Auswahlband Schicksalsroman 8 Romane in einem Buch September 2018. Cedric Balmore

Auswahlband Schicksalsroman 8 Romane in einem Buch September 2018 - Cedric Balmore


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      Es war ein herrlicher Abend. Zwar stand die Sonne schon sehr tief, aber die Dächer und die Bäume, die sie von ihrem Fenster aus sah, schienen vergoldet. Eigentlich zu schade, um in den vier Wänden zu bleiben. Aber sie war müde, aß ein paar Happen, trank einen Schluck und legte sich dann auf ihre Couch, die Beine hoch. Sie war genug in der Klinik herumgerannt. Jetzt machten sich ihre Füße bemerkbar.

      Im Liegen studierte sie die wenige Post, die sie bekommen hatte und entdeckte dann noch einen Brief von Dieter.

      Als sie ihn gelesen hatte, zerknüllte sie ihn und schleuderte ihn wütend in die Ecke, streckte sich aus und verschränkte die Arme unter dem Kopf. Sie starrte zur Decke, bis zu der die Sonnenstrahlen reichten, die durchs Fenster fielen.

      Irgendwie geht es mir genau wie ihm, und sie meinte damit Wieland Graf. Wir sind wirklich in derselben vertrackten Situation. Aber ich sollte mir keine Schwachheiten erlauben. Er ist bestimmt nicht der Mann, mit dem ich mich einlassen darf. Es gibt überhaupt keinen Mann, mit dem ich mich einlasse. Grundsätzlich nicht.

      Sie hatte diesen Gedanken noch gar nicht ausgedacht, da läutete das Telefon. Seit einer Woche hatte sie Telefon, und es war ihr noch so ungewohnt, dass sie zusammenschreckte, weil es so einen merkwürdigen Läuteton hatte. Sie sprang von der Couch auf, ging zum Apparat, hob ab und meldete sich.

      Es war Schwester Silke.

      „Erschrick nicht! Es ist nichts Besonderes. Ich rufe von zu Hause an. Mein Mann hat mir Freikarten mitgebracht für die Oper. Hättest du Lust?“

      „Was ist es denn?“

      „Der Fliegende Holländer. Ich hab die schon zweimal gesehen.“

      „Oh, ich würde gerne gehen. Wenn es nichts ausmacht?“, meinte Doris.

      „Aber nicht doch! Ich ruf doch deshalb an. Wenn du jemand mitnehmen kannst? Ich könnte dir zwei Karten überlassen.“

      „Ich wüsste nicht, wen ich mitnehmen sollte. Wenn du nicht mitgehst ...“

      „Nein, nein, Ich sagte dir doch, ich hab das schon zweimal gesehen. Dann geb ich jemand anderem die Karte, wenn du nur eine willst.“

      „Soll ich sie mir abholen?“

      „Unsinn. Ich bring sie morgen mit in den Dienst. Ach so, jetzt willst du wissen, wann es ist. Am Montag. Kommenden Montag. Passt dir das? Du hast doch keine Bereitschaft, oder?“

      „Nein. Es würde mir schon passen. Und wann?“

      „Zwanzig Uhr“, erwiderte Silke. „Und du hast wirklich niemanden, mit dem du gehen kannst?“

      „Nein. Ich wüsste nicht, wen.“

      „Na ja, macht nichts. Es gibt genug Interessenten. Ich wollte dir nur den Vorzug lassen, Doris. Und sonst? Gibt es irgendetwas Neues?“

      „Nein. Nicht, dass ich wüsste. Aber vielen Dank, Silke. Ich finde das klasse von dir, dass du an mich gedacht hast.“

      „Habe ich dir doch versprochen. Also, bis morgen.“

      Sie verabschiedeten sich, und Doris legte auf.

      Sie blickte auf ihren Kalender. Montag also. Prima, sie freute sich darauf. Und sie überlegte jetzt schon, was sie anziehen sollte. Mein Gott, wie lange bin ich schon nicht in der Oper gewesen. Dieter hatte ja nie Zeit für so etwas. Und wenn, dann wurde immer eine große Schau daraus. Wie alles, was er tat. Signale an die Umwelt. Dass sie nur alle sehen sollten, was für ein tüchtiger, erfolgreicher Mann er war. Vielleicht hat er mich überhaupt nur geheiratet, weil ich gut aussehe. Er schmückt sich ja überhaupt nur mit Dingen, die wirkungsvoll sind. Ob es nun ein Auto ist, eine schöne Frau, ein modischer Anzug. Äußerlichkeiten bedeuten ihm so viel. Und mir im Grunde gar nichts. Auch da ist Dr. Graf anders.

      Verrückt, dachte sie in diesem Augenblick, dass ich Graf mit Dieter vergleiche. Und wenn ich mich noch so mit Dr. Graf zanke, er ist mir selbst in seinen wütendsten Augenblicken lieber als Dieter.

