Auswahlband Schicksalsroman 8 Romane in einem Buch September 2018. Cedric Balmore
Er ging gar nicht auf ihre Bemerkung ein und fragte: „Wo ist das Kino?“
Sie deutete nach vorn. Wie selbstverständlich ging er neben ihr her. Dann ließ er sie einen Augenblick allein, ging zur Kasse und kam tatsächlich mit einer Karte wieder.
Na ja, dachte sie, volle Kinos sind heutzutage sowieso selten. Und so ein toller Film scheint es auch wieder nicht zu sein.
Schweigend gingen sie ins Kino, schweigend nahmen sie ihren Platz ein, schweigend saßen sie lange nebeneinander. Hinter ihnen war eine ganze Reihe frei; vor ihnen eine halbe. Das Kino war schwach besetzt.
„Wissen Sie“, raunte er ihr zu, „dass ich froh bin, Sie getroffen zu haben?“
„Was Sie nicht sagen“, erwiderte sie abweisend.
Es schien ihn nicht zu stören. „Wissen Sie“, fragte er sie, „wie es ist, wenn Ihnen jemand auf den Fersen ist, den sie am liebsten abschütteln möchten?“
„Ich habe diese Erfahrung noch nicht gemacht. Haben Sie irgendwo eingebrochen?“
„In einem anderen Sinne des Wortes ja. Sagen Sie mal“, meinte er plötzlich, „Sie sind doch auch vor Kurzem erst geschieden worden, nicht wahr?“
Jetzt rührt er schon an meinem Privatleben herum, dachte sie. Aber sie schwieg und nickte nur.
Der Film fing immer noch nicht an. Wenn doch bloß der Film endlich anfinge, dachte sie, damit er aufhört, in meinem Leben herumzustochern. Das hätte er mich doch in Winters Beisein fragen können.
„Ich wurde auch vor Kurzem geschieden. Sie hatte einen anderen. Jetzt hat er ihr den Laufpass gegeben, und sie will wieder zu mir. Meine Ehe war ein Martyrium. Und heute war sie da. Ich bin extra seinerzeit nach München gegangen, um sie loszuwerden.“
Überrascht und interessiert zugleich horchte Doris auf. Das hörte sich ja an, als spräche er über ihr eigenes Leben.
Sie sah ihn verwundert an. „Und jetzt?“, fragte sie.
„Sie wollte unbedingt mit mir reden. Angeblich wichtige Dinge. Ich war mit ihr zusammen essen. Ich habe mich breitschlagen lassen. Eine Katastrophe. Anfangs war sie sehr freundlich. Dann kamen die Vorwürfe. Ich bin einfach weggegangen. Bin irgendwo in der Nähe in eine Kneipe marschiert und habe erst etwas getrunken. Mir war danach. Ich trinke sonst nie. Allzu viel vertrage ich auch nicht. Langer Rede, kurzer Sinn, sie hat mich da aufgespürt. Ich weiß nicht, wie viel Hunderte von Kneipen es in München gibt, aber sie hat mich gefunden. Ich bin wieder weg. Ich musste sie loswerden. Ich konnte sie nicht mehr ertragen, nicht mehr hören. Und jetzt bin ich hier.“
„Und sie weiß nicht, wo Sie wohnen?“
„Natürlich weiß sie das. Ich vermute, dass sie bei mir zu Hause vor der Tür auf der Treppe sitzt und wartet.“
„Klagelied eines gequälten Mannes?“, erkundigte sie sich spöttisch.
„Nein. Ich werde mir irgendwo ein Zimmer nehmen und da schlafen.“
„Soll ich jetzt in Tränen zerfließen vor Rührung?“
„Nein. Ich habe es Ihnen nur erzählt, weil mir zufällig einfiel, dass Sie auch eine Scheidung hinter sich haben. Und das wird wohl nicht geschehen sein, weil Sie sich aus lauter Zuneigung zu Ihrem Mann aufgerieben haben.“
„Vermutlich nicht“, erwiderte sie ablehnend. Sie wollte das Gespräch um keinen Preis fortsetzen, selbst wenn sein Schicksal dem ihren sehr ähnlich sein sollte. Das, was er da tat, war ein Einbruch in ihr Privatleben. Das wollte sie nicht dulden.
