Blind Date in Paris. Stefanie Gerstenberger
Ich tastete mal wieder an meiner verpflasterten Nase herum, das hatte sich in den letzten Tagen zu einer echten Manie entwickelt. Was blieb von mir, wenn er nicht meine schmale, durchtrainierte Figur wahrnahm, um die mich fast alle Mädchen in der Klasse beneideten? Wenn mein langes, etwas welliges Haar für ihn unsichtbar blieb, meine dunkelbraunen Augen ihn vergebens anblitzten, der Mund, mit dem ich recht zufrieden war, und überhaupt mein ganzes Gesicht, keine Rolle für ihn spielte? Wer war ich dann noch? Auch meine Erfolge in der RSG waren für ihn unbedeutend. Er würde mich nie sehen und bewundern können, auch wenn er das mit Olympia erzählt hatte … Ich zuckte mit den Schultern. Es blieb also nicht viel. Er würde sich nie in mich verlieben oder so, obwohl ich das ja gar nicht wollte. Wollte ich nicht? Quatsch, wirklich nicht. Ich war nur irgendein Mädchen, das im Moment auf ihn angewiesen war, so viel stand fest.
Ich sah auf die Uhr über der Theke, es war schon nach fünf, Papa machte sich bestimmt schon Sorgen, weil er nichts von mir hörte, ich musste ihn sofort anrufen. Ich lieh mir Kens Handy, ging ein paar Schritte Richtung Toiletten und wählte die Nummer. Papa war nicht zu Hause, nach einigem Klingeln sprang der Anrufbeantworter an. Manchmal hatte selbst ich Glück! Ich hinterließ eine Nachricht, dass mein Handy keinen Akku mehr hatte, dass bei Aurélie alles in Ordnung sei, dass wir schon in einem typischen Café säßen und ich nur noch Französisch quatschen würde.
»Geschafft«, sagte ich zu Ken und gab ihm sein Handy zurück.
Wir machten uns auf den Weg nach draußen. Wieder führte Barbie Ken durch Tische und Stühle, ohne ihn irgendwo dagegenrennen zu lassen. Gar nicht so einfach, in dem vollgestellten Café.
»Und nun? Wie kommen wir dahin?« Eigentlich müsstest du als Sehende ja jetzt die Führung übernehmen, Wanda, dachte ich, aber ich hatte schon in Bremen Schwierigkeiten, den Stadtplan zu lesen, wenn ich mich nicht auskannte. Ich benutzte selten Bus oder Bahn, und wenn ich irgendwohin musste, fuhr Papa mich meistens.
»Ganz einfach, mit der Métro eine Station mit der 2, dann mit der Linie 4 in Richtung Porte Dauphine und dann steigen wir am Place de Clichy aus«, sagte Ken. »Von da aus sind es nur noch ein paar Hundert Meter.«
»Woher weißt du das noch so genau?«
»Die Tour habe ich ganz oft machen müssen, mein Zahnarzt war hier in der Nähe. Irgendwann auch alleine nach der Schule, meine Eltern haben beide gearbeitet. Ich bekam schon ziemlich früh eine Zahnspange und dazu dann die immer dicker werdenden Brillengläser, weil ich ja immer weniger erkennen konnte. Ich sah super aus. Stell dir eine Eule mit schiefen Zähnen vor, dann hast du mich vor Augen. Oder besser, stell dir eine kleine, nasse Eule vor. Mit elf hatte ich den Tick, mir literweise Gel in die kurzen Haare zu schmieren.« Er grinste mich an, während er neben mir herlief.
»Kleine, nasse Eulen haben doch keine Zähne«, protestierte ich lachend. Auf einmal fühlte es sich ganz gut an, mit ihm zusammen über die Straßen zu laufen, obwohl er blind war.
»Ein bisschen Fantasie bitte, Madame!«
Wir hatten den Eingang des Gare du Nord erreicht. »Bevor wir uns jetzt wieder durch diesen vollen, lauten Bahnhof schlagen, um unten in die Métro zu gelangen, lass uns hier den Boulevard de Magenta noch ein Stück weiter hinuntergehen bis zur nächsten Station, da sind wir gleich auf der richtigen Linie.« Er zeigte in eine Richtung. Ich schaute mich irritiert um, bis ich einen Straßennamen entdeckte. Boulevard de Magenta stand an einem Schild an der Hauswand. »Wow. Wie kannst du denn wissen, wo wir sind?«
»Ach, ich habe immer noch einen ganz guten Orientierungssinn, weil ich erst spät blind geworden bin. Darüber bin ich echt froh! Geburtsblinde haben es da schon ein bisschen schwerer.«
Geburtsblinde … Ich schüttelte den Kopf, aber das sah Ken ja nicht. Wir liefen den Boulevard unter dem Schatten der Bäume entlang und mit uns unheimlich viele andere Menschen. Überall waren Geschäfte, neben uns knatterten Motorroller, Autos und große Lieferwagen über die breite Straße. »Ist Paris immer so voll?«
»Cool, oder? Ist was los.«
»Die Häuser sind hier so schön«, sagte ich andächtig, während ich nach oben schaute. »So hoch und weiß mit diesen Borten, Gittern und kleinen Balkonen, die fand ich als Kind schon so toll. Nur die vielen Leute stören ein bisschen.«
Wir kamen langsam voran, das heißt, es wäre schon schneller gegangen, wenn Barbie nicht immer wieder Hindernissen hätte ausweichen müssen. Ein Pulk von Menschen, der ihnen keinen Platz machte, Mülleimer, Briefkästen, Caféstühle, die weit auf den Bürgersteig ragten.
