Blind Date in Paris. Stefanie Gerstenberger
»Und das findest du alles in Ordnung so.«
Es klang wie eine nette Feststellung, aber zum ersten Mal kamen mir Zweifel, ob er es wirklich so meinte … Sein Ton klang komisch. »Ich möchte eben gut sein in der Schule, ich muss gute Noten haben, sonst würden sie mich auch gar nicht zu den vielen Wettkämpfen lassen, denn dadurch bin ich dauernd nicht da. Das, was ich verpasst habe, die Fehlzeiten, muss ich dann alleine nachholen.«
»Und was genau machst du da? Bist du etwa eines von diesen biegsamen Mädchen, die einen Ball hochwerfen und mit gebogenem Rückgrat wieder einfangen?«
Ich lächelte. Aber das sah er ja nicht. »Ja. Bin ich.«
»Echt? So was machst du? Weißt du, als die Olympiade in London war, war ich bei meiner Frankfurter Oma und wir haben viel ferngesehen. Meine Eltern waren während dieser zwei Wochen in Paris, haben viel gestritten und die Scheidung beschlossen. Aber das wusste ich da noch nicht. Ich hatte noch einen Sehrest von 10 Prozent auf beiden Augen, klebte also vor dem Bildschirm und wir haben alles geglotzt, was es gab. Auch das mit den Mädchen, die mit Kegeln und bunten Reifen über die Matten tanzten, das mochte Oma so.«
»Es heißt Keulen.« Ich wusste, es war albern, aber ich musste ihn einfach korrigieren.
»Okay Keulen. Habe ich gerne angeschaut, die fliegenden Keulen.«
Ich schluckte. Da hatte er also noch sehen können, wie schrecklich musste es sein, langsam sein Augenlicht zu verlieren. Und obwohl er so easy darüber plauderte, wusste ich gar nicht, was ich sagen sollte, also klammerte ich das Thema besser aus.
»Das mit den Mädchen und den bunten Reifen nennt man übrigens Rhythmische Sportgymnastik. Wir sagen aber meistens nur ›RSG‹, ist kürzer. Ja, Olympia in London habe ich natürlich auch geschaut, die Karten für die RSG sollen übrigens als erste Sportart komplett ausverkauft gewesen sein, habe ich gehört. Es ist so eine wahnsinnige Atmosphäre, die bei der RSG in der Halle herrscht. Und genau das mache ich!«
»Aha! Und für die nächste Olympiade trainierst du also auch?«
»Nicht direkt. Ich muss erst mal in den deutschen Kader, Papa überlegt sich da gerade was.«
»Aha. Nicht du überlegst, sondern der französische Papa, der immer dabei ist und alles ›beobachtet‹.«
Plötzlich hörte es sich nicht mehr toll an, so wie er die Sätze betonte.
»Was dagegen?«
»Gar nicht! Habe ich was gesagt?«
Ich schwieg. Wahrscheinlich fand Ken das, was ich machte, doof, weil ich es nicht alleine machte, sondern Papa sich immer einmischte. Es stimmte ja auch, er konnte manchmal ganz schön anstrengend sein, ständig hatte er eine Idee, wie ich es noch besser machen konnte. Von außen sah das vielleicht ab und zu ein bisschen herrschsüchtig aus. Wenn er sich wild gestikulierend über die Kampfrichter aufregte oder mit unserer Trainerin stritt, weil die nichts gegen die ungerechten Bewertungen tat. (Was sollte sie machen, niemand legte sich mit den Kampfrichtern an.) Aber ich liebte meinen Sport, das würde jemand wie Ken nie verstehen!
Warum wollte ich ihm trotzdem unbedingt gefallen? Und dass ich das wollte, war klar. Es kribbelte in mir, so unruhig und nervös, und am liebsten hätte ich ihn dauernd angelächelt und vielleicht sogar meinen Dutt geöffnet, damit er meine tollen, seidig glänzenden Haare sah. Aber das war das Problem: Er sah mich ja gar nicht! Es war ihm komplett egal, wie ich aussah, er hatte sich noch nicht mal nach meiner Haarfarbe erkundigt. Ein dunkles Blond, hätte ich sagen können, mit helleren Strähnen drin, aber nichts blondiert, alles Natur. Wie bei meiner Mutter, ja gut, das hätte ich vielleicht nicht unbedingt sofort erzählt. Aber er fragte ja nicht. Ohne Rücksicht nehmen zu müssen, starrte ich ihn unverhohlen an. Er gähnte hinter vorgehaltener Hand und lehnte sich zufrieden zurück. »Ich lass mir jedenfalls von niemandem sagen, was ich machen soll. Schule fertig und keinen Plan. Ich schau mich erst mal um, sagt man das nicht so?« Er grinste.
