Blind Date in Paris. Stefanie Gerstenberger
in den Turnschuhen waren Löcher, daran erinnerte ich mich später noch. Die eine stieß trotz des Bogens, den sie machte, mit mir zusammen. »Oh, sorry!« Wieder lachte sie und griff entschuldigend nach meinem Arm, während sie mit mir einen kleinen Halbkreis vollführte. »Alles gut?«
»Jaja, nichts passiert«, sagte ich, ein wenig überrumpelt von so viel Nähe.
Die viel zu blonden Haare verströmten einen schweren Geruch nach Patschuliparfüm. Blondie Nummer zwei, die ihr Zwilling hätte sein können, schloss sich hinter mir wieder mit Blondie Nummer eins zusammen und legte ihr einen Arm auf die Schulter. »Hast du gesehen, der Typ war blind, oh nee, wie beschissen kann man dran sein!« Sie streckte die Arme aus, als wolle sie sich über den Bahnsteig tasten. Sie lachten, ich biss die Zähne zusammen und schaute nicht zu Ken, sondern ihren Hinterköpfen nach, die auf und ab wippend schnell in der Menge verschwunden waren. Mann, waren die rücksichtslos, sich so über ihn lustig zu machen, ich hätte vor Wut heulen können! Vielleicht hatte Ken ja nichts gehört? Doch das konnte ich nicht nachprüfen, denn nun kamen uns zwei junge Männer in braun gefleckten Tarnanzügen entgegen. Auf dem Kopf trugen sie schmale rote Käppis, vor den Oberkörpern hingen Maschinengewehre, keiner der beiden lächelte. Hinter ihnen schritten gleich noch zwei von dieser Sorte langsam und hoch konzentriert den Bahnsteig entlang, die Finger am Abzug des Gewehrs.
»Warum laufen hier so viele Soldaten rum?«, fragte ich Ken, ganz froh über die Ablenkung. »Mann, du müsstest deren Waffen sehen. Echt bedrohlich!« Na toll, ich konnte es echt nicht lassen, vor ihm über das Sehen zu reden.
»Na ja, seit den vielen Anschlägen herrscht in Paris eigentlich immer eine hohe Sicherheitsstufe. Ich verfolge das in den Zeitungen und Nachrichten.«
»Dann sollte ich mich wohl auch sicher fühlen.« Ich lachte, doch ich hatte nur noch den einen Wunsch, endlich aus dieser lauten Bahnhofshalle zu entkommen.
»Wo musst du hin? In welches Arrondissement?«, fragte Ken.
»Keine Ahnung, ich weiß nicht einmal, wie die Straße heißt, in der meine Tante wohnt, ich muss erst nachschauen.« Ich angelte in den Tiefen meiner Tasche, doch da war nichts, nichts, alles leer und viel zu leicht, ich wusste es schon, als ich mit den Händen unten ankam und trotzdem wie wild herumtastete. Man hatte mich beklaut!
Handy weg, Geld weg, Perso weg, alles weg! Das, wovor mein Vater mich schon so oft gewarnt hatte, war nun eingetreten. Die größte Katastrophe überhaupt! Taschendiebe! Wie hatte das passieren können?! »Ich hab das nicht gemerkt, ich hab das echt nicht gemerkt«, war alles, was ich immer wieder sagen konnte. Und völlig sinnlos an meiner Hose herumklopfen, das konnte ich auch noch. »Wer soll das gewesen sein? Im Zug hatte ich noch alles, das weiß ich! Und beim Aussteigen sind dann alle auf einmal so dicht an mir dran gewesen.«
Doch je länger ich darüber nachdachte, desto klarer sah ich es vor mir. »Es müssen die zwei blonden Mädchen gewesen sein, die so affektiert ›Ooh, là, lààà! Auf Wiedersehen, auf Wiedersehen!‹ gerufen haben, bevor sie an uns vorbeigegangen sind.«
»An das ›Ooh, là, lààà!‹ erinnere ich mich. Die eine hat auch noch ›Oh, sorry‹ zu dir gesagt. Und ›Alles gut?‹«
»Ja genau, und ich Depp sag noch: ›Jaja, nichts passiert‹, dabei hat sie mir in dem Moment das Portemonnaie aus der Tasche gezogen. Und gleichzeitig das Handy. Meine ganzen Fotos! Kontakte! Chats!«
»Ich habe sie gerochen«, sagte Ken und starrte mit seinem fernen Blick verträumt vor sich hin. »Sie duftete irgendwie so nach …«
»Kenneth! Sie roch nach billigem Patschulizeug, hatte Löcher in den Turnschuhen und hat mich bestohlen!«
»Jaja, ich weiß. Ich hab das zwar nicht gesehen, aber jetzt ist mir alles klar. Sie ist mit dir zusammengestoßen, oder? Ganz unabsichtlich natürlich. Die alte Masche.«
»Wir müssen zur Polizei! Ich muss meinen Vater anrufen, ach Mist, ich habe ja kein Handy mehr!«
»Kannst meins haben!« Ken bückte sich und streichelte Barbie. »Geht gleich los, meine Kleine.«
»Aber ich kann seine Nummer ja gar nicht auswendig.« Ich schlug mir mit der Hand an die Stirn, nicht zu doll, die Nase nahm alle Berührungen noch ziemlich übel.
