Blind Date in Paris. Stefanie Gerstenberger
Wohnung darüber. Daran konnte ich mich noch erinnern. Etwas schwierig nur, mit diesen Erkennungsmerkmalen auf die Suche zu gehen. Wie viele Eckhäuser, wie viele Hinterhöfe mit Frangipanibäumchen und anderen Topfpflanzen, die die Wände bis zum ersten Stock hochrankten, mochte es in Paris geben?
»Komm! Wir gehen mit zur Polizei und geben eine Anzeige auf«, sagte Ken in diesem Moment. »Barbie, voran«, sagte er leise und ging neben dem Polizisten her, ganz normal, sogar richtig schnell, ich kam mit meinem Koffer kaum hinterher. »Warte«, rief ich, »musst du nicht irgendwohin, also, wirst du nicht erwartet? Holt niemand dich ab?«
»Nö«, sagte er, »ich habe Zeit. Ich bin frei. Die Leute, die ich vielleicht besuchen will, wissen noch gar nicht, dass ich in der Stadt bin. Das eilt also nicht. Dich bei der Tante abzuliefern, ist doch wichtiger. Nicht dass sich dein Vater Sorgen macht!«
Ich rollte mit den Augen. Was hatte er bloß mit meinem Vater? Genügte es nicht, dass ich herumtrickste, um Papa nicht sagen zu müssen, was passiert war? Musste Ken, eine zufällige Zugbekanntschaft, mich auch noch ständig darauf aufmerksam machen?
Auf der Wache machte ich, so gut es ging, Angaben zu meiner Person, man befragte mich zu den beiden Mädchen, über den Inhalt des Portemonnaies, 200 Euro in bar, und die besonderen Kennzeichen, die mein Handy aufwies. »Es steckt in einer weißen Hülle, hintendrauf ist der Scherenschnitt eines Mädchens abgebildet, das mit einem Reifen tanzt. Es steht mit einem Bein auf den Zehenspitzen und hat den anderen Fuß weit über den Kopf gestreckt und hält ihn mit beiden Händen fest.« Je genauer ich die Figur beschrieb, desto eher würde man mir das Handy wiederbringen können, hoffte ich.
Ken übersetzte. Der Polizist schaute mich verwundert an: »So etwas geht wirklich?«, fragte er auf Französisch. »Ich habe mich immer gefragt, was man mit dieser Fähigkeit anfangen kann.«
»Être belle?«, schlug Ken vor.
Was? Schön aussehen? Na danke! Wenn du wüsstest, wie viel Training dazu notwendig ist. Ich schaute ihn wütend an.
»Medaillen gewinnen!«, fiel ihm dann noch ein. »Bei der nächsten Olympiade!«
»Meinen Sie, Sie können die Mädchen finden?«, fragte ich den Beamten mit zitternder Stimme. »Ich brauche mein Geld und mein Handy! Dringend!«
Irgendwann standen wir wieder vor der Wache. Ich schaute zurück auf die milchige Glaswand, auf der in großen Lettern das Wort POLICE zu lesen war. »Hier ist alles videoüberwacht bis auf diesen blöden Bahnsteig!« Ich war immer noch verzweifelt. »Ob sie die kriegen? Eher nicht, oder?«
»Wenn die beiden das hauptberuflich betreiben und sich erwischen lassen, dann hast du vielleicht eine Chance.« Ken war die Ruhe selbst. Kein Wunder, ihm hatte man ja seinen Besitz nicht direkt vom Körper weggeklaut. Nein, das war nur mir passiert, mir, die sehen konnte. Wie peinlich war das denn?
»So. Hast du dich nun entschieden? Papa informieren? Ja oder nein?«
»Nein. Also, lieber wäre mir, ich würde es so schaffen.« Mir kamen die Tränen, plötzlich vermisste ich Mama so sehr wie noch nie. Mit ihr hätte ich darüber reden können, aber sie war ja immer noch in der Luft. Ich wischte mir die Nässe aus den Augen. Gott sei Dank sah Ken mich nicht.
»Jetzt sei mal nicht traurig, wir kriegen das hin!«
Mist, ich hatte nicht leise genug geschnieft.
»Wie heißt deine Tante denn mit Nachnamen? So wie du? Wie heißt du überhaupt mit Nachnamen?«
»Canet.«
»Und die Tante auch?«
»Nein, ich glaube nicht. Tante Aurélie war mal verheiratet, hatte sich aber damals auch schon einen Künstlernamen zugelegt. Papa hat sich tierisch darüber aufgeregt.«
»Und der lautete?«
»Keine Ahnung, irgendwas, was gut zu Aurélie und einer Fotografin passte, das ist sie nämlich.«
»Ich google das mal. Vielleicht finden wir ja was.« Er holte sein Handy hervor und ich sah ihm neugierig zu. Wie wollte er das denn machen? Er sah doch nichts! Mit dem Zeigefinger strich er schnell über den schwarzen Bildschirm, eine Stimme rappelte in Windeseile »Wetter, Kalender, Whats- App, Kamera, Wecker, Google« herunter. Er hörte zu, tippte dann zweimal auf den Bildschirm und sprach »Aurélie, Paris, Fotografin« hinein.