»Nun ja, irgendwann musst du doch auch mal Geld verdienen.«
»Also ich find’s super!«
»Aber das geht doch nicht …!«
»Mann, bist du immer so vernünftig, Wandá? Wie alt bist du eigentlich? Du hörst dich an wie meine Oma, aber die ist auch schon fünfundsiebzig.«
»Ich bin erst sechzehn.« Da konnte er meinen Namen noch so schön aussprechen und so blind sein, wie er wollte. Er war gemein. Ein Arsch. Durfte man das über Blinde sagen? Vermutlich nicht. Vergiss ihn, Wanda, sagte ich mir, und grins nicht mehr so blöd. Ist sowieso vergebene Mühe bei ihm.
»Sorry. Aber ich muss jetzt mal was tun.« Ich kramte meine Hefte aus dem Rucksack, extralaut, damit er es auch hörte.
»Wo kommst du her? Wo wohnst du?, meine ich.«
Sollte ich ihm das verraten? Fremde Menschen geht es nichts an, wo du wohnst, was du machst, wie deine Telefonnummer lautet! Hatte Papa mir das nicht eingeschärft? Aber wie sollte dieser Ken, blind wie ein Maulwurf (hallo, das waren seine Worte gewesen, nicht meine …), mir schon gefährlich werden?
»Bremen? Wieso?«
»Sind da nicht auch gerade Ferien? Ferien sind zum Ausruhen da, nicht zum Lernen, weiß dein Vater das?«
Wenn er so weitermachte, würde meine klitzekleine Schwäche für ihn spätestens in Paris in Hass umgeschlagen sein, so viel stand fest. Ich hatte doch nur ein bisschen Französisch lernen wollen, sonst käme ich die nächsten drei Wochen nicht klar. Obwohl ich in Paris geboren war und sogar einen französischen Pass hatte, konnte ich diese verdammte Sprache überhaupt nicht. Das würde ich Monsieur Superstar aber keinesfalls verraten, der natürlich fließend sprach, weil er in Frankreich aufgewachsen war.
»Wenn du Fragen hast …«
… frage ich dich ganz bestimmt nicht, antwortete ich ihm unhörbar.
»Worüber?«, schnappte ich stattdessen.
»Im Französischen?«
Ich sah ihn sprachlos an. Woher wusste er das? Verdammt, er konnte doch etwas sehen, anders war das doch nicht zu erklären! Ich überflog meine Hefte und Bücher. So wie sie auf dem Tisch lagen, war nicht zu erkennen, was für einen Inhalt sie hatten.
»Habe ich mir so gedacht und zusammengereimt. Vater ist Franzose, hält aber im fremden Land nicht durch, mit seiner Tochter die eigene Sprache zu sprechen. Also schickt er sie nach Paris, damit sie mit der verschwendeten Zeit, in der sie nicht trainieren kann, wenigstens etwas Vernünftiges anfängt!«
Was zum …?! Ich wollte am liebsten losschreien. Das waren so ziemlich genau die Worte, die Papa benutzt hatte. Zeitverschwendung. Eins seiner Lieblingswörter. Nur noch getoppt von Zeitoptimierung!
Ohne Kenneth zu antworten, wühlte ich nach einem Stift. Ich verzog das Gesicht, als ich die Bescherung entdeckte: »Dein Hund hat übrigens auf dem Lederriemen von meinem Rucksack rumgekaut. Nicht gerade toll. Total nass und angesabbert …«
»Oh fuck, Barbie! Muss das immer sein?«
Ohne es zu wollen, musste ich lachen. Wenn er netter gewesen wäre, hätte ich ihn jetzt zu seinem Hund befragt, der wunderschön aussah, nur leider alles auffressen wollte, was er finden konnte. Ich nahm mein Heft, legte es vor mir zurecht und starrte hinein. Noch zwei Stunden bis Paris. Wie sollte ich das nur aushalten? Er war schon irgendwie toll, aber ich wusste nicht, wie ich mit tollen Jungs umgehen sollte, mit blinden Jungs schon gar nicht. Ich holte meine großen, beinahe schalldichten Kopfhörer heraus und schloss sie an mein neues Handy an. »Äh, ich höre jetzt Musik.«
»Okay.«
Ich spielte mit meinem Kugelschreiber, schrieb aber kein einziges Wort. Zu Ken schaute ich einfach nicht mehr hinüber.
Es ist wieder geschehen. Das Mädchen, das Wanda heißt, weiß davon natürlich nichts