziehen, was man wollte, ohne aufzufallen, man bewegte sich unter Gleichgesinnten.
Das Schwabinger Lebensgefühl vermittelte die Überzeugung, man könne auch ruhig pudelnackt auf der Leo spazieren gehen, und keiner würde sich nach einem umdrehen.
Ich wurde geradezu ein "Klamotten-Junkie"! Alle paar Tage war ich beim Shoppen und wurde dadurch ein sehr gern gesehener Kunde in den Schwabinger Boutiquen.
Das ging so weit, dass ich meine Klamotten zum Vorzugspreis bekam, da ich quasi zum Werbeträger für diverse Geschäfte wurde.
Einmal musste ich ins Zentrum, um Konzertkarten zu kaufen, beim Hieber am Dom, also mittendrin in der Stadt. Mir fiel auf, dass ich von den Passanten geradezu begafft wurde. Ich sah nach, ob mein Hosentürl offen wäre, aber nein, alles war in Ordnung. Bis ich langsam begriff, woran es lag. Ich hatte dreifarbige Plateau-Stiefeletten an, mit etwa 10cm hohen Absätzen (bei meiner Größe = 1.86m) und eine Latzhose aus Jeansstoff, die wirklich hauteng war und superweite Hosenschläge hatte. Da begriff ich, dass ich im "Ausland" war! Also ganz schnell wieder heim, nach Schwabing!
- VI. -
Nachdem ich also endgültig zu Hause ausgezogen war, musste ich mich zunächst ums Überleben kümmern. Ich hatte ja einen Führerschein und fuhr auch sehr gerne Auto, weshalb es sich an bot, erst mal "Call Car" zu fahren. Das war ein damals neuer Konkurrenz-Betrieb zu den Taxis. Der Unterschied dazu lag zum einen im billigeren Fahrpreis und darin, dass man keine Fahrgäste von der Strasse auf nehmen durfte, sondern nur telefonische Aufträge an nehmen durfte, die über Funk vermittelt wurden. Auch die Fahrprüfung dafür war leicht, und so startete ich durch.
Ich war sehr motorsportbegeistert, das habe ich wohl in den Genen (mein Vater fuhr privat Berg rennen), und fuhr dementsprechend mit Begeisterung Auto. Mein erster Wagen bei "Call Car" war ein BMW 1500, damals neu rausgekommen, und ich fuhr meine privaten Rallyes in der Stadt. So kam es auch, dass ich vor lauter Begeisterung gleich am ersten Tag bei einem Gangwechsel den Schaltknüppel abbrach. Super – ein toller Start. Sicher war es nicht meine Schuld, so ein Schaltknüppel sollte schon etwas mehr aushalten, aber es war halt äußerst peinlich, und ich als "Rennfahrer" habe mich endlos geschämt.
Der Unternehmer hat mich auch gleich wieder rausgeschmissen.
Der zweite Versuch war bedeutend erfolgreicher! Ich erwischte einen Unternehmer, mit dem ich mich prächtig verstand. Das war "R.R.R.", wie er seinen Namen selbst gerne abkürzte. Roland Rolf Rieger hieß er.
Er war wie ich dem Nachtleben sehr zugetan, und wir zogen oft zusammen um die Häuser. Und er war es auch, der mich im "Schwabinchen" bei Walter Nowak einführte und auch bei der "Schwabinger Gisela".
Roland hatte ein paar Stammkunden, die gelegentlich Auswärtsfahrten orderten. Vor allem eine alte Dame wollte mindestens jede Woche einmal um den Ammersee spazieren gefahren werden, und ich musste sie chauffieren. Wir hatten einen Mercedes