Und richtig, die Stimme schlug ihm in rasender Geschwindigkeit mehrere Optionen vor.
»Was? Ich habe nichts verstanden«, sagte ich und fühlte mich schon wieder saublöd.
»Aurélie Pipitou, Aurélie Facebook, Aurélie Babybauchfotos Eiffelturm«, wiederholte Ken.
»Wie kannst du das verstehen? Das hört sich an, als ob man Mickymaus viel zu schnell vorspult. Das ist doch unmöglich!«
»Gewöhnung!« Er grinste, na ja, eher war es ein Lächeln. Ich fand sein Lächeln immer noch superschön, und obwohl es mir nicht weiterhalf, wärmte es mein Herz doch ein wenig.
»Ich bin nicht der Typ für schnell-schnell, hast du vielleicht ja schon gemerkt, aber die Vorleserei in normaler Geschwindigkeit nimmt viel zu viel Zeit in Anspruch, also habe ich sie schneller eingestellt. Machen wir alle so.«
»Aha … Also Pipitou heißt sie nicht, daran würde ich mich erinnern.«
Ken seufzte und steckte das Handy in die Hosentasche. »Dann müssen wir es anders probieren. Wollen wir rausgehen, hier ist es so schattig. Und laut.«
Ich stimmte zu. Doch Ken blieb erst mal stehen. »Wo geht es lang? Wo ist der nächste Ausgang?«, fragte er.
»Ziemlich geradeaus.« Ich zeigte auf den hellen Bogen am Ende der Halle, wo ich Sonnenlicht sah. Wieder hatte ich vergessen, dass er mich ja nicht sehen konnte, doch Ken schien meine Angabe zu reichen, er gab seinem Hund einen Befehl, »Barbie, such Eingang!«, und gemeinsam machten wir uns auf den Weg. Barbie führte ihr Herrchen mit Umsicht zwischen den Menschenmassen hindurch, sehr oft stoppte sie, wenn Leute mit ihren Rollkoffern dicht vor ihr einscherten oder eilig ihren Weg kreuzten. Ich wunderte mich. Wie rücksichtslos die waren! Die hatten doch zwei Augen, die sahen doch, dass Ken nicht sehen konnte und auf seinen Hund angewiesen war.
Vor dem Bahnhof war es noch lauter. Der Lärm war unbeschreiblich, das Gelaber der Leute auf Französisch, Hundegebell, Autos, knatternde Motorroller und sich leise anschleichende Elektroscooter, deren Fahrer die Passanten mit hektischem Klingeln aus dem Weg trieben. »Ganz schön was los, oder?«, sagte Ken. Er streckte sein Gesicht in die Sonne und grinste glücklich. »Paris, je suis revenu!«
Ja prima, dass du zurück bist. Paris freut sich und macht ’ne extralaute Party für dich. Ich fühlte mich verlorener als je zuvor.
»Lass uns in ein Bistro gehen!«, rief Ken mir über den Lärm zu. »Da können wir in Ruhe überlegen. Sind wir am Südausgang?«
»Keine Ahnung.«
»Ich glaube, wir sind am Südausgang. Da vorne quer über die Straße müsste eigentlich das Chez Gustave sein.«
Ich suchte die Hausfassaden ab. »Wo soll das sein? Hier gibt es mehrere Straßen, die kreuzen sich alle!« Doch über den tausend Rollern und den vielen Autos entdeckte ich tatsächlich nach einiger Zeit das Schild des Bistros.
»Du kennst dich aber echt aus!«
»Na ja, geht so. Früher gab es ganz in der Nähe noch ein altes Kino, in dem habe ich am Sonntagmorgen oft Filme gesehen.«
»Oh, das tut mir leid …«
»Wieso?« Er sah genervt aus. »Ich gehe immer noch ins Kino, viele Blinde gehen gern ins Kino, wenn du wüsstest, was ich alles sehen kann … ach, vergiss es!«
»Sorry, hab nicht nachgedacht!« Verdammt, bei ihm musste man echt höllisch aufpassen. »Warst du alleine im Kino?«
»Nein. Mit … ach egal, mit meinem Vater. Zu der Zeit war der noch ein richtig guter Typ.«
Hört