»Dann ruf deine Mutter an oder irgendjemanden, dessen Nummer du weißt.« Er hielt mir sein Handy hin. Oh nein, jetzt musste ich auch noch seine Hilfe annehmen, Hilfe von einem Blinden, toll.
»Die von meiner Mutter weiß ich auch nicht. Irgendwas mit 0178. Außerdem ist die jetzt sowieso nicht zu erreichen. Die sitzt in einem Flugzeug nach Los Angeles.«
»Ach echt? Was macht sie da?«
»Sie spielt. Cello. In einem Orchester!« Meine Stimme wurde immer lauter. »Sorry, Ken, aber das ist doch jetzt echt egal, ich weiß gerade wirklich nicht, was ich tun soll!« Ich ging auf und ab und schlug die Hände gegen die leeren Taschen meiner weiten Latzhose. Der Bahnsteig hatte sich geleert, nur Polizisten standen noch herum und auch die bewaffneten Soldaten kamen langsamen Schrittes wieder zurück. Wen sollte ich um Hilfe fragen? Musste ich jetzt nicht zur Polizei? Was hätte Papa in so einem Fall gemacht?
»Zu Hause! Du kannst zu Hause anrufen«, fiel Ken in diesem Moment ein. »Seine eigene Festnetznummer weiß man doch!«
Ja, das stimmte. Unsere Nummer in Bremen wusste ich natürlich. Aber wollte ich Papa überhaupt anrufen? Er würde mir nur Vorwürfe machen, warum ich nicht besser aufgepasst hätte.
»Nee. Das kann ich jetzt nicht.«
»Warum nicht? Kostet mich nichts. Und dann weißt du wenigstens die Adresse deiner Tante. Könnte das in einer Stadt wie Paris nicht irgendwie ganz nützlich sein?« Er grinste in meine Richtung. Von Weitem würde man sicher nicht denken, dass er blind ist, dachte ich, doch ich war zu nervös, um mich an seinem Humor zu erfreuen.
»Dann fragt er nur, warum ich die Adresse nicht auswendig kann und warum ich mich nicht besser vorbereitet habe … Ach Scheiße!« Ich schlug mit der Faust auf meinen Koffer und drehte eine frustrierte Runde um ihn herum. »Ich bin so blöd!«
Ich schaute zu Ken, doch was war mit dem denn jetzt los? Seine geschlossenen Augenlider zuckten mit einem Mal, er presste sie fest zusammen, wie jemand, der Schmerzen hatte, seine Stirn war vor lauter Anstrengung in Falten gelegt. Oh Gott, bekam er hier gerade einen Anfall oder was? Erst beklaute man mich und dann auch das noch … Ich schaute hektisch auf seinen Hund, los, tu doch was, sagte ich in Gedanken. Ken schien zu spüren, dass es beängstigend aussah, denn nun setzte er seine Sonnenbrille auf und seine Stirn entspannte sich wieder.
»Gibt es ein Problem, Mademoiselle, Monsieur?«, fragte ein Polizist auf Französisch und trat an uns heran. Über seiner blauen Uniform trug er eine schusssichere Weste.
»Oui«, antwortete Ken mit der normalsten Stimme der Welt. Ich atmete auf.
»Man hat meiner Freundin gerade das Portemonnaie und das Handy gestohlen. Zwei Mädchen, Taschendiebe, vermutlich mit uns aus dem Zug gestiegen, mitten auf dem Bahnsteig!«
Ich hätte diesen Umstand nie so schön auf Französisch ausdrücken können, doch ich war froh, dass ich alles verstanden hatte.
»Kannst du die Personen beschreiben?«, übersetzte Ken die Frage des Polizisten für mich. »Ich kann es nämlich nicht so gut«, sagte er mit einem Grinsen zu dem Beamten. »Bin blind.« Aha, blind hieß also auf Französisch aveugle, registrierte ich, brachte aber nicht mehr als ein schüchternes Nicken für den Polizisten zustande. Was würde mein Vater sagen?, ging mir wieder durch den Kopf. Woher sollte ich jetzt Geld bekommen? Wie Tante Aurélie benachrichtigen? Und wie sollte ich, falls ich wirklich zu feige war, ihn anzurufen, jemals alleine die Straße finden, in der Aurélie wohnte? Ich hatte nur noch wenige Erinnerungen daran, schließlich war ich erst acht gewesen, als ich das letzte Mal mit den Eltern bei ihr zu Besuch war. Es war ein Eckhaus, das von zwei Straßen eingerahmt wurde, vorne war ein kleiner Platz, im Hof gab es ein Fotoatelier, man musste durch eine Einfahrt gehen, um zu dem Eingang zu gelangen. Der Hof war mit buckeligen Steinen ausgelegt