Blind Date in Paris. Stefanie Gerstenberger
sah an der Fassade hoch. Es war Hochsommer, aber die Kletterpflanzen standen nicht in voller Blüte, sondern welkten kümmerlich vor sich hin. Offenbar waren sie schon seit geraumer Zeit nicht gegossen worden. »Hier geht es rein, da ist die Klingel. Vorsicht, die Treppe ist schmal.«
Die Tür sprang auf. Ich schleppte mit letzter Kraft meinen Koffer die Stufen empor. Hinter mir hörte ich Barbies Pfoten auf dem Holz und Kens Schritte. Wieder schloss ich einen Moment die Augen. Was musste es für ein Gefühl sein, den dunklen Treppenaufgang mit den vielen Fotos an den Wänden nicht zu sehen, das hier alles nicht zu sehen? Furchtbar. Beklemmend. Ausgeliefert. Ich öffnete die Augen, gerade rechtzeitig, um zu sehen, wie Aurélies Kopf oben an der Tür auftauchte.
»Oh, merde.« Die Tante sprach leise und wandte sich mitten im Satz um, dennoch verstand ich die beiden französischen Sätze, die jetzt folgten: »Jetzt ist sie hier. Sie ist tatsächlich gekommen.«
Das war früher mal schöner«, wisperte ich Ken zu, als wir oben in der geräumigen Wohnküche standen. »Jetzt sieht es aus, als hätte jemand zehn Säcke Müll über allem ausgeschüttet.« Aurélie war nicht mehr zu sehen.
»Ja, so riecht es auch. Nach altem Essen. Und nach schon seeehr lange eingeweichten Töpfen.«
Tatsächlich erspähte ich aus den Augenwinkeln ein übervolles Spülbecken. Schwamm da etwa was Grünes, Flauschiges in der obersten Pfanne?
Ken hob sein Kinn und schnupperte. »Alle Fenster sind zu, oder? Schade, mit ein bisschen Durchzug könnte man sich wie am Strand fühlen. Unter meinen Füßen knirscht es jedenfalls schön sandig.« Wieder folgte einer seiner belustigten Nasenschnauber.
»Ich weiß nicht, was passiert ist«, sagte ich, bevor er weitere Vergleiche anstellen konnte. »Warum ist sie aus der Küche gelaufen? Sie hat uns doch gesehen, das ist echt komisch.«
»Allerdings. Aber das ›merde‹ war eindeutig.«
Ich nickte. Tante Aurélie war ziemlich viel jünger als Papa. Zehn Jahre mindestens, also vielleicht fünfunddreißig? Sie war immer schon anders gewesen als er, aber so anders? Wusste Papa davon? Was hatte er mir nicht alles vor der Abfahrt gepredigt, wie fleißig und zielstrebig seine Schwester in den vergangenen Jahren geworden sei, wie gut organisiert und dass sich ihre Kunst nun auch endlich »rentieren« würde. Hieß das nicht, sie würde damit Geld verdienen?
»Spricht sie Deutsch?« Ken streichelte Barbie und nahm ihr das Geschirr ab.
»Nur drei Worte.« Sie wird dir dein grausiges Französisch schon austreiben können, hatte Papa gesagt, in drei Wochen sollte sich da Grundlegendes bessern!
Barbie schnüffelte neugierig in der Küche herum, besonders interessant schien der übervolle Abfalleimer zu sein. Wir hörten Aurélie hinten im Flur rumoren, irgendetwas Schweres fiel mit einem dumpfen Knall hinunter. »Alors, Kinder!«, rief sie, ihre Schritte kamen näher.
Ich stieß Ken sanft an. »›Kinder‹ ist eines der drei Worte.«
Auch Barbie schaute hoch, als Aurélie nun hereinkam. Sie trug einen bunten Kimono und an den Füßen trotz der drückenden Wärme, die in der Küche herrschte, grellgelbe Socken, in denen die Zehen einzeln steckten. Sie sah jung aus, wie ein zu großes, zu dünnes Kind, das sich als Erwachsene verkleidet hatte. Ihre langen, fast schwarzen Haare waren wohl einige Zeit nicht mehr gekämmt worden, sie drehten sich nämlich schon zu verfilzten kleinen Rastalocken zusammen. Das zu hoch aufgeschossene, zu dünne Kind blieb stehen, verschränkte seine Arme vor der schmalen Brust, als ob es sich festhalten wolle, und schaute uns erwartungsvoll an.