Er spürte wohl, was in ihr vorging. „Sie haben recht, es war Blödsinn von mir.“
„Wieso? Habe ich etwas gesagt?“
„Nein, aber gedacht. Und ich habe das gefühlt“, entgegnete er zerknirscht. „Es tut mir wirklich leid. Ich hätte diesen Quatsch gar nicht loslassen sollen. Jeder hat sein Päckchen zu tragen, und manchmal ist es auch mal ein Paket. Ich habe das Gefühl, dass es ein Paket ist, was mich angeht. Möglicherweise schleppen Sie noch viel mehr mit sich herum. Wir wollen nie wieder darüber sprechen. Soll ich jetzt gehen?“
„Nein. Sie haben doch bezahlt. Auf den Film haben Sie immerhin Anspruch.“
„Ich hätte nichts trinken sollen. Alkohol, den man nicht verträgt, löst die Zunge zu schnell. Man redet viel Blödsinn. Mir geht es so. Ich spüre selbst, dass da etwas falsch ist. Aber ich kann nicht allzu viel dagegen tun. Ich komme mir wie ein kleiner Junge vor, der in der Schule eine Arbeit verpatzt hat. Und jetzt möchte ich es loswerden. Natürlich nicht bei Mutter und Vater. Bei irgendwem anderen.“
„Und Sie hoffen auf Trost. Ich bin bloß eine schlechte Trösterin.“
Er schaute sie überrascht an. „Für eine Krankenschwester kein gutes Renommee. Krankenschwestern sollten gute Trösterinnen sein.“
„Zu flapsigen Bemerkungen bin ich nicht aufgelegt“, erklärte sie schroff. Und sie begrüßte es innerlich, dass jetzt das Licht dunkler wurde und sich vorn der Vorhang hob. Der Film fing an.
Neben ihr erhob sich Dr. Graf und rückte ein paar Stühle weiter nach links. Sie tat nichts dergleichen und machte nicht den geringsten Versuch, ihn zurückzuhalten.
Aber sie dachte: Das kann ja heiter werden. Wenn es so schon anfängt. Ein schlechter Start für ein neues Leben. Und schließlich gehört auch der Beruf dazu. Vielleicht ist er jetzt stocksauer auf mich und wird es mich spüren lassen. Warum bin ich nicht netter zu ihm gewesen? Das kostet doch nichts.
Nach dem Vorfilm kam eine kurze Pause. Sie blickte zu ihm, der ein paar Plätze entfernt saß, hinüber, und er erwiderte ihren Blick. Dann lächelte er und kam zu ihr zurück, setzte sich wieder neben sie, fuhr sich mit der Hand übers Gesicht und murmelte: „Ich bin wirklich ein totaler Narr. In mir ist das nackte Chaos. Na ja, Schwamm drüber. Vergessen Sie, was ich Ihnen da geboten habe. Sehen wir uns am Ersten?“
„Ja“, sagte sie eine Spur freundlicher. „Und ich hoffe nicht, dass Sie mir nachtragen, wie unfreundlich ich Sie behandelt habe.“
„Ach Quatsch. Bei so viel Blödsinn, wie ich zusammengeredet habe, konnte ich keine andere Behandlung verdienen. Im Gegenteil. Sie sind noch sehr gnädig gewesen. Haben Sie übrigens eine Ahnung, was für einen Film wir gleich sehen werden?“
„Lassen wir uns doch überraschen.“
Der Film war das Letzte. Noch während er lief, machte Dr. Graf den Vorschlag, doch das Kino zu verlassen und stattdessen irgendwo in einem Lokal Versöhnung zu feiern und dann nach Hause zu fahren.
Mit seinem Vorschlag das Kino zu verlassen, war sie einverstanden. Aber sie wollte in kein Lokal mehr. Sie gingen noch ein Stück nebeneinander her, betrachteten Schaufenster, sprachen Belangloses. Dann trennten sie sich.
Als sie später in ihrer Wohnung über das nachdachte, was sie da eben erlebt hatte, kam es ihr verrückt vor. Aber nicht lustig. Was ist das nur für ein Mann, dachte sie? Seine Bemerkung, in ihm sei das nackte Chaos, traf offenbar zu. Sollte sie nun Mitleid mit ihm haben? Regte sich in ihr der Beschützerinstinkt?
Sie versuchte, das alles abzuschütteln. Nur keine spezielle Sympathie für einen Mann. So fängt wieder etwas an, was nicht anfangen darf. Was ich nicht will, dass es erneut anfängt. Ich möchte es nicht. Kein Gedanke mehr an ihn! Soll er mit sich selbst fertigwerden. Ich muss das auch. Und bin in einer sehr ähnlichen Lage wie er. Warum klammert er sich an eine Frau?
Sie fürchtete, am nächsten Tag wieder von ihm zu hören. Und wenn es nur irgendeine läppische Entschuldigung war. Aber nichts dergleichen geschah. Sie hörte nichts an diesem Tag, auch nichts am nächsten. Und dann war die Woche vorbei. Morgen in aller Frühe musste sie aufstehen, begann wieder der Dienst. Sie war gespannt darauf, was für ein Dienst das sein würde. Und sie war gespannt auf Dr. Wieland Graf.
3
Als sie dann am nächsten Morgen