      „Ach, die Männer!“, murmelte sie. „Schluss damit. Am Montag in die Oper!“

      Wem mag Silke die andere Karte geben?, dachte sie. Womöglich sitze ich dann neben so jemand wie Schwester Heidi oder etwa Schwester Christa. Aber nein, die gehen bestimmt in keine Oper. Ihre Gedanken irrten zu Professor Winter. Bei dem musste sie jetzt eine Woche lang Dienst machen. Ich bin gespannt, dachte sie, wie es bei ihm ist. Auf alle Fälle steht nicht alles so auf Messers Schneide wie bei Dr. Graf ...

      5

      Am nächsten Tag aß sie zu Mittag zusammen mit Dr. Gerti Lamprecht an einem Tisch. Die sympathische Anästhesistin erzählte ihr von ihrem zwölfjährigen Sohn, der im Augenblick gerade bei seiner Großmutter war.

      „Ich bin ganz froh, wenn ich Matthias mal los bin. Er hat jetzt oft seinen eigenen Kopf“, berichtete sie. „Übrigens habe ich Sie schon ein paarmal mit dem Rad fahren sehen. Ich bin auch eine begeisterte Radfahrerin. Hätten Sie nicht Lust, mit mir am Wochenende eine Tour zu machen?“

      Eine gute Idee, dachte Doris. Und da sie die Anästhesistin mochte, sagte sie spontan:

      „Gerne. Wo soll’s denn hingehen?“

      „Ach, einfach so. Ich habe keinen bestimmten Plan. Die Umgebung von München ist mir ja mittlerweile richtig vertraut. Fahren wir einfach los. Es ist ja schönes Wetter und ich hoffe auch zum Wochenende. Haben Sie am Samstag Dienst?“

      „Nein, dieses Wochenende habe ich frei.“

      „Ich auch. Und für Notfälle holt man ja jemand vom Klinikum 'Rechts der Isar'. Also könnten wir schon am Samstag losfahren. Vielleicht irgendwo übernachten. In einer Jugendherberge. Ich habe einen Ausweis. Sie auch?“ Doris schüttelte den Kopf. „Ich besitze das Fahrrad noch gar nicht so lange. Ich habe es mir hier erst gekauft.“

      „Es hat ja nichts mit dem Fahrrad zu tun. Aber gut, wir können auch woanders übernachten. Wo Sie mögen. Ich glaube, es wird ganz schön. Wenn nur das Wetter hält.“

      Das Wetter hielt. Wenn auch die Luft am Samstag schon etwas drückend war, verflüchtigten sich die Wolken, die aufgezogen waren, und es wurde nachher noch richtig heiß. Sie kamen ordentlich ins Schwitzen beim Radfahren.

      Gerti Lamprecht kannte eine Menge Möglichkeiten, um nicht immer Autostraßen fahren zu müssen, und es wurde eine ganz ordentliche Tour. Sie übernachteten in einem kleinen Landgasthof und fuhren dann am Sonntagvormittag wieder nach München zurück.

      Während der ganzen Hinfahrt, wo es so heiß gewesen war, hatte sich kein richtiges Gespräch während des Fahrens ergeben. Und dann am Abend in dem kleinen Gasthof waren sie beide sehr müde gewesen. Doris eigentlich noch mehr als Gerti Lamprecht. Denn Doris war solche langen Radtouren nicht mehr gewöhnt. So fielen Doris am Abend beinahe die Augen zu. Und das Gespräch, das sie führten, hatte sich nur um Belangloses aus der Klinik gedreht. Die meiste Zeit erzählte Gerti Lamprecht von Professor Winter, aber auch von dem Chirurgen Dr. Münzinger. Den kannte sie wohl persönlich sehr gut. Sie deutete an, mit ihm mal eine Zeit lang ein regelrechtes Verhältnis gehabt zu haben, das aber nachher zerbrochen war. Geblieben sei, so berichtete Gerti Lamprecht, eine ehrliche Freundschaft.

      Doris hatte Zweifel, ob es so etwas zwischen einem Mann und einer Frau überhaupt geben konnte. Aber sie war zu müde, um darüber zu diskutieren. Und am nächsten Morgen beim Frühstück unterhielten sie sich eigentlich nur über den Rückweg. Doris hatte dazu nicht viel zu sagen, zumal Gerti Lamprecht die Strecken alle viel besser kannte.

      Während des Heimwegs frischte der Wind auf. Es war nicht mehr so heiß wie am Samstag, und als sie gegen Mittag in Weyarn aßen, war dort so ein Betrieb, dass sie beide auch nur über Alltägliches redeten.

      Kurz vor München machten sie noch einmal Rast. Sie waren durch einen langen Waldweg gefahren, und hier im Schatten der mächtigen alten Bäume war es kühl und angenehm. Sie setzten sich auf einen Baumstumpf, und als sie sich etwas erholt hatten, begann Gerti Lamprecht plötzlich aus ihrer Vergangenheit zu erzählen. Von dem Mann,


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