»Aurélie, ça c’est mon ami Ken …«, begann ich, gab aber schnell wieder auf. »Ach, erzähl du das bitte auf Französisch«, bat ich ihn. »Und auch, dass ich dir Geld schulde und sie es mir vorstrecken muss, damit du endlich gehen kannst. Also, damit du dich endlich auf den Weg machen kannst, meine ich, du hast mir schon so viel geholfen!«
»Désolée, désolée, entschuldigt misch, ich bin dursch-einander, ich bin nicht présentable!« Aurélie entfaltete ihre Arme wieder und rauschte mit ihrer langen, dünnen Gestalt auf mich zu, die Ärmel flatterten wie bei einer bunten Fledermaus. »Was ist passiert mit deine Nase, kleine Nischte?« Sie wollte die Antwort aber offenbar nicht hören, denn sie umarmte mich und gab mir zwei vorsichtige Küsse auf die Wange. »Das Leben macht misch ein wenig unglücklisch, désolée. Désolée.«
»Seit wann sprichst du Deutsch, Aurélie?«
Doch Aurélie hörte mich nicht, denn sie wandte sich Ken zu: »Und deine Freund mit kleine ’ünd ’ast du gleich mitgebracht. Und isch? Mach ich schlechten Empfang pour vous … « Sie küsste auch ihn, der sie nur knapp überragte, umarmte ihn, stützte sich mit der Stirn an seinen Oberkörper mit dem wild gemusterten Hemd und ließ ihn gar nicht wieder los.
Ken blieb stehen und klopfte ihr sanft auf den Rücken. »Ich kenn das«, murmelte er. »Das Leben kann echt merde sein!«
Aurélie lachte an seiner Brust auf. »Oh, das gefällt mir! Das Leben kann echt merde sein.« Sie hob den Kopf. »Ach, Kinder, aber jetzt wir machen es uns erst mal gemütlisch! Ist noch Wein da? Wollt ihr nicht Wein kaufen gehen? Le petit chien kann bei mir bleiben. Ich gehe ja nicht mehr raus.«
»Das ist toll, du sprichst ja richtig gut, Aurélie!« Ich zog erstaunt die Augenbrauen hoch. »Weiß Papa das? Vor ein paar Jahren konntest du noch gar nichts.«
»Oh, oh, lange, traurige Geschichte. Ein Mann natürlisch! Triste, sehr triste!« Sie räumte ein paar leere Weinflaschen vom Tisch und wischte Brotkrümel und sonstigen Dreck mit der flachen Hand auf den Boden.
»Setzt euch, setz du disch auch, mein kleine Nischte!«
Kleine Nischte. Das hörte sich lustig an, ich sah zu, wie Ken Barbie von ihrem Geschirr befreite und wie Aurélie Klamottenberge von den Stühlen zusammenklaubte und auf andere Stühle warf: »Ich erzähle euch, ich erzähle euch die Geschichte von die Verrat und die Luge!«
»Oh, das hört sich gut an«, sagte Ken. »Ich sammele nämlich solche Geschichten und schreibe sie manchmal auf.«
Ich schaute mich in der Küche um und näherte mich dem großen alten Kühlschrank, der in einer Ecke vor sich hin brummte. Wenn Aurélie es nicht machte, sollte nicht wenigstens ich Gastgeberin spielen und Ken etwas anbieten? Barbie hatte bestimmt auch Durst. Barbie?! Die Hündin hatte irgendetwas entdeckt, auf dem sie mit Hingabe herumkaute.
»Äh, Ken? Barbie hat da was, ich weiß nicht, ob das gut für sie ist.«
Tante Aurélie schaute erst zu dem Hund, dann auf Ken. »Oh non, non, non, ich ’abe nicht gesehen, dass du bist aveugle, mein Guter, wie ’eißt auf Deutsch?«
Da war es wieder, das aveugle. Ich sprach das Wort in Gedanken nach. Awögle. Awögle. Ich würde nach drei Wochen bestimmt viel besser sprechen können und Papa stolz machen.
»Blind.« Ken grinste.
Da steht er einfach so in der dämmrigen Küche, dachte ich. So selbstbewusst und sicher, niemand würde denken, dass er in diesem Moment überhaupt nichts von dem sehen kann, was um ihn herum ist.
»Moment, ich nehme es ihr weg, was ist es denn? Barbie, komm her!« Ken bewegte sich mit kleinen Schritten auf Barbie zu, die sich mit ihrer Beute sofort unter den Tisch verzog.
»Ich glaube, eine Socke. Oder vielleicht eine Schuhsohle?« Ich bückte mich, um unter den Tisch schauen zu können.
»Oh je sais, ich weiß, ist altes Steak, ’abe ich gebrannt und weggeworfen in die poubelle.«
Wahrscheinlich eher neben den Mülleimer, dachte ich, während ich versuchte, so viel wie möglich von Aurélies deutsch-französischem Wortschwall zu verstehen und Ken bei seiner Jagd auf Barbie zu helfen.
»Sie