An der Métrostation blieb Ken direkt vor dem Automaten stehen. »Die Pariser Métro ist für französische Blinde umsonst, aber nicht für Touristen aus dem Ausland.«
Ich hatte schnell verstanden, wie der Automat funktionierte, und war froh, dass ich diesmal selber etwas tun konnte. Bezahlen musste Ken dennoch für mich.
»Wo müssen wir hin?«
»Nach unten, die Linie 4 fährt oben, aber wir müssen runter, Linie 2, Richtung Porte Dauphine.« Er passierte das Drehkreuz, Barbie quetschte sich neben ihm hindurch, blieb dann aber seitlich, direkt vor der Rolltreppe stehen.
»Was ist? Möchte sie nicht, dass du Rolltreppe fährst?« Ich hatte Mühe, mit meinem Koffer nicht im Drehkreuz stecken zu bleiben und gleichzeitig das Ticket wieder an mich zu nehmen, das neben mir durch einen Schlitz hochflutschte.
»Nein, das muss sie mir verbieten, siehst du, sie sperrt mich! Rolltreppen sind nicht so toll für einen Blinden, aber für sie ist es einfach zu gefährlich, wegen ihrer Pfoten.«
Barbie hatte sich quer vor Kens Knie gestellt, sie schaute ihn treuherzig an, ließ das Herrchen aber nicht durch.
»Feiner Hund«, lobte Ken. »Na komm, hinter uns warten schon die Leute, wo ist die Treppe, such, Barbie! Such Treppe abwärts, Treppe ab!«
Barbie führte ihn zu der schmalen Treppe, blieb aber wiederum oben an der ersten Stufe stehen. »Ich fahre mit meinem Koffer Rolltreppe«, rief ich, »ist das okay? Schafft ihr das alleine?«
»Absolut! Wir sind Reisende, wir machen das schon etwas länger zusammen.«
Ich biss mir auf die Lippen. Wie dumm von mir, jetzt behandelte ich ihn auch schon so von oben herab wie die Frau aus dem Zug.
Am Place de Clichy kamen wir wieder ans Tageslicht. »Mein altes Viertel!« Wieder kniff Ken seine Augen für einen Moment fest zusammen, dann aber suchte er mit seinem Gesicht die Sonne, die langsam hinter den Häusern verschwand, und tat, als ob er diesen Moment genießen würde. Was machte er hier? Meditieren oder was?! Ich schaute mich um und seufzte tief. Vor mir lag ein großer Verkehrskreisel, von dem mindestens fünf Straßen abgingen. Blumenläden, Cafés, altmodische Straßenlaternen, Starbucks, Restaurants mit tief herabgezogenen roten Markisen, ein mächtiges Kriegerdenkmal in der Mitte. Paris war riesig, ob wir Tante Aurélie hier jemals finden würden?
»Warum der Seufzer?« Ken war aus seiner Tiefenentspanntheit erwacht. »Ein gigantischer Platz, oder? Da vorne scheint es immer noch die boulangerie zu geben, riechst du das? Mhmm, frisches Baguette!«
Ich schnupperte, roch aber nur Abgase. »Es gibt Hunderte solcher Plätze in Paris, Tausende Bäckereien, eine Million Straßen …«
»Stimmt, ist aber nicht so tragisch, von den Millionen Straßen brauchen wir nur die kleine Rue Blot, da schlüpfen wir rein und gehen immer geradeaus, bis wir die Rue Legendre kreuzen, da muss dann irgendwo die Galerie Le Chat sein.«
Google Maps fand die schmale Straße und sagte uns auf Französisch, wie wir zu gehen hatten, Ken übersetzte Barbie die Anweisungen in »Voran! Barbie, such Weg!« und schon fünf Minuten später standen wir vor einem alten Haus mit zwei großen Bogenfenstern, die bis zum Boden reichten.
Ich war unsicher, sollte ich Ken jetzt beschreiben, was ich sah? Ich zögerte einen Moment, doch dann trat ich näher an die Fenster heran und tat es einfach: »Also, die Galerie ist ziemlich groß, dahinten scheint es noch weiterzugehen, sie ist aber auch ganz schön leer, von der Decke hängt ein Kronleuchter, der mit Fotos